Schockierend: Komasaufen ist bei Jugendlichen "in"
20.06.2008 um 08:03DER SPIEGEL 32/1954 vom 04.08.1954, Seite 32
KINDER-ALKOHOLISMUS / MEDIZIN
Kognak vor der Schule
Im Wartezimmer eines Pariser Arztes sitzt der siebenjährige Pierre, ein hübscher, kräftiger und frühreifer Junge. Pierre, der aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammt, war nach Darstellung seiner Mutter in letzter Zeit "so merkwürdig nervös und aufgeregt".
Der Arzt ruft den Jungen, der in einem Kinderbuch blättert, ins Ordinationszimmer. Pierre rührt sich nicht. Als die Aufforderung wiederholt wird, fährt das Bürschchen wütend auf: "Sehen Sie denn nicht, daß ich beschäftigt bin?" Das Blut schießt ihm ins Gesicht, die Augen röten sich. Er stürzt auf den Arzt zu, kratzt und beißt, packt einen Stuhl und schlägt ihn mit einem kräftigen Hieb gegen die Wand.
Der Arzt beruhigt die empörte Mutter und bewahrt Pierre vor einer Tracht Prügel. Dann wählt er die Nummer "Gobelin 7824". Es meldet sich die Psychiaterin Dr. Suzanne Serin, französische Delegierte beim Sozialausschuß der Vereinten Nationen, eine Kinder-Psychologin von internationalem Ruf.
Dr. Serin, eine rundliche, gemütvolle Dame Mitte der Fünfzig, lädt Pierre und seine Mutter zu einem Test-Stündchen ein. Pierre findet die Ärztin ulkig, zeigt aber wenig Lust, ihre "vielen dummen Fragen" zu beantworten. Man bittet ihn, ein Familienbild zu zeichnen. Pierre entwirft mürrisch zwei tonnenartige Gebilde, die Vater und Mutter darstellen sollen. "Und deine Großeltern?", fragt freundlich die Ärztin. Wieder wird das Bürschchen wütend: "Vielleicht sonst noch was? Vielleicht meine Urgroßeltern und meine Vorfahren bis zu den Galliern?"
Sie versucht es mit einem klassischen Satz nach der Test-Methode Louisa Düss: "Dieser kleine Junge hat Angst. Wovor hat er Angst?" Da springt der Knirps auf und fuchtelt erregt mit den Armen: "Hören Sie doch auf, es ist entsetzlich."
Endlich gibt er zu: Ja, er habe Angst, schrecklich Angst. "Jeden Abend sehe ich in meinem Zimmer Flügel; nein, Hände sind es, so weißliche Dinger, die auf der Kommode herumtanzen." Dr. Serin erkundigt sich beiläufig bei der Mutter, was der Junge normalerweise zu trinken bekomme. "Nichts Besonderes", erklärt die Mutter. "Bei Tisch natürlich Wein, etwa einen Liter pro Tag. Abends, wenn er so nervös ist, bekommt er dann noch ein Glas Portwein mit zwei geschlagenen Eigelb."
Jetzt bereitet der Ärztin die Diagnose der "Nervosität" des kleinen Pierre keine Schwierigkeiten mehr: akuter Alkoholismus. Der Fall Pierre gibt ihr den Schlüssel für eine Reihe weiterer Fälle von Kinder-Alkoholismus, die sie bisher nicht erkannt hatte, weil ihr die Frage "Was trinkt er?" nicht in den Sinn gekommen war.
Für Dr. Suzanne Serin, die sich mit Reihenuntersuchungen über "Ursachen des Selbstmordes" (fast die Hälfte der von ihr überprüften Selbstmordfälle ließen sich auf schweren Alkoholismus zurückführen) und über "Alkoholismus in mondänen Kreisen" einen in Fachkreisen respektvoll zitierten Namen gemacht hatte, war der Fall Pierre Anstoß zu einer sorgfältigen Untersuchung des Phänomens "kindlicher Säuferwahn".
Anfang Juli legte sie das Ergebnis der Pariser Medizinischen Akademie in einem Bericht vor. Er stützt sich auf die Erhebungen der Gesundheitsbehörden der französischen Wein-Departements. Er war so niederschmetternd, daß den würdigen Grauköpfen der höchsten medizinischen Institution Frankreichs bei der Lektüre das plötzlich erwachte soziale Gewissen schlug.
