Singer vertritt, dass in der dinglichen Welt »deterministische Gesetze«(36) herrschen. »Dass wir, was tierische Gehirne betrifft, keinen Anlass haben, zu bezweifeln, dass alles Verhalten auf Hirnfunktionen beruht und somit den deterministischen Gesetzen physiko-chemischer Prozesse unterworfen ist«,(37) das ist für ihn so selbstverständlich, dass darüber gar nicht diskutiert werden braucht. Es sind aber schon auf dieser Ebene Einwände zu formulieren (was in der Debatte nicht explizit gemacht wird.). »Deterministische« Vorgänge (also solche, bei denen aus den Bedingungen die Folgen mit 100-prozentiger Sicherheit vorhersagbar sind) sind auch in der Natur die Ausnahme. »Deterministisch« fällt ein Körper im (mühsam hergestellten) Vakuum. In der vorgefundenen Realität kommen immer »Störungen« dazwischen, sozusagen der Einfluss der vorgefundenen Welt. »Deterministisch« ist das Uhrwerk, das unter denkbarer Präzision hergestellt ist. »Deterministisch« ist jedoch nicht einmal der Computer, dieses Produkt von deterministisch-digitaler Mathematik und möglichst reinen Materialien. Er erweist sich als lebendiger Quasiorganismus mit großen Schwankungen, die nicht nachvollziehbar sind, und überraschend-eigenständigen Veränderungen – auch unterhalb der Schwelle des gefürchteten »Absturzes«. Ich habe mir von Computerspezialisten sagen lassen, dass es nicht möglich ist, fehlerfrei arbeitende Computer zu bauen, und zwar grundsätzlich nicht.
Statistische Methoden sind längst in den Biowissenschaften (in den Sozialwissenschaften sowieso) üblich, und sie müssen sogar in Zweigen der Physik (z. B. Kalorik) angewendet werden. »Deterministisch« ist die Mathematik beziehungsweise sind bestimmte Zweige davon. Wird sie auf »die Realität« angewendet, dann verderben Beimengungen aus der platten Wirklichkeit (»Störvariable«) das reine Spiel. Die Mathematik reagiert darauf, indem sie längst statistische Methoden und deren Weiterentwicklung, die Chaos-Forschung, entwickelt hat. Sie kommt ohne den Begriff des Zufälligen nicht aus, sie hat sich zur Fragestellung gemacht, wie sich aus Zufälligem Gesetzmäßiges entwickelt. In der formalen Logik gibt es einen neuen Zweig, die »fuzzy logic«, die nicht mit Entweder-oder-(Wahrheits-)Werten, sondern mit ungefähren Annäherungen arbeitet. Die Naturwissenschaften greifen diese Entwicklungen auf und profitieren davon.
Der Einwand: Zufälliges gibt es nur, solange wir nicht alles gesetzmäßig Zugrundeliegende kennen. Das Zufällige sei nur unserer (vorläufigen) Unkenntnis geschuldet. Der Zufall verschwinde sozusagen, für denjenigen, der alle Gesetzmäßigkeiten und Ausgangsbedingungen kenne. Bekanntlich wurde dieser Alleskenner von dem Physiker Laplace erfunden, als er es unternahm, das Funktionieren der Welt als eine große Maschine zu erklären, um aufklärerisch »Gott« aus dem Spiel lassen zu können. Er benötigte in diesem Zusammenhang den alle Ausgangsbedingungen kennenden Geist, der dann auch nach ihm benannt wurde (»Laplacescher Weltgeist«). »Zufällig« sind in diesem Denken – und es ist noch weit verbreitet – Ereignisse nur, solange nicht alle gesetzmäßigen Verknüpfungen und Ausgangsbedingungen bekannt sind. – Seitdem gibt es eine Debatte darüber.(38) Die Physik hat – seit ihren modernen Übervätern Planck und Heisenberg – davon Abstand genommen.(39) Weder Roth noch Singer beziehen sich in der Debatte darauf. Das befremdet, bei der ausführlichen Darstellung ihrer Positionen in einem Heft der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (2/04).
Ist es schon im konstruierten Experiment nicht möglich, ohne den Begriff des Zufalls auszukommen, so erst recht nicht, wenn es um die Darstellung, (Deutung, Erklärung …) von Entwicklung geht, und zwar auch im natürlichen Bereich. Ohne dass die vorgefundenen (also gegenüber den sich Entwickelnden zufälligen) Bedingungen einbezogen werden, ist das Nachvollziehen und Erklären der Entwicklung einer Tierart oder eines einzelnen Tieres gar nicht möglich. Daran scheitern auch die Hoffnungen von »Eugenik«(40), der gentechnischen Beeinflussung der Entwicklung von menschlichen Individuen.(41) In der Biologie gibt es den Begriff des »Driftens« für einen Prozess, in dem sich über eine lange Frist und die vielen Zufälligkeiten der Zwischenzustände eine Tendenz ausbildet, sodass dann zum Beispiel eine neue Pflanzen- oder Tierart entstehen kann.
