Lightstorm
Diskussionsleiter
Profil anzeigen
Private Nachricht
Link kopieren
Lesezeichen setzen
dabei seit 2002
Profil anzeigen
Private Nachricht
Link kopieren
Lesezeichen setzen
"Diese Demokratie war nicht gemeint"
03.06.2004 um 09:17Interview
"Diese Demokratie war nicht gemeint"
Die korrupten arabischen Regierungen können nur mit Unterstützung des Westens existieren. Freie Wahlen aber würden Demokratien hervorbringen, die die Kontrolle ihres Öls einfordern und damit zu Gegnern der USA würden, meint der pakistanische Publizist und Filmemacher Tariq Ali in einem Interview mit Tariq Al-Arab.
Herr Ali, der Verleger und Chefredakteur von Deutschlands führendem intellektuellen Wochenblatt "Die Zeit", Dr. Josef Joffe, ist der Ansicht, die arabische Welt sei zurückgeblieben und hauptsächlich deshalb verarmt, weil sie nicht an der Globalisierung teilnehmen wolle. Teilen Sie diese Sicht?
Tariq Ali: Lassen Sie uns zur Abwechslung einmal einen Blick auf Saudi Arabien werfen: da ist die saudische Monarchie, der das Land zuerst von den Briten und dann von den Amerikanern überlassen wurde, militärisch unterstützt zunächst durch Großbritannien und schließlich durch die Vereinigten Staaten. Wie kann man die Bevölkerung der arabischen Halbinsel für die saudische Königsfamilie verantwortlich machen, die das Land führt wie ein Mafia-Clan? Diese kleinen Scheichtümer der arabischen Welt – imperiale Tankstellen – würden ohne die Unterstützung des Westens beseitigt.
Oder Ägypten: Wie viele Milliarden Dollar erhielt Mubarak, um seine reaktionäre Regierung an der Macht zu halten, nur aus dem Grund, weil sie sich mit Israel arrangiert hatte. Was können die Ägypter dafür? Spricht man mit den Menschen in Ägypten, so hört man die Forderung nach freien Wahlen. Es handelt sich um eine Marionettenregierung. Warum also zwingen die Vereinigten Staaten sie nicht zu freien Wahlen? Weil sie verlieren würden.
Samuel Huntington nennt es das "demokratische Paradoxon": Gäbe es freie Wahlen in der arabischen Welt, so würden daraus überwiegend Regierungen hervorgehen, die den Vereinigten Staaten und der Art und Weise, wie ihnen das Öl abgepumpt wird, feindlich gegenüberstehen. Was würden ihre Ideologen dazu sagen? Es gäbe Demokratie und Regierungen, die die Kontrolle über ihr eigenes Öl einfordern. Sie müssten gestürzt werden, weil dies nicht die Demokratie wäre, die gemeint war.
Das ist die Realität. Natürlich gibt es in der arabischen Welt Regime, die ihr Volk unterdrücken, und ich streite nicht ab, dass die meisten Fehler – und das wird in meinen Büchern sehr deutlich - von den arabischen Führungen selbst gemacht wurden. Es geht nicht darum, dies zu bestreiten, sondern darum, die Rolle, die erst der britische und dann der amerikanische Imperialismus in der Region spielte, zu verstehen.
Sehen Sie eine neue Form der Fremdenfeindlichkeit in Europa?
Ali: Ja, ich denke, sie existiert, und sie ist das Ergebnis einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, die die gemeinschaftliche Solidarität in der westeuropäischen Gesellschaft geschwächt hat. Die Gewerkschaften sind viel schwächer als früher, kollektives Denken und Handeln stehen permanent unter Beschuss. Großbritannien steht in dieser Hinsicht am schlechtesten da, die Menschen werden eher aufgefordert zu konsumieren. Der Bürger wird durch den Konsumenten ersetzt, was zunehmend dazu führt – und das gehört zur Struktur des modernen Kapitalismus -, dass die Menschen ein unglaublich vereinzeltes Dasein führen. Man denkt nur noch an sich.
