Armut ist politisch gewollt
15.03.2013 um 09:57
Nein, Armut ist kapitalistisch gewollt.
Aufgabe von Politikern ist es, dem Kapitalismus zu dienen !
"Nicht nur die Wirtschaft, auch die Politik ist in einer Krise. Die friedliche Koexistenz zwischen Kapitalismus und Demokratie ist zu Ende, meint der Soziologe Wolfgang Streeck.
http://www.berliner-zeitung.de/kultur/krise-wie-der-kapitalismus-die-demokratie-zerstoert,10809150,22045334.html
Die Krise von 2008 – sie ist nun schon bald fünf Jahre alt – ist der bisherige Höhepunkt eines langfristigen Trends, der um die Mitte der 1970er-Jahre als Folge des zurückgehenden Wachstums begann. In der Wendezeit zerbrach das internationale Währungssystem und die alte Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems kehrte auf überraschende Weise zurück.
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine Zeit der Diktaturen, Kriege, Wirtschaftskriege. 1945 begann, was man heute als Ausnahmeperiode erkennt. Damals war es erstmals möglich, demokratische Politik und kapitalistische stabil miteinander in Einklang zu bringen. Es folgten zwei bis drei Jahrzehnte mit sehr hohen Wachstumsraten, die es möglich machten, die einer Marktwirtschaft innewohnende Tendenz zu wachsender Ungleichheit durch eine Politik der Umverteilung in Schach zu halten. Zugleich waren die Regierungen in der Lage, mit den Mitteln keynesianischer Wirtschaftspolitik Krisen im Großen und Ganzen zu verhindern.
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Dies endete in den 1970er-Jahren.
Seitdem befinden wir uns in einer neuen Welt.
Die Stabilisatoren der Weltwirtschaft sind nicht mehr vorhanden.
Die Wachstumsraten gehen zurück, der Inflation in den 1970er Jahren folgte die Staatsverschuldung in den 1980ern, dann die Privatverschuldung, die 2008 unter ihrer eigenen Last kollabierte.
Eine Krise folgte auf die andere, und sie nahmen an Schärfe zu.
Deutschland ist zurzeit – noch – eine Insel der Seligen.
Aber im gesamten Mittelmeerraum sind heute 50 Prozent der jüngeren Generation arbeitslos, und in Frankreich immerhin 25 Prozent. Ein Wirtschaftssystem, in dem so etwas „normal“ wird, kann nicht auf sicheren Füßen stehen.
Inflation, Staatsverschuldung und die Entfesselung der privaten Kreditmärkte bei sinkendem Wachstum waren Versuche, mit immer mehr künstlichem Geld Zeit zu kaufen. Aber alle diese Lösungen verwandelten sich später wieder in Probleme.
- Inflation setzt Geld ein, das noch nicht durch Leistung gedeckt ist.
- Staatsverschuldung ist die Schaffung von Nachfrage in der Gegenwart zu Lasten künftiger Generationen.
- Eine wachsende private Verschuldung bedeutet, dass immer mehr Leute versprechen, für immer längere Zeiten ihres Lebens Arbeitsleistungen abzuliefern, um ihren vorgeschossenen Wohlstand abzuzahlen.
- Heute werden ähnliche Tricks von den Zentralbanken eingesetzt. Alles das muss, wenn die Summe der Versprechungen zu groß wird, auf Kosten des Vertrauens gehen, wie wir 2008 gesehen haben, als die Banken niemandem mehr Geld mehr leihen wollten, schon gar nicht anderen Banken.
Dem Euro unterlag die vollkommen unrealistische Idee, dass man zwischen den unterschiedlichen Wirtschaftsweisen in Europa so etwas wie einen Goldstandard einführen könne.
Die weniger wettbewerbsfähigen Länder der Eurozone können heute nicht mehr ihre Währung, sondern müssen stattdessen ihre Lebensverhältnisse abwerten.
Investoren wollen eine Rendite haben, das ist die Idee des Kapitalismus.
In den 70er Jahren begannen die Gewinne zu sinken.
