Das Licht der Welt
12.12.2013 um 23:57
Das Gewissen
Wir wollen jetzt untersuchen, wie sich bei Adam und Eva der von der Schlange versprochene
Vorteil verwirklichte. Das wird uns zu einem wichtigen Punkt in Verbindung mit dem Fall
des Menschen leiten. Nach der Anordnung Gottes des HERRN sollte der Mensch durch
den Fall etwas erhalten, was er vorher nicht besaß, nämlich ein Gewissen, die Erkenntnis
des Guten und des Bösen. Früher konnte er kein Gewissen haben. Wie hätte er etwas
über das Böse wissen können, so lange das Böse nicht vorhanden war? Er befand sich in
einem Zustand der Unwissenheit über das Böse. Durch seinen Fall empfing der Mensch ein
Gewissen, und wir finden, dass die erste Wirkung dieses Gewissens darin bestand, einen
Feigling aus ihm zu machen. Satan hatte die Frau betrogen. Er hatte gesagt: „Eure Augen
werden aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott, erkennend Gutes und Böses“ (V. 5). Aber er
hatte einen wesentlichen Teil der Wahrheit ausgelassen, nämlich, dass sie das Gute erkennen
würden, ohne die Macht zu besitzen, es zu tun, und dass sie das Böse erkennen würden, ohne
die Kraft zu haben, es zu lassen. Gerade der Versuch des Menschen, sich selbst zu erheben,
schloss den Verlust wahrer Erhabenheit in sich. Sie sanken zu erniedrigten, kraftlosen, von
Satan unterjochten und von Gewissensbissen gequälten, furchtsamen Geschöpfen herab.
„Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan“ (V. 7). Aber wozu? Nur, um ihre eigene
Nacktheit zu entdecken. Ihr geöffnetes Auge erblickte ihren Zustand, und der war elend,
jämmerlich, arm und bloß. „Sie erkannten, dass sie nackt waren“. Wie traurig war die
Frucht des Baumes der Erkenntnis! Sie hatten keine neue Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes
erlangt. Nein, das erste Ergebnis ihres ungehorsamen Strebens nach Erkenntnis war die
Entdeckung, dass sie nackt waren.Es ist gut, dies zu verstehen. Wenn wir wissen, wie das Gewissen wirkt, so sehen wir,
dass es uns nur zu Feiglingen machen kann, da es uns bewusst macht, was wir sind. Viele
irren sich in dieser Hinsicht, da sie meinen, dass das Gewissen uns zu Gott führt. War das
denn seine Wirkung bei Adam und Eva? Keineswegs. Und wir werden dies bei keinem
Sünder finden. Wie wäre es auch möglich? Wie könnte mich je das Gefühl von dem, was
ich bin, zu Gott bringen, wenn es nicht begleitet ist von dem Glauben an das, was Gott
ist? Es wird vielmehr Scham, Selbstanklage, Gewissensangst und Schrecken hervorrufen.
Es mag auch gewisse Anstrengungen meinerseits hervorrufen, um den Zustand zu heilen,
aber gerade diese Anstrengungen wirken wie eine Blende, anstatt uns zu Gott zu ziehen,
sie verbergen ihn vor unseren Blicken. So folgte bei Adam und Eva auf die Entdeckung
ihrer Nacktheit der Versuch, die Nacktheit durch eigenes Bemühen zu verbergen. „Sie
hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“ (V. 7). Hier haben wir den
ältesten Bericht über den Versuch des Menschen, seinen Zustand durch selbst erfundene
Mittel zu ändern, und die aufmerksame Betrachtung dieses Versuchs zeigt uns den wahren
Charakter der menschlichen Religiosität zu allen Zeiten. Zunächst sehen wir, dass nicht
nur bei Adam, sondern in jedem Fall die Anstrengung des Menschen, seinen Zustand zu
heilen, aus der Erkenntnis seiner Nacktheit hervorgeht. Er ist nackt, das ist nicht zu leugnen,
und sein ganzes Wirken ist die Folge der Erkenntnis dieses Zustandes. Was aber nützt alle
Anstrengung? Bevor ich etwas tun kann, was in den Augen Gottes angenehm ist, muss ich
wissen, dass ich bekleidet bin.