Aus La Roche-sur-Yon zitierte Dr. Serin den Fall eines zweijährigen Kindes, dem man Pernod gegen Würmer eingegeben hatte. Ein 19 Monate alter Junge starb dort nach einer 48stündigen Pernod-Behandlung an "delirium tremens". In der Vendee traf eine Beauftragte der Sozialbehörde auf einem Bauernhof zwei Kinder im Alter von zwei und vier Jahren an, deren Gesichter rot angelaufen waren. Sie stießen durchdringende Schreie aus und erweckten den Eindruck sinnloser Trunkenheit. "Gestern war doch Kommunion", entschuldigte sich die Mutter, "da haben sie ein wenig mehr triple-sec getrunken als gewöhnlich."
Der Beauftragte der staatlichen Gesundheitsbehörde im Departement Vendee schrieb dazu:
"Es ist üblich, daß die Kinder in ihrem Schulranzen einen halben Liter Wein für die Mittagsmahlzeit mitbringen. Wenn sie einen langen Schulweg haben, trinken sie zur Stärkung vorher einen Kognak. Die Lehrer haben vergeblich versucht, den Wein durch Milch zu ersetzen. Schließlich erfanden sie einen Vorwand: Sie verboten den Kindern das Mitbringen der Weinflaschen, weil sie leicht zerbrechen und Schnittwunden verursachen könnten. Zu Hause greifen die Kinder wie die Erwachsenen zur Flasche. Am Sonntagabend sitzen sie in den Dorf-Bistros und trinken bis zu sechs Gläsern Wein."
In den Departements Dordogne, Mayenne und Lot-et-Garonne beträgt die tägliche Weinration der Schulkinder nach den Feststellungen Dr. Serins einen halben Liter. Dreijährige Kinder trinken zu den Mahlzeiten die gleiche Weinmenge wie die Erwachsenen.
Aus ihrer bisher noch unvollständigen Enquete über Frankreichs vom Alkoholteufel besessenen Nachwuchs (verschiedene Departements widersetzten sich nach dem Bekanntwerden des Unternehmens weiteren Nachforschungen) zieht die Pariser Ärztin den Schluß, daß den Eltern die Größe der Gefahr einer systematischen Alkoholisierung ihrer Kinder überhaupt nicht bewußt ist.
"Der Kinder-Alkoholismus hat in Frankreich ein Ausmaß erreicht, das für die Volksgesundheit katastrophale Folgen haben kann", warnt sie. "Wir müssen etwas tun. Wir müssen die unwissenden und in den meisten Fällen gutgläubig handelnden Eltern daran hindern, ihre Kinder weiter mit Alkohol zu vergiften."
Aus ihrer eigenen Praxis konnte sie drei Fälle von Kinder-Alkoholismus zitieren, die durch die Eltern verschuldet worden waren:
* Lucien, 5 Jahre, schmächtig und kränklich, litt an Schlaflosigkeit und Erregungszuständen. Lucien ist als Sohn reicher Eltern sehr verwöhnt. Sein Vater sagt: "Wasser verbreitet die Kinderlähmung. Mein Sohn trinkt Wein."
* Yvonne, 3 Jahre, macht den Eltern wegen ihrer häufigen Zornausbrüche große Sorgen. Sie ist leicht erregbar. Nachts hat sie große Angst und weigert sich, ins Bett zu gehen, weil es "voller Kröten und dicker Fische ist". Yvonne trinkt zu den Mahlzeiten nur Wein.
* Maurice, 12 Jahre, leicht schwachsinnig, übererregbar, Stotterer, trinkt regelmäßig reinen Wein in großen Mengen, hin und wieder auch Apéritifs. Er befindet sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium.
Im französischen Gesundheitsministerium werden jetzt Pläne für einen großangelegten Propagandafeldzug gegen den "Kinder-Alkoholismus" entworfen. Sie sehen vor:
* Ein striktes Verbot, in Schulkantinen Rotwein zu trinken.
* Eine Aufklärungs-Kampagne in den Schulen über die gesundheitsschädigende Wirkung alkoholischer Getränke.
* Verteilung von Aufklärungsschriften bei Ehetauglichkeits- und Schwangerschaftsuntersuchungen.
* Anti-Alkohol-Kurse für Angestellte der Sozialämter.
Der rührigen Dr. Suzanne Serin, die für ihre sozialen Verdienste bereits vor Jahren das Band der Ehrenlegion erhielt, versicherten wohlmeinende Freunde, daß ihr Akademiebericht die Anwartschaft auf Titel und Rang eines Offiziers der Ehrenlegion garantiere.
