Vom Recht der Jugend auf Disziplin
26.04.2005 um 03:06Für alle Lesefaulen hier :
Vorsicht, ellenlanger Text!
Spart euch die Beschwerden.
Für die Interessierten:
Wäre nett, wenn ihr euch die Mühe macht, den Text zu lesen.
>Die Schule ist kein Spaßbad
Vom Recht der Jugend auf Disziplin
von Bernhard Bueb, Leiter der Schule Schloss Salem
(Veröffentlicht in der FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG,
am 24. Februar 2005)
Im Jahr 1882 wurde in Amerika ein zweijähriges Mädchen taubblind, das bis dahin glücklich in seiner Familie herangewachsen war. Die Eltern reagierten mit Mitleid und Fürsorge; sie versuchten, dem Mädchen jeden Wunsch zu erfüllen. Das führte bei dem Mädchen zu grenzenlosem Egoismus. Sie tyrannisierte ihre Familie durch Forderungen, Wünsche und Aggressionen. In ihrer Not stellten die Eltern eine ausgebildete Erzieherin ein, die die Situation schnell erkannte und in einem langwierigen, die letzten Kräfte aller Beteiligten beinahe überfordernden Erziehungsprozess die Unterwerfung dieses begabten Mädchens unter ihre Autorität durchsetzte. Dieser Prozess der Disziplinierung wurde begleitet von Versuchen der Erzieherin, die schöpferische Begabung des Mädchens zu wecken. Das Experiment gelang, dem Gehorsam folgte die Entfaltung der Begabung, das Mädchen absolvierte 1904 erfolgreich ein Studium am Ratcliffe College und wurde eine weltbekannte Autorin; es war Helen Keller.
Dieses mutige Experiment gelang, weil Anne Sullivan Macy, die Erzieherin, Helen liebte und die Liebe sie legitimierte, Verzicht und Gehorsam von ihr zu fordern und phasenweise auch zu erzwingen. In dieser Geschichte einer unerhörten Disziplinierung liegt die ganze Wahrheit der Pädagogik, die Dialektik von Disziplin und Liebe zu einem Kind.
Denn die mitleidige und liebevolle Reaktion der Eltern auf die dramatische Lebensver-änderung des Kindes war gut gemeint. Aber „Liebe allein genügt nicht“, so lautet der Titel eines Buches des Psychologen Bruno Bettelheim. Wenn wir von Disziplin sprechen, fallen uns Strafe, Härte, Konsequenz und Einengung ein. Das ist nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich ist Disziplin das Tor zur Freiheit und zum Glück sowie die Voraussetzung aller Kultur. Kultur ist die Sublimierung gezähmter Triebe; das haben wir von Sigmund Freud gelernt. Der Mensch, dessen Aufwachsen gelungen ist, wird äußere Disziplin in Selbstdisziplin verwandeln. Aber der Weg zur Selbstdisziplin führt über äußeren Zwang. Selbstdisziplin ist nicht nur eine Frage der inneren Einstellung, sondern Folge von Einübung und Gewöhnung.
Am extremen Beispiel von Helen Keller wird sichtbar, dass Disziplin die Voraussetzung jeder höheren Entwicklung ist. Disziplin, Verzicht, Arbeitsethos und die Fähigkeit zu rationaler Lebensführung sind in unserer Kultur die Voraussetzungen für die Erfahrungen von Glück und Freiheit. Denn es ist in unserer abendländischen Kultur so, dass Glück besonders befreiend erlebt wird, wenn es einer Anstrengung folgt. Es wird moralisch für legitimer angesehen als Glück, das einem in den Schoß fällt. Das Glück des Sohnes, der sein Erbe nur genießt, steht in geringerem Ansehen als das Glück des tüchtigen Unternehmers, der durch Anstrengung seinen Besitz erworben hat. Ein solches Gefühl von Glück werden nur Menschen erleben, die von Kind an Verzicht geübt und Disziplin gelernt haben. Wer jungen Menschen die Erfahrung von Verzicht und Disziplin vorenthält, hindert sie daran, ihre Höchstform als Menschen erfahren zu dürfen. Und noch eines: das Glück, das einer schöpferischen Anstrengung folgt, ist von größerer Dauer als das passiv erlebte Glück, es hinterlässt kein schales Gefühl, wenn es endet, es findet Anerkennung bei den Mitmenschen, erregt also weniger Neid, und es ist wiederholbar ohne sich abzunutzen. Die Akzeptanz von Disziplin in einer Bildungseinrichtung ist oft ein Gradmesser für die Exzellenz ihrer Adepten.
