ExilHarzer schrieb
ExilHarzer schrieb am 01.05.2022:In Ritterhude lässt der Bahnhofsvorsteher den schwerstverletzten nicht etwa aus dem Zug holen und ins nächste Krankenhaus transportieren, nein es wird ein Krankenwagen nach Bremerhaven bestellt und das Opfer muss solange weiter im Zug bleiben. Wäre er rechtzeitig medizinisch versorgt worden könnte er eventuell noch leben.
-In Bremerhaven wird Wolters in den Krankenwagen verbracht und stirbt später.
Die Strecke von Ritterhude nach Bremerhaven beträgt nach meiner Google App ca 49 (Strassenkilometer), die Bahnfahrt dauert heute 33 Minuten laut der App "DB Navigator".
Damit wäre natürlich aus der heutigen Sicht der Dinge, die Entscheidung des Zugführers schlicht und ergreifend eine völlig untragbar "katastrophale Fehlentscheidung". Da wär ich wohl einer der Ersten, der hier fordern würde, den Zugführer mindestens wegen Unterlassener Hilfeleistung anzuklagen.
Doch passierte dieser Mord nicht heute 2022 und auch nicht in den 80 zigern sondern 1971. Da sahen viele Dinge noch ganz anders aus.
In allen, oder fast allen Bundesländern wurde zu der Zeit gerade an der Erstellung eines "Rettungsdienstgesetzes" herum gewerkelt.
So existierte noch kein "flächendeckendes System" von Rettungswachen wie wir es kennen. Prinzipiell waren bundesweit zwar bereits "Rettungswachen" (bzw. was man damals darunter verstand) vorhanden, die von unterschiedlichen Trägern unterhalten und betrieben wurden. In vielen Landkreisen waren diese "Krankenwagen" an einer zentralen Stelle (oft die Geschäftsstelle des Betreibers) stationiert und rückten von dort aus.
Die vorhandenen Rettungswachen, die von verschiedenen Betreibern unterhalten wurden, verfügten dazu oft über einen recht beschränkten Fuhrpark, der in der Nacht noch geringer ausfiel, da lange nicht alle dieser wenigen Fahrzeuge bei Tag und Nacht besetzt waren. Selbst am Tage konnten daher in vielen Fällen eingehende Notfälle nur "nach einander" durchgeführt werden.
Damit dürfte klar sein, dass es oft 30 und mehr Minuten dauern konnte, bis ein solches Fahrzeug bei einem Einsatz vor Ort war. "Vorgegebene Hilfsfristen", wie wir Die kennen, waren damals noch ein Fremdwort.
Da es auch noch keine zentralen Leitstellen gab, war auch das erreichen dieser Rettungswachen oft schwierig. Einheitliche Telefonnummern gab es natürlich auch nicht. Am Tag, wenn diese Geschäftsstellen besetzt waren, mag dies noch einigermaßen funktioniert haben. Doch in der Nacht, wenn die besetzten Wagen unterwegs waren, war dies oft nicht gewährleistet.
Ausserdem fehlte noch zu allem Unglück ein gut ausgebautes Funknetz, sodass man die Fahrzeuge kaum koordinieren oder auch einmal umdisponieren konnte.
Unter diesen Voraussetzungen erscheint die Entscheidung des Zugführers schon unter einem ganz anderen Licht.
Wissen muss man auch noch, diese damaligen "Krankenwagen" waren reine Transportfahrzeuge. Da wurde vor Ort nichts behandelt oder untersucht, sondern so schnell als möglich der Patient verladen und in das nächste Krankenhaus gefahren. Mag natürlich sein, dass blutende Wunde verbunden wurden, aber das war es dann im Großen und Ganzen auch. Bitte lasst uns nun nicht darüber streiten, wie weit diese "Minimalversorgung vor Ort" ging, denn auch das dürfte von Ort zu Ort von Quelle zu Quelle unterschiedlich ausgefallen sein.
Wenn man das alles also bedenkt, sich vorstellt, dann kann man die Entscheidung des Zugführers wohl eher nach voll ziehen.
Gut möglich, das ist selbstverständlich eine Spekulation, dass der sogar wusste, oder zumindest ahnte, dass in Ritterhude die Wartezeit auf so einen Krankenwagen genau so lange dauert, wie der Zug nach Bremerhaven braucht, wo dann wahrscheinlich dieses Fahrzeug bereits vor Ort ist. Auch möglich, dass er die Wunden unterschätzte, oder aber auch, dass er wegen der schwere der Verletzungen zu dem Schluss kam, eine Klinik in Bremerhaven könnte da wohlmöglich besser für den Verletzten sein.
Nachzutragen bleibt, dass es zu diesem Zeitpunkt noch keine Rettungswagen oder Notarztwagen gab, dazu keine Notärzte. Lediglich in ganz großen Städten (bekannt ist mir München und Frankfurt, eventuell denkbar ist auch West Berlin oder vielleicht auch Hamburg) wurde bereits sehr früh an einer Verbesserung dieser Zustände herum getüfftelt. Was etwas später zu der Einführung der "Notarztwagen" führte.
Das alles führte unter anderem zur Gründung der Björn Steiger Stiftung. Damals zunächst ein wichtiger Sponsor für Rettungsfahrzeuge, den Aufbau von Notrufsäulen auch an viel befahrenen Landstrassen, heute eine wichtige Säule in der Luftrettung durch Seine Rettungshubschrauberstandorte.
Wer das alles nachlesen möchte, kann dies in den digital abruf aren Zeitschriften "ZS - Magazin" des BBK tun.
Viele Infos zur Björn Steiger Stiftung findet man bei Interesse auch im Netz.