DER SPIEGEL 32/1954
KINDER-ALKOHOLISMUS / MEDIZIN
Kognak vor der Schule
Im Wartezimmer eines Pariser Arztes sitzt der siebenjährige Pierre, ein hübscher, kräftiger und frühreifer Junge. Pierre, der aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammt, war nach Darstellung seiner Mutter in letzter Zeit "so merkwürdig nervös und aufgeregt".
Der Arzt ruft den Jungen, der in einem Kinderbuch blättert, ins Ordinationszimmer. Pierre rührt sich nicht. Als die Aufforderung wiederholt wird, fährt das Bürschchen wütend auf: "Sehen Sie denn nicht, daß ich beschäftigt bin?" Das Blut schießt ihm ins Gesicht, die Augen röten sich. Er stürzt auf den Arzt zu, kratzt und beißt, packt einen Stuhl und schlägt ihn mit einem kräftigen Hieb gegen die Wand.
Der Arzt beruhigt die empörte Mutter und bewahrt Pierre vor einer Tracht Prügel. Dann wählt er die Nummer "Gobelin 7824". Es meldet sich die Psychiaterin Dr. Suzanne Serin, französische Delegierte beim Sozialausschuß der Vereinten Nationen, eine Kinder-Psychologin von internationalem Ruf.
Dr. Serin, eine rundliche, gemütvolle Dame Mitte der Fünfzig, lädt Pierre und seine Mutter zu einem Test-Stündchen ein. Pierre findet die Ärztin ulkig, zeigt aber wenig Lust, ihre "vielen dummen Fragen" zu beantworten. Man bittet ihn, ein Familienbild zu zeichnen. Pierre entwirft mürrisch zwei tonnenartige Gebilde, die Vater und Mutter darstellen sollen. "Und deine Großeltern?", fragt freundlich die Ärztin. Wieder wird das Bürschchen wütend: "Vielleicht sonst noch was? Vielleicht meine Urgroßeltern und meine Vorfahren bis zu den Galliern?"
Sie versucht es mit einem klassischen Satz nach der Test-Methode Louisa Düss: "Dieser kleine Junge hat Angst. Wovor hat er Angst?" Da springt der Knirps auf und fuchtelt erregt mit den Armen: "Hören Sie doch auf, es ist entsetzlich."
Endlich gibt er zu: Ja, er habe Angst, schrecklich Angst. "Jeden Abend sehe ich in meinem Zimmer Flügel; nein, Hände sind es, so weißliche Dinger, die auf der Kommode herumtanzen." Dr. Serin erkundigt sich beiläufig bei der Mutter, was der Junge normalerweise zu trinken bekomme. "Nichts Besonderes", erklärt die Mutter. "Bei Tisch natürlich Wein, etwa einen Liter pro Tag. Abends, wenn er so nervös ist, bekommt er dann noch ein Glas Portwein mit zwei geschlagenen Eigelb."
Jetzt bereitet der Ärztin die Diagnose der "Nervosität" des kleinen Pierre keine Schwierigkeiten mehr: akuter Alkoholismus. Der Fall Pierre gibt ihr den Schlüssel für eine Reihe weiterer Fälle von Kinder-Alkoholismus, die sie bisher nicht erkannt hatte, weil ihr die Frage "Was trinkt er?" nicht in den Sinn gekommen war.
Für Dr. Suzanne Serin, die sich mit Reihenuntersuchungen über "Ursachen des Selbstmordes" (fast die Hälfte der von ihr überprüften Selbstmordfälle ließen sich auf schweren Alkoholismus zurückführen) und über "Alkoholismus in mondänen Kreisen" einen in Fachkreisen respektvoll zitierten Namen gemacht hatte, war der Fall Pierre Anstoß zu einer sorgfältigen Untersuchung des Phänomens "kindlicher Säuferwahn".
Anfang Juli legte sie das Ergebnis der Pariser Medizinischen Akademie in einem Bericht vor. Er stützt sich auf die Erhebungen der Gesundheitsbehörden der französischen Wein-Departements. Er war so niederschmetternd, daß den würdigen Grauköpfen der höchsten medizinischen Institution Frankreichs bei der Lektüre das plötzlich erwachte soziale Gewissen schlug.