Das zwanzigste Jahrhundert war pädagogisch ein Jahrhundert der Extreme. Die pervertierte Disziplin der Kadettenanstalten und der Napolas, der Erziehungsanstalten der Nationalsozialisten, kontrastierte mit dem Laissez-faire der antiautoritären Erziehung der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Maßlosigkeit war das Kennzeichen beider Erziehungs-muster; Maßlosigkeit ist der Feind aller Pädagogik.
Wir sind in Deutschland immer noch auf der Suche nach dem rechten Maß. Der National-sozialismus hat Autorität und Disziplin exzessiv gefeiert, die Generation der späten Nach-kriegszeit hat mit exzessiver Verweigerung von Autorität und Disziplin geantwortet. Wir stehen heute vor dem Scherbenhaufen dieser Bewegungen und reagieren rat- und hilflos. Ein einfaches Zurück zu Disziplin und Gehorsam ist ebenso wenig möglich wie das Verharren im Zustand der Ratlosigkeit. Dass der antiautoritäre Weg ein Irrweg war, hat auch der letzte Romantiker begriffen.
Der Rückkehr zu einer maßvollen Einübung von Verzicht und Gewöhnung an Arbeit steht unser Wohlstand im Wege. Die Nachkriegszeit war eine pädagogische Glückszeit und wir damals Erzogenen waren privilegiert, weil die Not den Verzicht diktierte und nicht Eltern und Lehrer Askese predigen mussten. Das Glück der Anstrengung verliert im Wettstreit mit dem Glück, das in der Wohlstandsgesellschaft passiv erlebt werden kann. Reichtum und Wohlstand sind Feinde des Aufwachsens. Man pflegte in früheren Jahrhunderten in den wohlhabenden Familien die Kinder so zu er ziehen, als ob sie nicht wohlhabend wären. Askese als Lebensmaxime sowie die dürftige und nur durch Warten oder moralischen Verdienst gewährte Erfüllung von Wünschen beherrschte den kindlichen und jugendlichen Alltag. Diese Erziehungsauffassung ist bis auf wenige Ausnahmen verschwunden. Der Konsens in der Gesellschaft, Kindern und Jugendlichen zum Glück durch Anstrengung zu verhelfen, ist aufgekündigt. Wer anders erzieht, wird zum Einzelkämpfer und muss nicht nur die Disziplin bei den eigenen Kindern durchsetzen, sondern auch noch dem Druck widerstehen, den ein neuer Konsens der Erziehung ohne Grenzen und Härten erzeugt.
Konsum und Spaß heißen die Zauberworte unserer Tage, die Anstrengungsbereitschaft ist in den Köpfen unserer Jugendlichen nicht mehr die erste Bedingung für Erfolg. Lediglich die Arbeitslosigkeit scheint allmählich eine Umkehr des Denkens zu bewirken. Es spricht sich sogar bei Schülern herum, dass man sich anstrengen, Verzicht üben und arbeiten muss, um Arbeit zu bekommen. Leider dominiert der Gedanke, dass man mit Arbeit Geld verdient und wenn man viel, einfallsreich und gut ausgebildet arbeitet, viel Geld verdient. Dass in unserer Kultur Arbeit auch Glück und Freiheit beschert, wenn sie als Beruf, entsprechend der Begabung und Neigung und nicht nach Verdienstmöglichkeiten gewählt wird, und dass Arbeit der Königsweg zu sich selbst ist, der Königsweg der Selbstverwirklichung, um die Lieblingsvokabel der ichzentrierten intellektuellen Schickeria der letzten Jahrzehnte zu verwenden, das hat sich noch nicht genügend herumgesprochen.
Wir versündigen uns an den Jugendlichen, wenn wir ihnen die Erfahrung von Askese, Arbeitsethos und rationaler Lebensführung vorenthalten. Es muss wieder ein gesellschaftlicher Konsens entstehen, dass wir ein Klima der strengen Erziehung brauchen, und dass wir trotz Wohlstands Jugendliche erziehen müssen, als ob der Wohlstand für Jugendliche nicht bestünde.
