Von den berühmten unaufgeklärten Fällen in Deutschland, die damals im TV behandelt wurden, war der Fall "Gertrud Kalweit" für mich der merkwürdigste und auch der, der sich mir am Tiefsten eingeprägt hat.
Es ist wertvoll, dass wir hier im Forum Leute haben, die etwas von Schriften verstehen und sogar die Sütterlin-Schrift selbst schreiben können. Wir haben sowohl sehr junge Menschen (wie Eossoe) wie auch Leute im Durchschnittsalter derer, die hier wohl schreiben (wie ich selbst). Mir liegt viel am Urteil unserer Schriftexperten und und ich lasse mich gerne korrigieren, und zwar nicht nur in Sachen Schrift!
Gerade durch Kritik und Korrekturen kommen wir besser und tiefer in den Fall hinein, werden ihm gerechter. Denn ein Einzelner wird im Fall "Kalweit" nicht zu Erkenntnissen gelangen, erst recht nicht nach so langer Zeit.
Die Expertise unserer Schriftkenner sagt, es sei eher eine jüngere, eher eine starke, schöne Schrift.
Die meisten Forumsmitglieder haben den Zettel, der einige Tage nach der Tat am Tatort gefunden wurde, als etwas völlig Normales aufgefasst, als eine erwartbare Anteilnahme und Empörung eines unbekannten Menschen angesichts des Verbrechens. Auch die Ermittler von 1980 haben mit dem Zettel nichts Besonderes anzufangen gewusst.
Nun möchte ich aber zeigen, dass wir mit bloss 4 plausiblen Annahmen zu einem sehr überraschenden Schluss kommen können.
Mit "plausibel" meine ich z.B. :
Die Hälfte aller Sexualmorde in Deutschland ist geplant.
Es gibt eiskalte Täter (ohne jede menschliche Regung), aber es gibt eben auch Täter mit menschlichen Regungen.
Bei 60-75 Prozent der Sexualverbrechen stammt der Täter aus dem Nahbereich des Opfers.
Es gibt auch sehr junge Täter, und jeder Täter verübte einmal sein erstes Verbrechen.
Unsere bescheidenen 4 Annahmen:
(1) Täter war 16-25 Jahre alt.
(2) Es war seine erste Tat.
(3) Er war nicht gefühlskalt.
(4) Er kannte das Opfer von Arbeitsplatz oder Nachbarschaft.
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Schlussfolgerungen:
(5) Aus (4) : Die Tat war geplant, denn der Täter kannte Arbeitszeiten und Heimweg.
(6) Aus (4) : Der Täter wusste: Gertrud Kalweit ist 38 Jahre alt und Mutter.
(7) Aus (1), (5), (6) : Täter suchte sich als Opfer bewusst: eine Frau im etwa doppelten Alter + eine Mutter.
Ich halte Punkt (7) als wichtigsten Schluss noch einmal fest:
Der Täter plante NICHT ein Sexualverbrechen an einem Mädchen seines Alters, NICHT an einer jungen kinderlosen Frau.
Der Täter plante ein Sexualverbrechen an einer ihm bekannten Mutter (relativ jung), die etwa doppelt so alt war wie er selbst. Den Täter reizten nicht die Töchter von Gertrud Kalweit, sondern die Mutter dieser Töchter.
Gertrud Kalweit muss etwas an sich gehabt haben, was den Täter gereizt hat:
Über längere Zeit gären im Täter die Gedanken. Er malt sich das Vebrechen aus. Er plant und ist vorbereitet (z.B. das Messer).
Zwar kommt er dann auch zu seinem Lusterlebnis. Aber da es seine erste Tat ist, gehen vielleicht auch Dinge schief.
Wir wissen nicht, ob der Täter die Reaktionen des Opfers für sich als Stimulans empfunden hat.
Oder ob er von der Gegenwehr des Opfers so überrascht war, dass er das Opfer "übertötete" (Erwürgen, Erstechen) und dann (vielleicht in Panik und Wut) sogar noch mit einem Stein auf den Kopf des Opfers schlug. Warum diese Gewalt? War es Hass? Welchen Grund könnte er gehabt haben, Gertrud Kalweit zu hassen?
In den Tagen nach der Tat wird dem Täter bewusst, was er getan hat.
Emotional dürfte er in einem schweren Gefühlsdurcheinander gewesen sein.
Zwar ist er zu seinem langersehnten Lusterlebnis gekommen. Aber da er auch zu menschlichen Regungen fähig ist, wird ihm nun klar, dass er auf erschreckende, auf nicht fassbare brutale Weise einen Menschen ermordet hat.
Eine wohl über längere Zeit zum Ausbruch hochgestiegene Phantasie ist etwas ganz anderes als die Realität.