Es kann der Einwand vorgebracht werden, bei der historischen Entwicklung und entsprechend der historischen Forschungsmethode komme man nicht ohne den Zufall aus, nicht aber bei der Erforschung des systematisch-gesetzmäßigen und der experimentellen Methode. Was aber im Experiment (systematisch, nichthistorisch) untersucht wird, hat selbst seine Entwicklung, seine Geschichte; es hat sich entwickelt unter vorgefundenen (also zufälligen) Bedingungen. Nicht nur die einzelnen Substanzen oder Objekte, die in das Experiment eingehen, haben ihre Geschichte, auch die Gesetzmäßigkeiten, die an sie gebunden sind. Mutation und Variation, Adaptation und Selektion (um nur einige Beispiele zu nennen) als Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der Arten sind ohne die Organismen, auf die sie bezogen sind, nicht denkbar. Diese Gesetzmäßigkeiten von den biologischen Wesen, auf die sie sich beziehen, loslösen und ihnen eine unabhängige Existenz zusprechen, sind auch eine Art Dualismus; Dualismus deswegen, weil er eine eigenständige Existenz der Naturgesetze voraussetzt – außerhalb von den dinglichen, historisch entstandenen Wesen dieser Welt.
Nicht einmal das Wetter, ein vergleichsweise unhistorischer und unbiologischer Gegenstand, ereignet sich »deterministisch«. Die Wettervorhersage hat klugerweise darauf reagiert, indem sie ihre Vorhersage statistisch-wahrscheinlichkeitsmäßig formuliert (»Regenwahrscheinlichkeit 60 % ...«). Selten kann man in der Presse lesen, dass zeitgeschichtliche Vorhersagen der Wissenschaft nachgeprüft werden, und wenn, dann häufig genug mit negativem Ergebnis. Die pessimistischen Vorhersagen des Club of Rome sind (zum Glück) nicht so eingetreten, und das sicher nicht ausschließlich aus dem Grund, dass sie praktische Konsequenzen hatten, die ihre Vorhersagen in Teilbereichen zu »selbstwiderlegenden Prophezeiungen« machten. – Die psychometrisch orientierte Testpsychologie ist scharf darauf, hohe Korrelationen zwischen Testwerten und Indikatoren von Leistung und so weiter, die in der Zukunft liegen, zu erhalten. Schon mittelhohe Korrelationskoeffizienten (statistischer Kennwert der Vorhersagegenauigkeit) sind für sie ein gutes Ergebnis, und häufig muss sie sich begnügen mit »signifikanten« Korrelationen. Diese aber hängen ab von der Stichprobengröße, eine sehr niedrige Korrelation kann schon »signifikant« sein, wenn die Stichprobe nur groß genug ist. Das wird häufig in der journalistisch-populären und auch manchmal in der wissenschaftlichen Wiedergabe von Forschungsergebnissen nicht mitgeteilt.
Freilich gibt es im Vergleich von Ereignisreihen und ihren Zusammenhängen große Unterschiede in der (mathematisch-)deterministischen Beschreibbarkeit und Vorhersagbarkeit. In bestimmten Bereichen gibt es deterministische Vorhersagbarkeit; aber werden diese Bereiche verlassen, so verkehrt sich der Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Minimale Unterschiede in den Ursachen haben sprunghafte Änderungen auf der Seite der Wirkungen zur Folge, und diese potenzieren sich in Bezug auf mittelbare Wirkungen, sodass die Stabilität einer Entwicklung aufhört, woraus sich dann Zerstörung oder aber Neues ergeben kann – das Paradigma der Krise in der Entwicklung von Natur- und gesellschaftlich-historischen Prozessen.
Auch im Zusammenhang mit dem Determinismusproblem argumentiert Singer in sich widerspruchsvoll. Er spricht immer wieder von komplexen Systemen. Die Komplexität komplexer Systeme und überhaupt von Systemen besteht aber darin, dass sie sich in ihrer Gesamtdeutung der einseitig kausalen Denkweise entzieht. Bei Systemen vermischen sich Wirkung und Rückwirkung, es wirken die verschiedenen Faktoren aufeinander ein, und der Teil auf das Gesamte und umgekehrt, und eine einseitig kausale Denkweise kann nur Momentaufnahmen erbringen, die in sich die Spur der eingeengten Sichtweise tragen. Sie für das Ganze auszugeben, verfälscht den Gegenstand.">
http://www.oeko-net.de/kommune/kommune06-04/adick2.htm
'ch bin es inzwischen leid immer wieder darauf hinzuweisen, daß der Determinismus, wie er von Oberheimer so intensiv als alleinseeligmachende Wahrheit postuliert wird anzuschreiben - daher eben copie&paste.
Aber, wie ich hoffe für Interessierte gute Argumente gegen reduktionistische Anschauungen.
Welches Muster verbindet den Krebs mit dem Hummer und die Orchidee mit der Primel und diese vier mit mir? Und mich mit Ihnen? (Gregory Bateson)