frivol schrieb am 15.05.2021:Das tut die Psychosomatik ja und meine Frage ist, ob die Religion das auch tut? Jesus Christus hat das gemacht, er konnte die Seelen-Schmerzen der Menschen sehen und ihnen direkt helfen.
Ich habe dazu etwas zu sagen, das auf meiner Erfahrung beruht. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der christliche Werte nicht nur angesprochen sondern auch gelebt wurden, so wie es den Menschen halt möglich war. Dann kamen sie irgendwann mit der Gemeinde bzw den herrschenden Regeln und Vorschriften überquer und mussten sich entscheiden. Die Entscheidung fiel damals gegen die Kirche und für die Freiheit, dem eigenen christlichen Kompass (dem eigenen Verständnis der Aussagen der Bibel bzw des Neuen Testaments) zu folgen. Für mich folgten dann viele Jahre ausserhalb der Kirche, die ich auch nicht vermisste. Ich habe einige andere Glaubensformen und Lebensentwürfe kennengelernt, auch im Ausland und in anderen Kulturen, auch von innen.
Irgendwann - nicht in Deutschland - wandte ich mich wieder einer christlichen Gemeinde zu und verbrachte dort ein paar Jahre. Dort wurde der somatische Aspekt der Religion freier und lebendiger gelebt als in Deutschland. Gemeinsames musizieren und singen war fröhlich und unkonventionell, die Musik modern und mitreissend, jeder konnte mitmachen. Die Menschen umarmten sich gern und oft, Kinder liefen während des Gottesdienst herum ohne das es jemanden störte. Gebet wurde durch Handauflegen bekräftigt, sowohl Frauen als auch Männer standen am Pult und sprachen, in freiem Gebet konnte jeder sprechen, es gab keine abgegrenzten Zeiten für bestimmte Elemente des Gottesdienstes, oft wurde improvisiert.
Was ich dort lernte war, das eine wirkliche 'Kirche' sich tatsächlich wie eine grosse Familie anfühlen kann, verschiedene Menschen mit denen man verbunden ist, aber keine Gleichschaltung. Keine ausgeprägte Hierarchie, keine Regeln die nicht diskutiert oder einfach akzeptiert werden müssen.
Ich war auch dort nur auf der 'Durchreise' aber mein Interesse an dem somatischen Aspekt von Heilung war geweckt. Heute, nach 10 Jahren in denen ich mich eingehend mit Trauma und den Folgen von traumatischer Erfahrung beschäftigt habe und eine moderne Form der somatischen Traumatherapie anbiete sage ich folgendes dazu:
Es geht - bei allen Religionen und kulturell geprägten Zusammenkünften von Menschen - immer um die Erfahrung von 'Sicherheit' in der Gemeinschaft, das deutsche Wort 'Sicherheit' trifft es leider nicht so gut, denn wir denken dabei oft an Schlüssel und Stacheldraht, dabei meine ich eher Geborgenheit. Diese Geborgenheit ist notwendig. das der Körper entspannen kann - auch damit meine ich nicht nur Muskeln, sondern das die Sinnesorgane keine potentiellen Gefahrensignale in der Umgebung wahrnehmen. Das kann sicher auch so sein wenn man alleine ist, aber sich in Gesellschaft anderer Menschen sicher zu fühlen hat eine ganz besondere Qualität. Das hat mit 'Präsenz" zutun, dem bedingungslosen 'da sein' im 'Hier und jetzt' ohne das störende Gedanken wie Befürchtungen, Sorgen, Selbstkritik oder Furcht vor Beurteilung unsere Defensive hochfahren.
Wenn Kirche wirklich funktionieren soll, das Menschen tatsächlich eine Bürde loslassen, eine freudige und inspirierende Erfahrung machen und einen Eindruck erhalten, was es heisst, das 'Gott sie liebt wie sie sind', dann müssen sie untereinander und in Bezug auf Gemeindeleitung fortdauernd das Gefühl haben, angenommen und nicht beurteilt zu werden. Sie müssen nicht nur beten sondern auch spielen, tanzen und singen, sich umarmen und generell fröhlich und unbeschwert sein. Sie müssen sich anvertrauen können ohne Furcht vor Gerede oder Strafe.
Das gibt der Inhalt des Neuen Testaments durchaus her, nur eignet es sich nicht gut zum Aufbau von organisierter Kirche wenn es um wirtschaftliche Stabilität und Einfluss geht.
Nachdem ich sowohl bei Christen als auch bei Muslims, Juden und Hindus bei Festen und Feiern, Beerdigungen und Hochzeiten dabei war sage ich, das es überall nur um 'Geborgenheit' geht und dieses Gefühl immer nur entsteht wenn Menschen nicht mehr defensiv sein müssen. Da wir aber erst beginnnen zu verstehen, wie unser Nervensystem und unsere Sinne unsere Defensive steuern - in Sekunden, ohne das wir überhaupt eine Möglichkeit haben, etwas zu entscheiden, aka meist unbewusste Muster sich abspielen die uns bekannt und fur uns 'normal' sind, wird es noch dauern, bis die Kirche aufwacht - vielleicht muss sie dafür in ihrer heutigen Form niedergehen.
Traumatische Erfahrung bringt unser Nervensystem aus dem Gleichgewicht und dir Symptome sind sehr vielfältig und langwierig - viel kann jedoch schon erreicht werden, wenn Menschen gesehen und gehört, umarmt und in Geborgenheit und Gemeinschaft geführt werden.
Leider nur auf englisch, doch es gibt durchaus deutsche Texte (und Bücher) zum Thema Polyvagal Theorie, hier ein link zu Steven Porges : Warum wir einander brauchen und welche Rolle unser Nervensystem dabei spielt.
https://youtu.be/hOZJn3XKw1s