Tobiaskai schrieb am 01.06.2022:Ist diese Welt - die, so glaube ich, Kant Noumenon nennt- identisch mit der hinduistischen Entität Brahman?
Nein, auf gar keinen Fall! Identität ist bei Begriffen sowieso selten. Hierbei spricht man dann von sog.
Synonymen. Und die Verlinkung zum Wiki-Artikel ist an dieser Stelle natürlich nicht nur so zum Spaß, sondern deutet auf die dringende Empfehlung hin, diesen wenigstens kurz zu überfliegen, um bspw. den Unterschied zwischen
"strikter Synonymie" und
"partieller Synonymie" zu verstehen. Und auch, was es mit so Begrifflichkeiten wie
Intension, Extension oder Konnotation vor diesem Hintergrund auf sich hat.
Bedeutungsgleichheit* ist also bereits eine sehr strenge Forderung, wobei in diesem Fall ("Noumenon" vs. "Brahman") nicht einmal von einer
Bedeutungsähnlichkeit die Rede sein kann.
Ganz grob kann man "Noumenon" auch als "Gedankending" übersetzen, wobei hierbei im Prinzip natürlich nur eine rein syntaktische Substitution stattfindet, d.h. es wird die Buchstabenfolge N-o-u-m-e-n-o-n durch die Buchstabenfolge G-e-d-a-n-k-e-n-d-i-n-g ersetzt in der Hoffnung, dass nun die Bedeutung von "Noumenon" klar sei, die quasi der Bedeutung von "Gedankending" entspräche, wobei sich dann natürlich unweigerlich die Frage aufdrängt, was genau unter einem "Gedankending" zu verstehen ist... Nichtsdestotrotz dürfte "Gedankending" als Komposition aus "Gedanke" und "Ding" etwas anschaulicher sein als "Noumenon" - und gemäß Duden:
etwas bloß Gedachtes, Vorgestelltes (Duden, Gedankending). Darunter fallen bspw. sowohl die
bloß gedachte Katze, wie auch der
bloß gedachte Tisch, während beides aber nicht identisch ist (in einem Fall wird ja eine Katze gedacht, im anderen Fall ein Tisch).
Man könnte noch etliche weitere
Vorüberlegungen anstellen, aber meine Zeit ist etwas begrenzt. Daher nur noch kurz zum Brahman - lt. Wiki:
...in der hinduistischen Philosophie die unveränderliche, unendliche, immanente und transzendente Realität, welche den ewigen Urgrund von allem darstellt, was ist.Wikipedia: Brahman (Philosophie)Menschen in meinem Semester sehen hier eher eine ganz, ganz andere Analogie, nämlich:
Als Erste Ursache (lat. prima causa oder causa prima, auch: primum movens) bezeichnet man in der scholastischen Philosophie diejenige Substanz bzw. das Sein, auf das alles (andere) Seiende zurückgeht.
Wikipedia: Erste UrsacheDas ist natürlich super interessant und auch definitiv eine Diskussion wert, ginge aber an der ursprünglichen Fragestellung, die klar zu verneinen ist, etwas vorbei.
*so man das als
Synonym für Identität verstanden wissen will...
;)Tobiaskai schrieb am 01.06.2022:Es geht um die Wirklichkeit nicht um die Realität.
Interessant, dass du beide Begriffe klar voneinander abzugrenzen versuchst, was je nach Kontext durchaus sinnvoll sein kann. Ich persönlich gebrauche beide Begriffe in der Regel synonym, wobei mir der Begriff der
Wirklichkeit aber aus mehreren Gründen lieber ist.
Zum einen war der Begriff der
Wirklichkeit eigentlich schon immer als Gegensatz zur bloßen
Möglichkeit verstanden, während ausführlichere Diskussionen rund um das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit sich eigentlich durch die gesamte Philosophiegeschichte bis hin zu Aristoteles ziehen (siehe bspw.
