Quelle:
http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/Deutsche-Streicheleinheiten-fuer-die-Schweiz/story/26447494Deutsche Streicheleinheiten für die Schweiz
Die Ausweitung der Ventilklausel auf alle EU-Staaten stösst im Ausland auf grosse Kritik. Die «Süddeutsche» überrascht mit einem äusserst wohlwollenden Kommentar über die Schweiz.
Zuwanderung bremsen: Der Bundesrat hat beschlossen, die Ventilklausel für alle EU-Staaten zu aktivieren. (24. März 2013)
Wolfgang Koydl
Wolfgang Koydl berichtet seit 2011 für die «Süddeutsche Zeitung» über die Schweiz. Zuvor war Koydl als Korrespondent der SZ in Istanbul, Washington und London tätig. Soeben ist sein Buch «33 Dinge, die man in der Schweiz unbedingt gemacht haben sollte – ein teutonischer Selbstversuch» (Orell-Füssli-Verlag) erschienen.
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«Mal angenommen, jedes Jahr würden 800'000 Wirtschaftsflüchtlinge aus allen Teilen der Europäischen Union in Deutschland Lohn und Brot suchen – zusätzlich zu den rund vier Millionen Polen, die in den vergangenen Jahren immer mehr Berufe erobert haben, von der Aldi-Kassiererin bis zum Akademiker? Wie gelassen würde die Politik reagieren? Wie verhalten wären die Schlagzeilen der ‹Bild›?» Es sind die ersten Sätze eines Kommentars in der heutigen Ausgabe der «Süddeutschen Zeitung». Geschrieben hat sie der Schweiz-Korrespondent Wolfgang Koydl. Es ist ein Versuch, den vielen Kritikern, die mit Empörung auf die am Mittwoch vom Bundesrat entschiedene Anrufung der Ventilklausel reagiert haben, Gegensteuer zu geben.
Europa verantwortlich für Steuerflucht in die Schweiz
Dabei nimmt Koydl kein Blatt vor den Mund und weist darauf hin, dass Europa in der Schweiz «einen famosen Prügelknaben» gefunden hat, «dem man eigene Fehler und Versäumnisse ankreiden kann». Womit der Autor auf das Reizthema «Steuerflucht» zu sprechen kommt – aktuell gerade der Fall Hoeness –, das Peer Steinbrück inzwischen zum Wahlkampfthema der SPD gemacht hat. Schweizer Bankberater hätten zwar für deutsche Kunden Steuersparmodelle ausgearbeitet, aber nicht deren Geld gestohlen und nach Zürich geschafft, schreibt Koydl. «All die Zahnärzte, Anwälte und Mittelständler sind freiwillig gekommen.» Und dies nicht immer mit dem Willen, Steuern zu hinterziehen, sondern häufig, «weil sie dem Franken und einer Schweizer Bank mehr vertrauen als dem Euro und der Deutschen Bank». Ausserdem gäbe es in der Schweiz gut bezahlte Stellen und gute Arbeitsbedingungen. Tatsachen, die die Schweiz für die Deutschen als Auswanderungsland beliebt machen.
Der Schweiz gehe es im Vergleich zu den EU-Ländern noch immer ziemlich gut. Und genau dies erzeuge Neid. «Nicht nur, weil es sich die Eidgenossen zuweilen nicht verkneifen können, dem Ausland diese Tatsache unter die Nase zu reiben; sondern auch, weil die Nachbarn zugeben müssen, dass es der Alpenrepublik vielleicht deshalb besser geht, weil sie manches besser macht.» Und noch einmal kommt Koydl auf die Steuern zu sprechen, wobei er diesmal den Bogen zur «Steuerehrlichkeit in der Eidgenossenschaft» schlägt, die «im Schnitt höher als anderswo ist». So seien im Datenwust von Offshore-Leaks gerade mal 300 Namen von Schweizern gefunden worden, die ihr Geld ins Ausland verschoben hatten. Offensichtlich kein Zufall.
Schweiz als Vorbild
Den Grund für die Schweizer Steuerehrlichkeit sieht Koydl in der direkten Demokratie: «Die Bürger entscheiden, wie viel Steuern sie bezahlen, und wofür diese ausgegeben werden.» Teure Flughäfen, Bahnhöfe oder Konzerthallen würden eher nicht dazu gehören, genauso wenig wie üppige Beamtenpensionen oder steuerfreie Abgeordnetenbezüge – wie dies etwa in Deutschland der Fall ist. Koydl würde ein ähnliches Modell für Deutschland begrüssen, denn «wer mitentscheiden darf, übernimmt Verantwortung, wer entmündigt wird, handelt verantwortungslos». Der Entscheid der Schweizer Regierung sei insofern bedauerlich, weil nun ein «paar Tausend Europäer weniger den eidgenössischen Anschauungsunterricht aus erster Hand» erhalten würden.
Erstellt: 26.04.2013, 10:46 Uhr