Das lässt sich nur in Gemeinschaften Gleichaltriger erreichen , die gemeinsam bereit sind, an anstrengenden Unternehmungen teilzunehmen, weil sie sich gegenseitig anstecken. Denn gerade bei Jugendlichen erreicht man alles, wenn man ihr Bedürfnis nach Nachahmung Gleichaltriger und ihrem Wunsch, dabei sein zu wollen, nützt. In der richtig geführten Gruppe sind sie zu Verzicht und Disziplin bereit und erleben das Glück der Anstrengung.
Der Staat muss dafür sorgen, dass die mangelnde Erziehung in den immer seltener werdenden intakten Elternhäusern durch eine Erziehung in „Gemeinschaften von Lehrenden und Lernenden“ ergänzt wird. Die Leitfiguren, Vorbilder und Agenten von Bildung und Erziehung müssen und können nur die Lehrer sein. Sie müssen in Ganztagsschulen durch und nach dem Unterricht Kindern und Jugendlichen durch gemeinsame Aktivitäten, Sport, Musik, Theater und Unternehmungen in der Natur, heute spricht man von Outdoor-Activities, die Erfahrung des Glücks der Anstrengung möglich machen. Wir Lehrer müssen die Vorreiter einer neuen Erziehungs- und Bildungsbewegung werden. Es gibt viele, sehr viele Lehrer in diesem Land, die das leisten könnten und wollen, man muss ihnen nur die Bedingungen schaffen, um ihre pädagogischen Vorstellungen zur Tat werden zu lassen.
Darüber hinaus muss der Gesetzgeber damit beginnen durch gesetzliche Bestimmungen das Geschäft der Erziehung zu erleichtern. Die Altersgrenze für Alkohol und Tabak muss auf mindestens 18 Jahre herauf gesetzt werden. Harte Konsequenzen müssen angedroht werden, wenn Verkaufsstellen und Gaststätten das Gesetz übertreten. Das Diskothekswesen muss reglementiert, die Medien und die Werbung müssen an die Kandare gelegt werden. Fernsehen, Internet, Handy und Computerspiele sind die größten Feinde des Aufwachsens der Jugendlichen und die größten Verführer zum passiv erlebten Glück. Der Gesetzgeber muss auch hier noch tätig werden. Man muss Eltern und Lehrern ersparen, auch noch immer gegen das gesetzlich Erlaubte kämpfen zu müssen. Es darf nicht sein, dass Jugendliche Lehrern und Eltern, die Rauchen und Alkohol auch nach 16 verbieten wollen, antworten können, sie wollten doch wohl nicht klüger sein als der Gesetzgeber.
In diesen Monaten läuft ein Film in den Kinos mit dem Titel „Rhythm is it“. Der Film berichtet, wie Simon Rattle als Chef der Berliner Philharmoniker zusammen mit dem Choreografen Royston Maldoom 250 Hauptschüler „ Le Sacre du printemps“ von Strawinsky einstudieren lässt. Das häufigste Wort, das der Choreograph verwendet, ist Disziplin, Disziplin als Voraussetzung dafür, dass Jugendliche das Vertrauen in ihre eigenen schöpferischen Fähigkeiten gewinnen. So ungeschützt kann ein Deutscher nicht von Disziplin sprechen. Der Zuschauer kann die Entstehung der Aufführung anschaulich verfolgen und beobachten, wie sie sich aus der Dialektik von Forderungen harter Disziplin und liebender Zuwendung des Choreographen entwickelt, dessen Glaube an die Jugendlichen den Zuschauer mitreißt. Dieser Film erzählt, in welche Höhen Jugendliche geführt werden können, wenn einer an sie glaubt, sie hart fordert und sie sich in einer Gemeinschaft gegenseitig anfeuern. Alle, die pädagogisch tätig sind, müssen diesen Film sehen. Er lehrt das Recht der Jugend auf Disziplin.<
Mich interessiert, was ihr dazu zu sagen habt.