In dieser Atmosphäre steht man allem feindlich gegenüber, was das tägliche Konsumentendasein gefährden könnte. Menschen von außerhalb werden als Kontrahenten wahrgenommen. Wir leben in einer Welt, in der politische und militärische Sanktionen gegen Länder ergriffen werden, die den freien Markt nicht akzeptieren und in der der freie Kapitalfluss das Wichtigste ist, in der jedoch der Fluss der Arbeitskraft, der ebenfalls frei sein sollte, konsequent behindert wird: "Wir werden euch ausbeuten so gut wir können, ihr aber könnt nicht hierher kommen, um hier zu arbeiten, da dies unser soziales Gefüge bedrohen würde". Darauf ist zu antworten: "Was ihr macht, schadet dem sozialen Gefüge Lateinamerikas, Afrikas und weiter Teile Asiens".
Ist die Angst vor islamistischem Terror in diesem Zusammenhang nur ein Vorwand? Würde es Vorurteile und gar Rassismus gegenüber der arabischen Welt nicht auch ohne den islamistischen Terror geben?
Ali: Seit dem Ende des Kalten Krieges suchen insbesondere die USA nach einem neuen Feindbild, um Militärausgaben und die Unterstützung der Rüstungsindustrie rechtfertigen zu können, wodurch die amerikanische Wirtschaft und Politik in großem Ausmaß geprägt ist. In dieser Situation kommt es nicht überraschend, dass der 11. September dazu benutzt wurde, ein neues Feindbild aufzubauen.
Jeder in der islamischen Welt weiß natürlich, dass es sich bei der islamistischen Terrorgruppe um Osama Bin Laden, die 3.000 bis 4.000 Personen umfasst, um einen sehr schwachen Feind handelt. Damit ist sie vielleicht dreimal größer als die Baader-Meinhof-Gruppe in Deutschland oder die Roten Brigaden in Italien.
Der einzige Weg, diesem Terror Herr zu werden, besteht in der Arbeit der Polizei. Länder zu besetzen, diese zum Feind zu erklären, die Bedrohung zu übertreiben: wem soll das letztendlich dienen? Ich sage es seit dem 11. September: Ohne dieses Ereignis hätten sie es vielleicht auch versucht, aber es wäre nicht so einfach gewesen wie jetzt, nachdem die Welt, die westliche insbesondere, den USA zeitweise absolut unkritisch gegenüberstand. Das hat sich erst durch den Irak-Krieg wieder geändert. Was bleibt, ist die Fremdenfeindlichkeit und die Stilisierung des Islam und der muslimischen Bevölkerung zu einer potentiellen Gefahr, die zwar dumm ist, die aber dennoch existiert. Daran gibt es keinen Zweifel.
Wer sind die Reformer in der arabischen Welt?
Ali: Die einzigen Reformer, die im Westen registriert werden, sind westliche Handlanger, die Reformen des Freien Markts durchsetzen sollen. Das kann ich nicht akzeptieren, und ich glaube nicht, dass sie der arabischen Welt einen guten Dienst erweisen. In Syrien und im Irak gab es unter der Diktatur der Baathisten viele Probleme, das wissen wir. Es gab aber auch Gutes: Bildung für Frauen, die Integration der Frauen in die Gesellschaft, das Gesundheitssystem, besonders im Irak – vor den Sanktionen war es das beste in der arabischen Welt.
Die Frauen in Syrien sind sehr gut gestellt, gebildet, arbeiten als Ärzte und Lehrerinnen. Geht man heute durch die Straßen von Damaskus, so sieht man zahlreiche Frauen, die keine Kopftücher, dafür aber Kleidung aller Art tragen. Wie soll man das einordnen? Ich lehne diese Stereotypen über die islamische Welt ab, jedes Land hat seine unterschiedlichen Traditionen.
Qantara.de 2004
Tariq Ali ist Schriftsteller, Journalist und Filmemacher. Er wurde 1943 in Lahore, Pakistan, geboren und studierte in Oxford Politik und Philosophie. Seitdem lebt er in England und ist Mitherausgeber der New Left Review. Auf Deutsch liegen mehrere Bücher von ihm vor, u.a. "Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung" und "Bush in Babylon".
______________________________
Jene, die alles im Reich der Materie suchen, haben ihre Intelligenz in die Augen gelegt. Und in den Dingen des Geistes ist das Auge blind. (Said Nursi)
Der Islam ist eine Lehre. Wenn jemand diese Lehre falsch auslegt, dann ist nicht der Islam dafür verantwortlich.