1968 und 1969 hatte es weltweit eine Welle von wilden Streiks gegeben, Lohnerhöhungen und sozialpolitische Konzessionen waren an der Tagesordnung.
Die Unternehmen begannen nach Auswegen zu suchen; sie sahen sich zunehmend in der Gefahr, von Gewerkschaften und sozialdemokratischen Regierungen aus Raubtieren, wie Keynes sie genannt hat, in Milchkühe verwandelt zu werden.
Dazu hatten sie keine Lust, und das ist auch nicht die Idee in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung.
Damit beginnt der Globalisierungsprozess, unter anderem als Suche nach größeren Märkten und preiswerteren Standorten.
Im Augenblick gibt es auf die Krise keine plausiblen Antworten, auch nicht aus dem Inneren des Systems.
Alle Hoffnung ruht auf den Zentralbanken; aber keiner versteht wirklich, was die im Schilde führen. Und niemand kontrolliert es. Die Wirtschaftsregierung Europas sitzt heute in den Chefzimmern der Zentralbanken.
Man erfindet immer neue und immer gefährlichere Notbehelfe, aber irgendwann werden die Ideen ausgehen.
Bis dahin finanziert die Europäische Zentralbank die europäischen Staaten und Banken auf denkbar undurchschaubare Weise.
Draghi ist wie Monti ein früherer Goldman-Sachs-Manager. Viele sehen es besonders kritisch, dass Männer aus dem Finanzsektor diesen nun mit Geld fluten.
Es wird immer so getan, als seien Papademos, Monti, Draghi usw. vom Himmel heruntergestiegen, um nun so freundlich zu sein, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Dabei waren sie sämtlich an vorderster Front beteiligt, als er da hineingefahren wurde.
Die Märkte reagieren allerdings nervös, wenn einer wie Monti nicht mehr am Ruder ist.
Ja, natürlich, sie wollen einen von ihnen da sitzen haben, einen Mann ihres Vertrauens. Für die Kreditgeber ist von zentralem Interesse, die Politik in den Schuldnerstaaten dauerhaft so umzustellen, dass sie sicher sein können, dass sie ihr Geld zurückkriegen.
Das nennt man heute „Reformen“.
Man kann sich das als einen Verteilungskonflikt zwischen Rentnern und Rentiers vorstellen, wobei es darum geht, welche Ansprüche an die öffentlichen Kassen Vorrang haben sollen, die der Bürger oder die der Kreditgeber. Heute werden in zahlreichen Ländern die Renten gekürzt, damit die Kreditgeber sicher sein können, dass sie ihr Geld mit Zinsen zurückbekommen.
Politiker fühlen sich unter Druck, so zu tun, als hätten sie alles unter Kontrolle, selbst wenn ihnen diese schon völlig entglitten ist. Mit der „Globalisierung“ der Märkte, insbesondere der Finanzmärkte, ist der Handlungsspielraum nationalstaatlicher Politik fundamental geschrumpft.
Erste Anzeichen dafür, dass es den Politikern immer weniger gelingt, diesen Sachverhalt zu verbergen, ist die langfristig sinkende Wahlbeteiligung in allen OECD-Ländern, zuletzt zu besichtigen in Italien.
Mittlerweile hat sich wenigstens in der Politikwissenschaft herumgesprochen, dass diejenigen, die nicht mehr zur Wahl gehen, zum allergrößten Teil dieselben Menschen sind, die durch den Rost unserer liberalisierten Arbeitsmärkte und reformierten Sozialsysteme gefallen sind und fallen.
Das untere Drittel der Zweidrittelgesellschaft schert sich nicht mehr darum, wer die Wahlen gewinnt – sie ahnen, dass das für sie keinerlei Unterschied macht."
Zur Person
Wolfgang Streeck, Jahrgang 1946, ist seit 1995 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und Professor für Soziologie an der Universität zu Köln. „Mein Forschungsgebiet“, so Streeck, „liegt in der Schnittmenge zwischen Politikwissenschaft und politischer Ökonomie einerseits und Soziologie, insbesondere Wirtschaftssoziologie, andererseits.“
In diesen Tagen erscheint: Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2013, 271 S., 24,95 Euro.