Grüsse,
qurious
(aka quentin_=3)
Trying to be two hundred thousand years younger
So I could excuse myself from human kind
Vorsicht, ellenlanger Text!
Spart euch die Beschwerden.
Für die Interessierten:
Wäre nett, wenn ihr euch die Mühe macht, den Text zu lesen.
>Die Schule ist kein Spaßbad
Vom Recht der Jugend auf Disziplin
von Bernhard Bueb, Leiter der Schule Schloss Salem
(Veröffentlicht in der FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG,
am 24. Februar 2005)
Im Jahr 1882 wurde in Amerika ein zweijähriges Mädchen taubblind, das bis dahin glücklich in seiner Familie herangewachsen war. Die Eltern reagierten mit Mitleid und Fürsorge; sie versuchten, dem Mädchen jeden Wunsch zu erfüllen. Das führte bei dem Mädchen zu grenzenlosem Egoismus. Sie tyrannisierte ihre Familie durch Forderungen, Wünsche und Aggressionen. In ihrer Not stellten die Eltern eine ausgebildete Erzieherin ein, die die Situation schnell erkannte und in einem langwierigen, die letzten Kräfte aller Beteiligten beinahe überfordernden Erziehungsprozess die Unterwerfung dieses begabten Mädchens unter ihre Autorität durchsetzte. Dieser Prozess der Disziplinierung wurde begleitet von Versuchen der Erzieherin, die schöpferische Begabung des Mädchens zu wecken. Das Experiment gelang, dem Gehorsam folgte die Entfaltung der Begabung, das Mädchen absolvierte 1904 erfolgreich ein Studium am Ratcliffe College und wurde eine weltbekannte Autorin; es war Helen Keller.
Dieses mutige Experiment gelang, weil Anne Sullivan Macy, die Erzieherin, Helen liebte und die Liebe sie legitimierte, Verzicht und Gehorsam von ihr zu fordern und phasenweise auch zu erzwingen. In dieser Geschichte einer unerhörten Disziplinierung liegt die ganze Wahrheit der Pädagogik, die Dialektik von Disziplin und Liebe zu einem Kind.
Denn die mitleidige und liebevolle Reaktion der Eltern auf die dramatische Lebensver-änderung des Kindes war gut gemeint. Aber „Liebe allein genügt nicht“, so lautet der Titel eines Buches des Psychologen Bruno Bettelheim. Wenn wir von Disziplin sprechen, fallen uns Strafe, Härte, Konsequenz und Einengung ein. Das ist nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich ist Disziplin das Tor zur Freiheit und zum Glück sowie die Voraussetzung aller Kultur. Kultur ist die Sublimierung gezähmter Triebe; das haben wir von Sigmund Freud gelernt. Der Mensch, dessen Aufwachsen gelungen ist, wird äußere Disziplin in Selbstdisziplin verwandeln. Aber der Weg zur Selbstdisziplin führt über äußeren Zwang. Selbstdisziplin ist nicht nur eine Frage der inneren Einstellung, sondern Folge von Einübung und Gewöhnung.
Am extremen Beispiel von Helen Keller wird sichtbar, dass Disziplin die Voraussetzung jeder höheren Entwicklung ist. Disziplin, Verzicht, Arbeitsethos und die Fähigkeit zu rationaler Lebensführung sind in unserer Kultur die Voraussetzungen für die Erfahrungen von Glück und Freiheit. Denn es ist in unserer abendländischen Kultur so, dass Glück besonders befreiend erlebt wird, wenn es einer Anstrengung folgt. Es wird moralisch für legitimer angesehen als Glück, das einem in den Schoß fällt. Das Glück des Sohnes, der sein Erbe nur genießt, steht in geringerem Ansehen als das Glück des tüchtigen Unternehmers, der durch Anstrengung seinen Besitz erworben hat. Ein solches Gefühl von Glück werden nur Menschen erleben, die von Kind an Verzicht geübt und Disziplin gelernt haben. Wer jungen Menschen die Erfahrung von Verzicht und Disziplin vorenthält, hindert sie daran, ihre Höchstform als Menschen erfahren zu dürfen. Und noch eines: das Glück, das einer schöpferischen Anstrengung folgt, ist von größerer Dauer als das passiv erlebte Glück, es hinterlässt kein schales Gefühl, wenn es endet, es findet Anerkennung bei den Mitmenschen, erregt also weniger Neid, und es ist wiederholbar ohne sich abzunutzen. Die Akzeptanz von Disziplin in einer Bildungseinrichtung ist oft ein Gradmesser für die Exzellenz ihrer Adepten.
