Ich kann nicht verstehen, wie es in einem langjährigen EU- Land solche Zustände geben kann:
Die Camorra hat Neapel im Griff. Morde und Überfälle sind an der Tagesordnung, der Rauschgifthandel floriert. Die Regierung in Rom erwägt, den Notstand auszurufen und Militär in die Stadt zu schicken.
Montagabend kurz nach Sonnenuntergang starb Vincenzo Prestigiacomo mit vier Kugeln im Kopf, erschossen auf offener Straße mitten in der belebten Altstadt Neapels. Der 33-Jährige war der Schwiegersohn eines Bosses. Er wurde das jüngste Opfer eines Bandenkriegs zwischen Neapels Camorra-Clans. Eine Passantin, die zur falschen Zeit am falschen Ort war, wurde von einer Kugel am Bein schwer verletzt.
Die neapolitanische Mafia, die Camorra, hat die Kontrolle über die Stadt erobert Vier Morde in vier Tagen, das ist die jüngste Bilanz des Todes. 72 Mordopfer im laufenden Jahr, 3400 Raubdelikte im selben Zeitraum, der Drogenhandel völlig außerKontrolle. In der Provinz Neapel lebt ein Zwanzigstel aller Italiener. Und verübt ein Neuntel aller schweren Straftaten - der angezeigten Straftaten.
Politik und Justiz sind ratlos. "Wir sind bankrott", konstatiert Neapels oberster Staatsanwalt Paolo Mancuso. Er fordert Geld und Personal für die Justiz deren Mittel unter der Regierung Silvio Berlusconis zusammengestrichen wurden. Es wird diskutiert, den Notstand auszurufen: Das Militär solle in Neapel einrücken, forderten Oppositionspolitiker. Premier Romano Prodi gibt sich zurückhaltend. Aber mit Justizminister Clemente Mastella sagte der erste Regierungsvertreter, das dürfe kein Tabu sein.
Dabei sah es vor ein paar Jahren so aus, als ob "Neapels Renaissance" Erfolg haben könnte. Als ob die Polizei die organisierte Kriminalität halbwegs im Zaum halten könnte und sich die Gesellschaft den Terror nicht länger gefallen lassen würde. Alles Vergangenheit, stellt Staatsanwalt Mancuso fest: "Das Engagement derZivilgesellschaft hatte viele Hoffnungen geweckt. Aber mit dem Enthusiasmus ist es vorbei."
Das belegen Szenen, wie sie täglich in Neapels Zeitungen nachzulesen sind.
Ich kann es einfach nicht verstehen, wie es in einem langjährigen EU- Land solche Zustände geben kann:
Jüngst wollte die Polizei einen Straßenräuber festnehmen. Dutzende Jugendliche auf Mofas blockierten die Streifenwagen. Ein andermal bekam ein US-Tourist Schläge von aufgebrachten Einwohnern. Er hatte sich nicht mit dem Raub seiner Uhr abfinden wollen und den Täter verfolgt.
Nicht einmal der Müll regt die Stadt auf Seit Monaten bleiben die Abfälle liegen. Auf der Straße stapeln sich Müllsäcke, Container quellen über. Es fehlt an Deponien und Verbrennungsanlagen. Ein Müllkommissar soll den Notstand beheben, aber er zuckt machtlos mit den Schultern: Es ist eben kein Platz für den Unrat.
Eine Chance für die Camorra: Ihre Unternehmen räumen den Müll zur Seite. Dafür kassieren siemehrere hundert Millionen Euro im Jahr, schätzt die Justiz. Die findet wöchentlich neue Müllhalden - illegale, irgendwo in der Provinz rund um den Vesuv.
Roberto Saviano hat den Mechanismus beschrieben, dem die Camorra folgt. Sie stößt in jede Lücke, macht aus allem ein Geschäft. Neapels Hafen sei zum größten Umschlagplatz für illegale Ware in Europa geworden, schreibt der Autor. Und Neapel sieht zu.
Sein Buch "Gomorra" ist ein Schüsselroman, leicht zu entziffern für Justiz und Mafia. Es hat dem 27-Jährigen einen Literaturpreis eingebracht. Und Todesdrohungen der Camorra. Saviano bekommt jetzt Polizeischutz. "Aber das können wir schließlich nicht mit der ganzen Stadt machen", sagt Staatsanwalt Mancuso