"Diese Demokratie war nicht gemeint"
Die korrupten arabischen Regierungen können nur mit Unterstützung des Westens existieren. Freie Wahlen aber würden Demokratien hervorbringen, die die Kontrolle ihres Öls einfordern und damit zu Gegnern der USA würden, meint der pakistanische Publizist und Filmemacher Tariq Ali in einem Interview mit Tariq Al-Arab.
Herr Ali, der Verleger und Chefredakteur von Deutschlands führendem intellektuellen Wochenblatt "Die Zeit", Dr. Josef Joffe, ist der Ansicht, die arabische Welt sei zurückgeblieben und hauptsächlich deshalb verarmt, weil sie nicht an der Globalisierung teilnehmen wolle. Teilen Sie diese Sicht?
Tariq Ali: Lassen Sie uns zur Abwechslung einmal einen Blick auf Saudi Arabien werfen: da ist die saudische Monarchie, der das Land zuerst von den Briten und dann von den Amerikanern überlassen wurde, militärisch unterstützt zunächst durch Großbritannien und schließlich durch die Vereinigten Staaten. Wie kann man die Bevölkerung der arabischen Halbinsel für die saudische Königsfamilie verantwortlich machen, die das Land führt wie ein Mafia-Clan? Diese kleinen Scheichtümer der arabischen Welt – imperiale Tankstellen – würden ohne die Unterstützung des Westens beseitigt.
Oder Ägypten: Wie viele Milliarden Dollar erhielt Mubarak, um seine reaktionäre Regierung an der Macht zu halten, nur aus dem Grund, weil sie sich mit Israel arrangiert hatte. Was können die Ägypter dafür? Spricht man mit den Menschen in Ägypten, so hört man die Forderung nach freien Wahlen. Es handelt sich um eine Marionettenregierung. Warum also zwingen die Vereinigten Staaten sie nicht zu freien Wahlen? Weil sie verlieren würden.
Samuel Huntington nennt es das "demokratische Paradoxon": Gäbe es freie Wahlen in der arabischen Welt, so würden daraus überwiegend Regierungen hervorgehen, die den Vereinigten Staaten und der Art und Weise, wie ihnen das Öl abgepumpt wird, feindlich gegenüberstehen. Was würden ihre Ideologen dazu sagen? Es gäbe Demokratie und Regierungen, die die Kontrolle über ihr eigenes Öl einfordern. Sie müssten gestürzt werden, weil dies nicht die Demokratie wäre, die gemeint war.
Das ist die Realität. Natürlich gibt es in der arabischen Welt Regime, die ihr Volk unterdrücken, und ich streite nicht ab, dass die meisten Fehler – und das wird in meinen Büchern sehr deutlich - von den arabischen Führungen selbst gemacht wurden. Es geht nicht darum, dies zu bestreiten, sondern darum, die Rolle, die erst der britische und dann der amerikanische Imperialismus in der Region spielte, zu verstehen.
Sehen Sie eine neue Form der Fremdenfeindlichkeit in Europa?
Ali: Ja, ich denke, sie existiert, und sie ist das Ergebnis einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, die die gemeinschaftliche Solidarität in der westeuropäischen Gesellschaft geschwächt hat. Die Gewerkschaften sind viel schwächer als früher, kollektives Denken und Handeln stehen permanent unter Beschuss. Großbritannien steht in dieser Hinsicht am schlechtesten da, die Menschen werden eher aufgefordert zu konsumieren. Der Bürger wird durch den Konsumenten ersetzt, was zunehmend dazu führt – und das gehört zur Struktur des modernen Kapitalismus -, dass die Menschen ein unglaublich vereinzeltes Dasein führen. Man denkt nur noch an sich.