Akt und Potenz bei Aristoteles). Hinzu käme sicherlich auch noch der Begriff der
Notwendigkeit.
Zweitens beinhaltet der Begriff der
Wirklichkeit nichtzuletzt auch den Begriff der
Wirkung, demzufolge bspw. ein Gott (oder irgendeine andere Entität), welcher in keinster Weise auf die Welt
einwirkt, nicht Teil derselbigen bzw. der Wirklichkeit sein könne.
Etwas strittiger ist die Frage, was genau alles zur Wirklichkeit zählt. Bei Wiki heißt es bspw. zunächst ganz lapidar:
Mit dem Begriff Wirklichkeit soll das bezeichnet werden, was der Fall ist.Wikipedia: WirklichkeitDamit grenzt sich dieser Begriff auch von einer primitiven, oberflächlichen Dingontologie ab, wonach die Welt lediglich aus Dingen mit Eigenschaften bestünde. Außerdem inkludiert es nicht-empirische Sachverhalte bspw. mathematischer Natur. Bspw.
ist der Fall, dass 1+1=2. Mathematische Zusammenhänge sind demnach wirklich und nicht etwa nur erfunden o.ä.
Man könnte hier wirklich fertig sein, denn an und für sich interessiert uns auch eigentlich nur
das, was der Fall ist, mehr nicht! Also auch mit Blick auf metaphysische Fragestellungen über Gott, Seele, blakeks....
Wiki deutet es aber nachfolgend dann an, dass es wohl doch etwas komplizierter ist bzw. man es sich eben komplizierter machen kann:
Oft wird zwischen Wirklichkeit und Realität nicht unterschieden. Es gibt aber auch Begriffsverwendungen, in denen mit dem Begriff „Wirklichkeit“ eine Realität gemeint ist, die auf Dinge eingeschränkt ist, die eine Wirkung haben oder ausüben können, also physikalische Gegenstände (siehe Wechselwirkung). In dieser Unterscheidung sind gedankliche Gegenstände wie Zahlen oder Theorien zwar Bestandteil der Realität, aber nicht der Wirklichkeit.Wikipedia: Wirklichkeit#BegriffsinhaltDas Problem hierbei ist, dass Wirkung einfach mal eben und explizit auf den Begriff der physikalischen Wechselwirkung runtergebrochen wird, wodurch dann wieder ein verkappter Materialismus im Gewand eines Physikalismus durch die Hintertür eingeführt wird, wonach dann bspw. so etwas wie
Qualia nicht mehr Teil der Wirklichkeit ist, wie du selbst kurz anmerkst:
Tobiaskai schrieb am 01.06.2022:Jene Welt, die ohne Qualia ist.
Was für eine Welt sollte das aber sein?!
:ask:Denn faktisch sind Qualia unser einziger Zugang zur Wirklichkeit, sollen aber nun auf einmal aus selbiger ausgeklammert werden?
Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensibus!Tobiaskai schrieb am 01.06.2022:Und vielleicht noch hinterher gefragt, da der Hinduismus diese Frage bejaht, glaubt ihr, dass diese Wirklichkeit erfahrbar ist.
Ich halte das
möglicherweise für eine Scheinfrage, die aus der berühmt-berüchtigten
Subjekt-Objekt-Spaltung resultiert. Zumindest sollte die ketzerische Frage erlaubt sein, ob und inwieweit eine derartige
Konzeptionalisierung der Wirklichkeit bzw. Unterteilung der Welt in
Objekte und Subjekte überhaupt sinnvoll ist. Ich (Subjekt) hier, Tisch (Objekt) da - hierbei mögen zwar viable, einfach verständliche und intuitiv naheliegende Konzepte für die Bewältigung des Alltages zum Einsatz kommen, ob und inwieweit sie auch für ein tieferes Verständnis der Wirklichkeit hilfreich oder nicht vielleicht eher hinderlich sind, ist eine andere Sache.