Aus La Roche-sur-Yon zitierte Dr. Serin den Fall eines zweijährigen Kindes, dem man Pernod gegen Würmer eingegeben hatte. Ein 19 Monate alter Junge starb dort nach einer 48stündigen Pernod-Behandlung an "delirium tremens". In der Vendee traf eine Beauftragte der Sozialbehörde auf einem Bauernhof zwei Kinder im Alter von zwei und vier Jahren an, deren Gesichter rot angelaufen waren. Sie stießen durchdringende Schreie aus und erweckten den Eindruck sinnloser Trunkenheit. "Gestern war doch Kommunion", entschuldigte sich die Mutter, "da haben sie ein wenig mehr triple-sec getrunken als gewöhnlich."
Der Beauftragte der staatlichen Gesundheitsbehörde im Departement Vendee schrieb dazu:
"Es ist üblich, daß die Kinder in ihrem Schulranzen einen halben Liter Wein für die Mittagsmahlzeit mitbringen. Wenn sie einen langen Schulweg haben, trinken sie zur Stärkung vorher einen Kognak. Die Lehrer haben vergeblich versucht, den Wein durch Milch zu ersetzen. Schließlich erfanden sie einen Vorwand: Sie verboten den Kindern das Mitbringen der Weinflaschen, weil sie leicht zerbrechen und Schnittwunden verursachen könnten. Zu Hause greifen die Kinder wie die Erwachsenen zur Flasche. Am Sonntagabend sitzen sie in den Dorf-Bistros und trinken bis zu sechs Gläsern Wein."
In den Departements Dordogne, Mayenne und Lot-et-Garonne beträgt die tägliche Weinration der Schulkinder nach den Feststellungen Dr. Serins einen halben Liter. Dreijährige Kinder trinken zu den Mahlzeiten die gleiche Weinmenge wie die Erwachsenen.
Aus ihrer bisher noch unvollständigen Enquete über Frankreichs vom Alkoholteufel besessenen Nachwuchs (verschiedene Departements widersetzten sich nach dem Bekanntwerden des Unternehmens weiteren Nachforschungen) zieht die Pariser Ärztin den Schluß, daß den Eltern die Größe der Gefahr einer systematischen Alkoholisierung ihrer Kinder überhaupt nicht bewußt ist.
"Der Kinder-Alkoholismus hat in Frankreich ein Ausmaß erreicht, das für die Volksgesundheit katastrophale Folgen haben kann", warnt sie. "Wir müssen etwas tun. Wir müssen die unwissenden und in den meisten Fällen gutgläubig handelnden Eltern daran hindern, ihre Kinder weiter mit Alkohol zu vergiften."
Aus ihrer eigenen Praxis konnte sie drei Fälle von Kinder-Alkoholismus zitieren, die durch die Eltern verschuldet worden waren:
* Lucien, 5 Jahre, schmächtig und kränklich, litt an Schlaflosigkeit und Erregungszuständen. Lucien ist als Sohn reicher Eltern sehr verwöhnt. Sein Vater sagt: "Wasser verbreitet die Kinderlähmung. Mein Sohn trinkt Wein."
* Yvonne, 3 Jahre, macht den Eltern wegen ihrer häufigen Zornausbrüche große Sorgen. Sie ist leicht erregbar. Nachts hat sie große Angst und weigert sich, ins Bett zu gehen, weil es "voller Kröten und dicker Fische ist". Yvonne trinkt zu den Mahlzeiten nur Wein.
* Maurice, 12 Jahre, leicht schwachsinnig, übererregbar, Stotterer, trinkt regelmäßig reinen Wein in großen Mengen, hin und wieder auch Apéritifs. Er befindet sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium.
Im französischen Gesundheitsministerium werden jetzt Pläne für einen großangelegten Propagandafeldzug gegen den "Kinder-Alkoholismus" entworfen. Sie sehen vor:
* Ein striktes Verbot, in Schulkantinen Rotwein zu trinken.
* Eine Aufklärungs-Kampagne in den Schulen über die gesundheitsschädigende Wirkung alkoholischer Getränke.
* Verteilung von Aufklärungsschriften bei Ehetauglichkeits- und Schwangerschaftsuntersuchungen.
* Anti-Alkohol-Kurse für Angestellte der Sozialämter.
Der rührigen Dr. Suzanne Serin, die für ihre sozialen Verdienste bereits vor Jahren das Band der Ehrenlegion erhielt, versicherten wohlmeinende Freunde, daß ihr Akademiebericht die Anwartschaft auf Titel und Rang eines Offiziers der Ehrenlegion garantiere.
DER SPIEGEL 32/1954