Das zwanzigste Jahrhundert war pädagogisch ein Jahrhundert der Extreme. Die pervertierte Disziplin der Kadettenanstalten und der Napolas, der Erziehungsanstalten der Nationalsozialisten, kontrastierte mit dem Laissez-faire der antiautoritären Erziehung der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Maßlosigkeit war das Kennzeichen beider Erziehungs-muster; Maßlosigkeit ist der Feind aller Pädagogik.
Wir sind in Deutschland immer noch auf der Suche nach dem rechten Maß. Der National-sozialismus hat Autorität und Disziplin exzessiv gefeiert, die Generation der späten Nach-kriegszeit hat mit exzessiver Verweigerung von Autorität und Disziplin geantwortet. Wir stehen heute vor dem Scherbenhaufen dieser Bewegungen und reagieren rat- und hilflos. Ein einfaches Zurück zu Disziplin und Gehorsam ist ebenso wenig möglich wie das Verharren im Zustand der Ratlosigkeit. Dass der antiautoritäre Weg ein Irrweg war, hat auch der letzte Romantiker begriffen.
Der Rückkehr zu einer maßvollen Einübung von Verzicht und Gewöhnung an Arbeit steht unser Wohlstand im Wege. Die Nachkriegszeit war eine pädagogische Glückszeit und wir damals Erzogenen waren privilegiert, weil die Not den Verzicht diktierte und nicht Eltern und Lehrer Askese predigen mussten. Das Glück der Anstrengung verliert im Wettstreit mit dem Glück, das in der Wohlstandsgesellschaft passiv erlebt werden kann. Reichtum und Wohlstand sind Feinde des Aufwachsens. Man pflegte in früheren Jahrhunderten in den wohlhabenden Familien die Kinder so zu er ziehen, als ob sie nicht wohlhabend wären. Askese als Lebensmaxime sowie die dürftige und nur durch Warten oder moralischen Verdienst gewährte Erfüllung von Wünschen beherrschte den kindlichen und jugendlichen Alltag. Diese Erziehungsauffassung ist bis auf wenige Ausnahmen verschwunden. Der Konsens in der Gesellschaft, Kindern und Jugendlichen zum Glück durch Anstrengung zu verhelfen, ist aufgekündigt. Wer anders erzieht, wird zum Einzelkämpfer und muss nicht nur die Disziplin bei den eigenen Kindern durchsetzen, sondern auch noch dem Druck widerstehen, den ein neuer Konsens der Erziehung ohne Grenzen und Härten erzeugt.
Konsum und Spaß heißen die Zauberworte unserer Tage, die Anstrengungsbereitschaft ist in den Köpfen unserer Jugendlichen nicht mehr die erste Bedingung für Erfolg. Lediglich die Arbeitslosigkeit scheint allmählich eine Umkehr des Denkens zu bewirken. Es spricht sich sogar bei Schülern herum, dass man sich anstrengen, Verzicht üben und arbeiten muss, um Arbeit zu bekommen. Leider dominiert der Gedanke, dass man mit Arbeit Geld verdient und wenn man viel, einfallsreich und gut ausgebildet arbeitet, viel Geld verdient. Dass in unserer Kultur Arbeit auch Glück und Freiheit beschert, wenn sie als Beruf, entsprechend der Begabung und Neigung und nicht nach Verdienstmöglichkeiten gewählt wird, und dass Arbeit der Königsweg zu sich selbst ist, der Königsweg der Selbstverwirklichung, um die Lieblingsvokabel der ichzentrierten intellektuellen Schickeria der letzten Jahrzehnte zu verwenden, das hat sich noch nicht genügend herumgesprochen.
Wir versündigen uns an den Jugendlichen, wenn wir ihnen die Erfahrung von Askese, Arbeitsethos und rationaler Lebensführung vorenthalten. Es muss wieder ein gesellschaftlicher Konsens entstehen, dass wir ein Klima der strengen Erziehung brauchen, und dass wir trotz Wohlstands Jugendliche erziehen müssen, als ob der Wohlstand für Jugendliche nicht bestünde.