Hierin liegt der Unterschied zwischen wahrem Christentum und menschlicher Religiosität.
Wahres Christentum ist darauf gegründet, dass Gott den Menschen göttlich bekleidet hat,
und hier hat der Christ seinen Ausgangspunkt. Menschliche Religiosität geht von dem
nackten Zustand des Menschen aus und ist gekennzeichnet durch sein Bemühen, sich selbst
zu bekleiden. Alles, was ein wahrer Christ tut, geschieht, weil er bekleidet ist. Alles, was
ein äußerlich religiöser Mensch tut, geschieht, um bekleidet zu werden. Das ist ein großer
Unterschied. Je mehr wir den Geist der menschlichen Religion in allen seinen Formen
prüfen, umso mehr werden wir erkennen, wie völlig unfähig die Religion ist, den Zustand
des Menschen zu heilen oder auch nur seinem Bewusstsein darüber wirksam zu begegnen.
Sie mag für eine Zeit genügen und auch so lange befriedigen, wie man den Tod, das Gericht
und den Zorn Gottes nur aus der Ferne betrachtet. Sobald aber ein Mensch diesen Dingen in
ihrer schrecklichen Wirklichkeit ins Angesicht schaut, wird er spüren, dass seine Religion
niemals genügen kann.In demselben Augenblick, als Adam in Eden die Stimme Gottes vernahm, „fürchtete er
sich“, weil er nackt war, wie er selbst bekannte. Ja, er war nackt, obwohl sie sich Schurze
aus Feigenblättern umgebunden hatten. Offenbar befriedigte diese Bedeckung nicht einmal
Adams eigenes Gewissen. Denn wäre sein Gewissen göttlich befriedigt gewesen, so hätte er
sich nicht gefürchtet. „Wenn unser Herz uns nicht verurteilt, so haben wir Freimütigkeit zu
Gott“ (1. Joh 3,21). Wenn aber nicht einmal das menschliche Gewissen in den religiösen
Anstrengungen des Menschen Ruhe finden kann, wie viel weniger die Heiligkeit Gottes!
Adams Schurz genügte nicht in den Augen Gottes, um ihn zu bedecken, und nackt konnte
er nicht in seiner Gegenwart erscheinen. Darum Woh er, um sich zu verbergen. Das bewirkt
das Gewissen zu allen Zeiten. Es veranlasst den Menschen, sich vor Gott zu verbergen.
Überhaupt ist alles, was seine eigene Religiosität ihm bietet, nichts anderes als ein Mittel,
um sich vor Gott zu verbergen. Wie erbärmlich aber ist ein solcher Schutz, da der Mensch
doch einmal vor Gott erscheinen muss! Und wie bestürzt und unglücklich muss er sein,
wenn er nichts anderes besitzt als das traurige Bewusstsein seines Zustandes. Nur die Hölle
selbst ist noch nötig, um das Elend eines Menschen voll zu machen, der fühlt, dass er Gott
begegnen muss, und nur weiß, dass er unfähig ist, ihm begegnen zu können.
Hätte Adam die vollkommene Liebe Gottes erkannt, so hätte er sich nicht gefürchtet, denn
„Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die
Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe“ (1. Joh 4,18). Aber
Adam wusste hiervon nichts, weil er der Lüge der Schlange geglaubt hatte. Er dachte, Gott
sei alles, aber nicht Liebe, und daher wäre es der letzte Gedanke seines Herzens gewesen,
sich in seine Gegenwart zu wagen. Die Sünde war da, und Gott kann sich mit der Sünde
niemals vereinigen. Solange die Sünde auf dem Gewissen lastet, muss auch das Gefühl der
Entfernung von Gott vorhanden sein. „Du bist zu rein von Augen, um Böses zu sehen, und
Mühsal vermagst du nicht anzuschauen“ (Hab 1,13). Heiligkeit und Sünde können nicht
zusammen wohnen. Die Sünde kann nur dem Zorn Gottes begegnen.