Kehrtwende der Deutschen Medien
01.12.2005 um 18:59Heute Stand in der liberalen Zeit dieser Artikel,
Wahnsinnige Gewinne
Eine neue Generation von Unternehmern spielt mit dem sozialen Frieden. Eine Polemik
Von Ulrich Greiner
Wie soll man das nennen, wenn nicht Wahnsinn? Dessen Methode besteht darin, den Gewinn um jeden Preis zu steigern, und sie ist insofern vernünftig, als sie ökonomisch ist. Der Gewinn dient der Befriedigung der Aktionäre und der finanziellen Bevorratung für schwierige Zeiten. Die Reduzierung der Belegschaft dient der Steigerung der Produktivität. Dies sei, so sagt der Ökonom, angesichts des wachsenden globalen Konkurrenzdrucks zwingend geboten. Und wir, die Nichtökonomen, nehmen diese Weisheit zur Kenntnis, je nach Interessenlage beflissen oder beklommen.
Es ist an der Zeit, von Anstand zu reden. Der Chef eines Unternehmens trägt für jene, die von ihm abhängen, Verantwortung. Seine Aufgabe besteht nicht allein darin, Effizienz und Kurswert zu steigern und im Falle des Erfolgs die Prämie zu kassieren, im Falle des Misserfolgs die Abfindung. Er hat ebenso die Aufgabe, das Schicksal der ihm Anbefohlenen zu bedenken und das Gemeinwohl im Auge zu behalten. Anständig ist es, für den erzielten Gewinn jenen zu danken, die ihn erarbeitet haben, sie daran teilhaben zu lassen und ihn in neue Arbeitsplätze zu investieren. Unanständig ist es, die Verkündung des Gewinns mit der Androhung weiterer Grausamkeiten zu verknüpfen.
Selbst wenn Anstand keine ökonomische Tugend sein mag, so ist er doch die Tugend, auf der unser aller Zusammenleben beruht. Sie wächst nicht von selbst nach. Sie bedarf des gelebten Vorbilds durch die Elite, gerade der ökonomischen. Die aber hat sich dramatisch verändert. Der Zigarren schmauchende Unternehmerpatriarch, den die politische Satire zu verspotten pflegte, hatte immerhin das Eigeninteresse, in der Stadt, zu deren Honoratioren er sich zählte, geachtet und vielleicht sogar geliebt zu sein. Massenentlassungen ohne Not hätte er gescheut. Er gab sich gern philanthropisch, und nicht selten war er’s auch.
Diesen Unternehmer, man darf es nicht vergessen, gibt es noch, auch wenn er Zigarren kaum mehr raucht. Geliebt wird er selten, geachtet schon. Inzwischen aber sind wir Nichtökonomen – ernüchtert durch das haarsträubende Gebaren gewisser Wirtschaftslenker – durchaus so weit, die Wiederkehr des alten Patriarchen zu ersehnen.
Der neue Typus nämlich, den der amerikanische Soziologe Christopher Lasch in seinem Buch Die blinde Elite beschrieben hat, ist bedenkenlos fixiert aufs ökonomische Kalkül. Gestählt in den Ausbildungslagern der Business Schools, ist er ein Ministrant des Kapitals. Von Grund auf heimatlos, fühlt er sich in der weiten Welt zu Hause, in den klimatisierten Arealen der Abflughallen, Hotelzimmer und Vorstandsetagen, und wo immer er sich befindet, agiert er weltumspannend. Anständigkeit mag er im privaten Umgang für erstrebenswert halten, im Job ist sie ihm keine handlungsleitende Tugend mehr. Er arbeitet im zeitlich und sachlich begrenzten Auftrag, den er auf Gedeih und Verderb erfüllen muss. Ein Verantwortungsgefühl für die Kommunität einer Stadt, einer Region, eines Landes wird er nicht empfinden, es kann erst gar nicht entstehen.
»Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« So lautet Artikel 14 des Grundgesetzes. Das ist kein Gebot, für dessen Einhaltung Polizisten sorgen könnten. Dass es Beachtung findet, ist die Sache aller, zuvörderst der Elite. Es schadet dem Gemeinwohl, wenn Unternehmer ausschließlich das Partikularinteresse der Eigner verfolgen und die Rationalisierungskosten einem Staat aufladen, der zusehends verarmt. Noch hält das soziale Netz, aber die Maschen sind größer, die Fäden dünner geworden.
Es müsste aber auch ein ökonomisches Kalkül sein, die Folgen in Rechnung zu ziehen, die es haben wird, wenn sich das ökonomische Kalkül absolut setzt. Man muss nicht brennende Vorstädte abwarten, um endlich zu erkennen, dass erfolgreiches Wirtschaften eine gedeihliche Gesellschaft benötigt. Schon jetzt sind die Anzeichen psychischer und sozialer Verwahrlosung erschreckend sichtbar, und es wäre, wenn die Entwicklung anhält, auf Dauer sinnlos, sich in eingezäunten Bezirken zu verschanzen.