Das lässt sich nur in Gemeinschaften Gleichaltriger erreichen , die gemeinsam bereit sind, an anstrengenden Unternehmungen teilzunehmen, weil sie sich gegenseitig anstecken. Denn gerade bei Jugendlichen erreicht man alles, wenn man ihr Bedürfnis nach Nachahmung Gleichaltriger und ihrem Wunsch, dabei sein zu wollen, nützt. In der richtig geführten Gruppe sind sie zu Verzicht und Disziplin bereit und erleben das Glück der Anstrengung.
Der Staat muss dafür sorgen, dass die mangelnde Erziehung in den immer seltener werdenden intakten Elternhäusern durch eine Erziehung in „Gemeinschaften von Lehrenden und Lernenden“ ergänzt wird. Die Leitfiguren, Vorbilder und Agenten von Bildung und Erziehung müssen und können nur die Lehrer sein. Sie müssen in Ganztagsschulen durch und nach dem Unterricht Kindern und Jugendlichen durch gemeinsame Aktivitäten, Sport, Musik, Theater und Unternehmungen in der Natur, heute spricht man von Outdoor-Activities, die Erfahrung des Glücks der Anstrengung möglich machen. Wir Lehrer müssen die Vorreiter einer neuen Erziehungs- und Bildungsbewegung werden. Es gibt viele, sehr viele Lehrer in diesem Land, die das leisten könnten und wollen, man muss ihnen nur die Bedingungen schaffen, um ihre pädagogischen Vorstellungen zur Tat werden zu lassen.
Darüber hinaus muss der Gesetzgeber damit beginnen durch gesetzliche Bestimmungen das Geschäft der Erziehung zu erleichtern. Die Altersgrenze für Alkohol und Tabak muss auf mindestens 18 Jahre herauf gesetzt werden. Harte Konsequenzen müssen angedroht werden, wenn Verkaufsstellen und Gaststätten das Gesetz übertreten. Das Diskothekswesen muss reglementiert, die Medien und die Werbung müssen an die Kandare gelegt werden. Fernsehen, Internet, Handy und Computerspiele sind die größten Feinde des Aufwachsens der Jugendlichen und die größten Verführer zum passiv erlebten Glück. Der Gesetzgeber muss auch hier noch tätig werden. Man muss Eltern und Lehrern ersparen, auch noch immer gegen das gesetzlich Erlaubte kämpfen zu müssen. Es darf nicht sein, dass Jugendliche Lehrern und Eltern, die Rauchen und Alkohol auch nach 16 verbieten wollen, antworten können, sie wollten doch wohl nicht klüger sein als der Gesetzgeber.
In diesen Monaten läuft ein Film in den Kinos mit dem Titel „Rhythm is it“. Der Film berichtet, wie Simon Rattle als Chef der Berliner Philharmoniker zusammen mit dem Choreografen Royston Maldoom 250 Hauptschüler „ Le Sacre du printemps“ von Strawinsky einstudieren lässt. Das häufigste Wort, das der Choreograph verwendet, ist Disziplin, Disziplin als Voraussetzung dafür, dass Jugendliche das Vertrauen in ihre eigenen schöpferischen Fähigkeiten gewinnen. So ungeschützt kann ein Deutscher nicht von Disziplin sprechen. Der Zuschauer kann die Entstehung der Aufführung anschaulich verfolgen und beobachten, wie sie sich aus der Dialektik von Forderungen harter Disziplin und liebender Zuwendung des Choreographen entwickelt, dessen Glaube an die Jugendlichen den Zuschauer mitreißt. Dieser Film erzählt, in welche Höhen Jugendliche geführt werden können, wenn einer an sie glaubt, sie hart fordert und sie sich in einer Gemeinschaft gegenseitig anfeuern. Alle, die pädagogisch tätig sind, müssen diesen Film sehen. Er lehrt das Recht der Jugend auf Disziplin.<
Mich interessiert, was ihr dazu zu sagen habt.
Grüsse,
qurious
(aka quentin_=3)
Trying to be two hundred thousand years younger
So I could excuse myself from human kind