Die Phantasie kennt nicht das Danach: das genommene Leben, der verschwundene Mensch. Das Grauen der Tat. Die Schuld. Das Gewissen.
Der Täter erschreckt vor dem Getanen, und er erschreckt vor sich selbst.
Auch wenn er bei der Tat Genuss verspürt hat, so erschreckt er doch jetzt vor sich selbst. Er muss und will sein Gewissen entlasten.
Abscheu vor sich selbst, darum Selbstabwehr: "Das war nicht ich!"
Er verlegt die Abscheu nach aussen:
Er schreibt einen Zettel und hinterlegt ihn geschützt (eingepackt) am Tatort.
Der Text drückt die moralisch erwartbare Abscheu und die Notwendigkeit aus, den Mörder zu finden.
Indem der Täter das schriftlich zum Ausdruck bringt, erfüllt er die eigene moralische und die soziale Norm, was sein Gewissen beruhigt.
Wie die Gefühle des Täters, so ist auch der Text des Zettels ein Durcheinander:
Die Entlastung des Ichs von Abscheu und Schrecken sowie eine Rechtfertigung vor dem eignen Gewissen:
"Tod dem Anderen, dem, der das getan hat", oder im Original: "Tod dem Mörder" (dem Nicht-Ich).
Und dann ist da die zu erfüllende Erwartung der menschlichen Gemeinschaft, in die der Täter einen Selbstausdruck legt, nämlich wie er die Tat und sich selbst versteht: "Der MutterMörder muss gefunden werden."
So gelangen wir zu dem Ergebnis, dass der Täter sich nicht so sehr in der Aussage des Textes zeigt (denn sie ist stärker vom Bewusstsein kontrolliert), ausser vielleicht in einem einzigen Wort.
Vielmehr zeigt sich der Mörder vor allem in der Form des Textes (die weniger vom Bewusstsein kontrolliert ist), nämlich in den drei "M", die er auf eigenartige Weise NICHT in Sütterlin schreiben KANN oder WILL:
Ein "M" bei "Mörder"
und
Zwei "M" bei "MutterMörder".
Da Gertrud Kalweit keinen Sohn hatte, der Täter aber ein Sexualverbrechen an einer ihm bekannten Mutter geplant und verübt hat, die doppelt so alt war wie er selbst, erhebt sich für mich die Frage, woher kam das Interesse für diese besondere Frau? Woher kamen der Hass und die Gewalt gegen diese Frau? Galten sie denn wirklich dem Opfer? Wenn ja, hatte Gertrud Kalweit Ähnlichkeit oder ähnliche Züge wie seine Mutter? War das Opfer ein "Blitzableiter"? Wurde dem Täter in den Tagen nach der Tat bewusst, dass die Tat vielleicht (eigentlich) jemandem anders gegolten hatten?
@brigittscheDu schreibst, es gebe einen Widerspruch zwischen den zwei von dir angeführten Zitatblöcken.
Ich kann keinen Widerspruch erkennen.
Mag sein, ich habe mich ungeschickt ausgedrückt. Mag sein, du hast etwas überlesen. Mag auch beides sein.
Falls dich meine nun folgende Antwort nicht zufriedenstellt, so sage mir bitte mit deinen Worten, worin genau du einen Widerspruch erblickst.
Wir wissen über die Details der Tat sehr wenig, zuwenig:
(a) Annäherung an das Opfer
(b) Angriff
(c) Kontrollgewinnung
(d) sexuelle Handlung
(e) Tötung (möglw. schon vor (d))
(f) Verhalten nach der Tat
Die Regel, wonach das Denken des Üblichen, Wahrscheinlichen, Nächstliegenden MEISTENS zum Erfolg führt, ist gewiss gültig.
ABER: Wenn diese Regel in dem bekannten Fall "Kalweit" ausnahmsweise nicht zum Erfolg geführt hat, dann sollten wir vielleicht nach 40 Jahren mit Blick auf (a) bis (f) das konventionelle Denken wenigstens in manchen Punkten (z.B. Zettel) mit dem unkonventionellen Denken kombinieren! Das war mein Vorschlag.
Ich sehe hier keinen Widerspruch, weil wir nach meinem Vorschlag eben elastisch denken sollten.
Das sehr überraschende Resultat mit einer glaubwürdigen Identität von "Abscheu ausdrückender Zettelschreiber = Mörder" zeigt ja, dass wir ab und zu auch elastisch denken sollten, um das Aussergewöhnliche des Falles Kalweit in den Blick zu bekommen. Ansonsten erstarren wir in der Konventionalität von 1980, die unfruchtbar blieb.
Wie hier im Forum gesagt wurde, war Gertrud Kalweit eine junge Frau, die vielleicht sogar ihre schönsten Jahre noch vor sich hatte. Sie wäre heute 78 Jahre alt und wäre dabei noch nicht einmal alt.