Wir leben nicht mehr in Zeiten, da das Wünschen noch geholfen hat, und es wäre ebenfalls blind, den Sieg des Partikularinteresses über das Gemeinwohl lediglich ein paar allzu sichtbaren Vorstandsvorsitzenden zuzuschreiben. Auch sie sind Räder im Getriebe. Motor des Getriebes ist die vorherrschende Mentalität ichsüchtiger Vorteilsmehrung, die nicht wissen will, auf wessen Kosten sie Vorteile sammelt. Nicht selten auf eigene. Jeder Schnäppchenjäger, der den Laden an der Ecke verkommen lässt, weil der Großmarkt billiger ist, jeder Bankkunde, der sich aus Kostengründen die Dienste der Angestellten spart, kann, wenn er ein bisschen nachdenkt, begreifen, dass er Arbeitsplätze vernichtet, am Ende gar seinen eigenen. Geiz ist nicht geil, sondern schäbig und schädlich.
Auch Konsumenten haben Macht. Sie haben die Möglichkeit, jene Unternehmen, die Anstand vermissen lassen, durch Enthaltung zu strafen. Und wer am Jahresende zufrieden auf die gestiegene Gewinnbeteiligung seiner Lebensversicherung oder auf das Wachstum seines Investmentfonds blickt, der sollte sich vor Augen halten, dass dieses Plus anderswo ein Minus verursacht hat. Paradox gesprochen: Die allgemeine Ökonomisierung des Denkens geht nicht weit genug. Das wahre ökonomische Denken müsste die eigenen Kosten ebenso in Rechnung stellen wie die gesellschaftlichen, es müsste vom Augenblicksvorteil die nachwirkenden Verluste abziehen. So gesehen, ist das Gemeinwohl – und mithin der Anstand – eben doch eine ökonomische Tugend.
Von dieser idealen Volkswirtschaft sind wir weit entfernt. Wie sie praktisch aussehen könnte, ist einstweilen gänzlich unklar. Aber wir dürfen nicht warten, bis die Verhältnisse einen neuen Marx oder Bakunin zwangsläufig erzeugen. Wir sollten es dem Allzweckargument »Globalisierung« nicht länger gestatten, uns in eine intellektuelle Resignation zu treiben. Die soziale Marktwirtschaft war der letzte funktionierende Gesellschaftsvertrag. Er hat lange gehalten und die Gesellschaft befriedet. Nun ist er am Ende, und wir müssen die Debatte über einen neuen Gesellschaftsvertrag beginnen, bevor der Friede zerbricht. Je offener, streitlustiger sie geführt wird, je mehr an ihr teilnehmen, umso besser für uns alle.
Zeichnet sich damit eine Abkehr von der allgemeinen Verherrlichung des neoliberalistischen Ideals ab? Ich wäre an euren Meinung interessiert.
あなたがやったというのは本当か。
Sine ira et studio.
Per noctem ad lucem.
Fiat iustitia, et iamsi pereat mundus!
Wahnsinnige Gewinne
Eine neue Generation von Unternehmern spielt mit dem sozialen Frieden. Eine Polemik
Von Ulrich Greiner
Wie soll man das nennen, wenn nicht Wahnsinn? Dessen Methode besteht darin, den Gewinn um jeden Preis zu steigern, und sie ist insofern vernünftig, als sie ökonomisch ist. Der Gewinn dient der Befriedigung der Aktionäre und der finanziellen Bevorratung für schwierige Zeiten. Die Reduzierung der Belegschaft dient der Steigerung der Produktivität. Dies sei, so sagt der Ökonom, angesichts des wachsenden globalen Konkurrenzdrucks zwingend geboten. Und wir, die Nichtökonomen, nehmen diese Weisheit zur Kenntnis, je nach Interessenlage beflissen oder beklommen.
Es ist an der Zeit, von Anstand zu reden. Der Chef eines Unternehmens trägt für jene, die von ihm abhängen, Verantwortung. Seine Aufgabe besteht nicht allein darin, Effizienz und Kurswert zu steigern und im Falle des Erfolgs die Prämie zu kassieren, im Falle des Misserfolgs die Abfindung. Er hat ebenso die Aufgabe, das Schicksal der ihm Anbefohlenen zu bedenken und das Gemeinwohl im Auge zu behalten. Anständig ist es, für den erzielten Gewinn jenen zu danken, die ihn erarbeitet haben, sie daran teilhaben zu lassen und ihn in neue Arbeitsplätze zu investieren. Unanständig ist es, die Verkündung des Gewinns mit der Androhung weiterer Grausamkeiten zu verknüpfen.
