Wie seht ihr Alles?
16.06.2006 um 19:12
Hallo!
Ich habe heute zufällig etwas in meiner alten Werte und Normen - Mappegefunden, was unserem Thema sehr nahe kommt:
[...] Wer bin ich? Das könnte manganz einfach beantworten: Ich erlebe mich doch täglich selbst. So weiß ich dochunmittelbar, wer ich bin. Ich bin derjenige, dem dies sympathisch und jenes unsympathischist. Ich bin derjenige, der aus der Gegend in Norddeutschland kommt, der den dortigenDialekt spricht. Ich bin derjenige, der diese und jene Vorlieben und Gewohnheiten hat.Ich kenne mich gut: Ich weiß, dass ich mich in bestimmten Situationen schnell aufrege.Ich weiß, was mir Sicherheit gibt und was mich verunsichert. Ich habe eine politischeÜberzeugung...
Hier muss ich aber einwenden: Sind es denn wirklich deineGewohnheiten, deine Herkunft, deine Sicherheit und deine Überzeugungen, die deineBiographie voranbringen? [...] Entwickelst du dich nicht gerade da, wo du über denHorizont deiner Herkunft hinausblickst?
Und tatsächlich kann man ja spüren,dass in der eigenen Person noch etwas ganz anderes lebt als das, was man tagtäglich ansich erlebt. Gerade, wenn solche Entwicklungsschritte anstehen, kann man das empfinden-in Krisen also, in Zeiten schwerer Krankheit, aber auch in Situationen der Liebe, wo manplötzlich spüren kann, dass man vielleicht noch zu etwas ganz anderem berufen ist, alswas man so täglich lebt.
Und ein Gesprächspartner des Ich wird daraufhinweisen, dass die „Person“ - aus dem Lateinischen „persona“ – ursprünglich dasjenigeist, wo etwas hindurchtönt: per-sonare – durch-tönen. Somit ist Persona zunächst dieMaske, das Typenhafte, Un-Individuelle und eben nicht das individuelle, unverwechselbareIch. Die Persona ist ein Äußeres, eine Art Gewand, durch welches hindurch das eigentlichindividuelle Ich „tönt“. Dieses äußere Gewand können wir das Alltags-Ich nennen. Esbestimmt sich aus der Vergangenheit. Das Alltags-Ich kennt sich nur aus der Erinnerung.So wie ich heute reagiere, habe ich schon hundertmal reagiert. [...]
Wennwir das konsequent durchschauen, sagt das Alltags-Ich also von sich: Ich bin das, waswar. Ich bin die Summe dessen, was mit mir und an mir und in mir geschehen ist.
Also kann das Alltags-Ich logischerweise nicht dasjenige sein, was meine Biographie„schreibt“. Denn meine Biographie ist eben nicht die ständige Fortschreibung derVergangenheit.[...] Das Entscheidende ist vielmehr, dass immer etwas Neues hinzukommt,dass das Vergangene einen neuen Einschlag bekommt und sich wandelt zu etwas Neuem. Geradedas ist das Merkmal biographischer Entwicklung.
Aber wo kommt denn diesesNeue her? – so wird das Ich jetzt fragen. – Der Gesprächspartner des Ich wird nun auf dasImpulsierende hinweisen, dass in jedem Menschen lebt. Das Neue entsteht dadurch, dass mansich auf den Weg macht. Da wo das Vergangene, Gewohnte, Vertraute hinterfragt, wo dieSicherheiten mindestens vorübergehend aufgehoben werden, wo man auf liebgewordeneMeinungen und Neigungen auch einmal verzichtet, wo man das ganz andere aufgreift, einmaletwas ganz anderes ausprobiert; wo man zum Beispiel einem Nachbarn, der einem schon immerunsympathisch war, einmal ein freundliches Wort sagt, da entsteht das Neue. Da, in deraufgelassenen Situation, in der Offenheit, tauchen neue Impulse in meinem Bewusstseinauf, neue Anstöße, neue Fragen. Da, wo nicht von vornherein alles klar ist, da, wo mansich erfüllen lässt durch staunende Fragen, da entsteht Neues, da entstehen zukünftigeMöglichkeiten, Entwicklungschancen. Da komme ich über mich hinaus. – In dieser offenenSituation tönt mein individuelles Ich im Inneren meiner „Person“ und bringt die „Maske“in Schwingung. Wenn ich über das Alltags-Ich hinausgehe, wo ich das Vergangene nichtfesthalte, da erst bin ich ganz bei meinem eigentlichen Ich, bei meinem Urbild. Da habeich mein Ich, wo ich es nicht festhalte.
[...] Wir können es das „HöhereIch“ nennen. Und wenn das Höhere Ich der Biographieschreiber ist, dann ist dasAlltags-Ich das Geschriebene. Denn dasjenige, was sich im Alltag als Ich erlebt, das istdas Gewordene, bestimmt sich aus der Vergangenheit. Das Höhere Ich aber ist immer auf dieZukunft angelegt. Es ist nicht so da, wie das Alltags-Ich als Gewordenes da ist. DasHöhere Ich ist immer Impuls.
So sind wir dem Höheren Ich am nächsten da, wo wir imWerden begriffen sind.
Deshalb taucht es besonders in Krisen auf.Besteht die Krise ja doch eben darin, dass Vertrautes und Gewohntes plötzlich nicht mehrgilt. Die Krise ist eine aufgelassene, offene Situation, für die man in seinem in derVergangenheit gebildeten Repertoire keine geeigneten Verhaltensweisen findet. [...] –Eine andere Möglichkeit ins Werden zu kommen ist: zu lieben.
Das Höhere Ichkann also als der Gestaltungswille betrachtet werden, der die innere Dynamik unseresLebensganges prägt. Aus diesem Gestaltungswillen heraus werden wir in Krisen geführt,kommt es zu Begegnungen, Gelegenheiten, Chancen, erwachsen Hindernisse. Gemeint ist immerZukunft. Dieser Gestaltungswille kann sich auch in dem aussprechen, was andere Menschenmich fragen, worum sie mich bitten – besonders dann, wenn sie mich um etwas bitten, wasmir eigentlich gar nicht so liegt. Solche Fragen, Bitten, Begegnungen und Krisen habendies gemeinsam: Sie wollen mich über mich selbst hinausführen , mir über die Begrenzungendes Alltag-Ichs hinweghelfen.
Es kommt also darauf an, dass wir uns nichtgegen die Ereignisse stellen, in denen Zukunftskeime liegen. Krankheiten, Trennungen,Grenzsituationen, Schicksalsschläge enthalten immer auch einen Zukunftskeim, einen Impulszur Weiterentwicklung.
Aus: Mathias Wais „ Biographiearbeit und Lebensberatung“,Stuttgart 1992
Nimm dir jeden Tag Zeit, etwas verrücktes zutun.
Phillippa Walker