In dieser Atmosphäre steht man allem feindlich gegenüber, was das tägliche Konsumentendasein gefährden könnte. Menschen von außerhalb werden als Kontrahenten wahrgenommen. Wir leben in einer Welt, in der politische und militärische Sanktionen gegen Länder ergriffen werden, die den freien Markt nicht akzeptieren und in der der freie Kapitalfluss das Wichtigste ist, in der jedoch der Fluss der Arbeitskraft, der ebenfalls frei sein sollte, konsequent behindert wird: "Wir werden euch ausbeuten so gut wir können, ihr aber könnt nicht hierher kommen, um hier zu arbeiten, da dies unser soziales Gefüge bedrohen würde". Darauf ist zu antworten: "Was ihr macht, schadet dem sozialen Gefüge Lateinamerikas, Afrikas und weiter Teile Asiens".
Ist die Angst vor islamistischem Terror in diesem Zusammenhang nur ein Vorwand? Würde es Vorurteile und gar Rassismus gegenüber der arabischen Welt nicht auch ohne den islamistischen Terror geben?
Ali: Seit dem Ende des Kalten Krieges suchen insbesondere die USA nach einem neuen Feindbild, um Militärausgaben und die Unterstützung der Rüstungsindustrie rechtfertigen zu können, wodurch die amerikanische Wirtschaft und Politik in großem Ausmaß geprägt ist. In dieser Situation kommt es nicht überraschend, dass der 11. September dazu benutzt wurde, ein neues Feindbild aufzubauen.
Jeder in der islamischen Welt weiß natürlich, dass es sich bei der islamistischen Terrorgruppe um Osama Bin Laden, die 3.000 bis 4.000 Personen umfasst, um einen sehr schwachen Feind handelt. Damit ist sie vielleicht dreimal größer als die Baader-Meinhof-Gruppe in Deutschland oder die Roten Brigaden in Italien.
Der einzige Weg, diesem Terror Herr zu werden, besteht in der Arbeit der Polizei. Länder zu besetzen, diese zum Feind zu erklären, die Bedrohung zu übertreiben: wem soll das letztendlich dienen? Ich sage es seit dem 11. September: Ohne dieses Ereignis hätten sie es vielleicht auch versucht, aber es wäre nicht so einfach gewesen wie jetzt, nachdem die Welt, die westliche insbesondere, den USA zeitweise absolut unkritisch gegenüberstand. Das hat sich erst durch den Irak-Krieg wieder geändert. Was bleibt, ist die Fremdenfeindlichkeit und die Stilisierung des Islam und der muslimischen Bevölkerung zu einer potentiellen Gefahr, die zwar dumm ist, die aber dennoch existiert. Daran gibt es keinen Zweifel.
Wer sind die Reformer in der arabischen Welt?
Ali: Die einzigen Reformer, die im Westen registriert werden, sind westliche Handlanger, die Reformen des Freien Markts durchsetzen sollen. Das kann ich nicht akzeptieren, und ich glaube nicht, dass sie der arabischen Welt einen guten Dienst erweisen. In Syrien und im Irak gab es unter der Diktatur der Baathisten viele Probleme, das wissen wir. Es gab aber auch Gutes: Bildung für Frauen, die Integration der Frauen in die Gesellschaft, das Gesundheitssystem, besonders im Irak – vor den Sanktionen war es das beste in der arabischen Welt.
Die Frauen in Syrien sind sehr gut gestellt, gebildet, arbeiten als Ärzte und Lehrerinnen. Geht man heute durch die Straßen von Damaskus, so sieht man zahlreiche Frauen, die keine Kopftücher, dafür aber Kleidung aller Art tragen. Wie soll man das einordnen? Ich lehne diese Stereotypen über die islamische Welt ab, jedes Land hat seine unterschiedlichen Traditionen.
Qantara.de 2004
Tariq Ali ist Schriftsteller, Journalist und Filmemacher. Er wurde 1943 in Lahore, Pakistan, geboren und studierte in Oxford Politik und Philosophie. Seitdem lebt er in England und ist Mitherausgeber der New Left Review. Auf Deutsch liegen mehrere Bücher von ihm vor, u.a. "Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung" und "Bush in Babylon".
______________________________
Jene, die alles im Reich der Materie suchen, haben ihre Intelligenz in die Augen gelegt. Und in den Dingen des Geistes ist das Auge blind. (Said Nursi)
Der Islam ist eine Lehre. Wenn jemand diese Lehre falsch auslegt, dann ist nicht der Islam dafür verantwortlich.