Selbst wenn Anstand keine ökonomische Tugend sein mag, so ist er doch die Tugend, auf der unser aller Zusammenleben beruht. Sie wächst nicht von selbst nach. Sie bedarf des gelebten Vorbilds durch die Elite, gerade der ökonomischen. Die aber hat sich dramatisch verändert. Der Zigarren schmauchende Unternehmerpatriarch, den die politische Satire zu verspotten pflegte, hatte immerhin das Eigeninteresse, in der Stadt, zu deren Honoratioren er sich zählte, geachtet und vielleicht sogar geliebt zu sein. Massenentlassungen ohne Not hätte er gescheut. Er gab sich gern philanthropisch, und nicht selten war er’s auch.
Diesen Unternehmer, man darf es nicht vergessen, gibt es noch, auch wenn er Zigarren kaum mehr raucht. Geliebt wird er selten, geachtet schon. Inzwischen aber sind wir Nichtökonomen – ernüchtert durch das haarsträubende Gebaren gewisser Wirtschaftslenker – durchaus so weit, die Wiederkehr des alten Patriarchen zu ersehnen.
Der neue Typus nämlich, den der amerikanische Soziologe Christopher Lasch in seinem Buch Die blinde Elite beschrieben hat, ist bedenkenlos fixiert aufs ökonomische Kalkül. Gestählt in den Ausbildungslagern der Business Schools, ist er ein Ministrant des Kapitals. Von Grund auf heimatlos, fühlt er sich in der weiten Welt zu Hause, in den klimatisierten Arealen der Abflughallen, Hotelzimmer und Vorstandsetagen, und wo immer er sich befindet, agiert er weltumspannend. Anständigkeit mag er im privaten Umgang für erstrebenswert halten, im Job ist sie ihm keine handlungsleitende Tugend mehr. Er arbeitet im zeitlich und sachlich begrenzten Auftrag, den er auf Gedeih und Verderb erfüllen muss. Ein Verantwortungsgefühl für die Kommunität einer Stadt, einer Region, eines Landes wird er nicht empfinden, es kann erst gar nicht entstehen.
»Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« So lautet Artikel 14 des Grundgesetzes. Das ist kein Gebot, für dessen Einhaltung Polizisten sorgen könnten. Dass es Beachtung findet, ist die Sache aller, zuvörderst der Elite. Es schadet dem Gemeinwohl, wenn Unternehmer ausschließlich das Partikularinteresse der Eigner verfolgen und die Rationalisierungskosten einem Staat aufladen, der zusehends verarmt. Noch hält das soziale Netz, aber die Maschen sind größer, die Fäden dünner geworden.
Es müsste aber auch ein ökonomisches Kalkül sein, die Folgen in Rechnung zu ziehen, die es haben wird, wenn sich das ökonomische Kalkül absolut setzt. Man muss nicht brennende Vorstädte abwarten, um endlich zu erkennen, dass erfolgreiches Wirtschaften eine gedeihliche Gesellschaft benötigt. Schon jetzt sind die Anzeichen psychischer und sozialer Verwahrlosung erschreckend sichtbar, und es wäre, wenn die Entwicklung anhält, auf Dauer sinnlos, sich in eingezäunten Bezirken zu verschanzen.
Wir leben nicht mehr in Zeiten, da das Wünschen noch geholfen hat, und es wäre ebenfalls blind, den Sieg des Partikularinteresses über das Gemeinwohl lediglich ein paar allzu sichtbaren Vorstandsvorsitzenden zuzuschreiben. Auch sie sind Räder im Getriebe. Motor des Getriebes ist die vorherrschende Mentalität ichsüchtiger Vorteilsmehrung, die nicht wissen will, auf wessen Kosten sie Vorteile sammelt. Nicht selten auf eigene. Jeder Schnäppchenjäger, der den Laden an der Ecke verkommen lässt, weil der Großmarkt billiger ist, jeder Bankkunde, der sich aus Kostengründen die Dienste der Angestellten spart, kann, wenn er ein bisschen nachdenkt, begreifen, dass er Arbeitsplätze vernichtet, am Ende gar seinen eigenen. Geiz ist nicht geil, sondern schäbig und schädlich.
Auch Konsumenten haben Macht. Sie haben die Möglichkeit, jene Unternehmen, die Anstand vermissen lassen, durch Enthaltung zu strafen. Und wer am Jahresende zufrieden auf die gestiegene Gewinnbeteiligung seiner Lebensversicherung oder auf das Wachstum seines Investmentfonds blickt, der sollte sich vor Augen halten, dass dieses Plus anderswo ein Minus verursacht hat. Paradox gesprochen: Die allgemeine Ökonomisierung des Denkens geht nicht weit genug. Das wahre ökonomische Denken müsste die eigenen Kosten ebenso in Rechnung stellen wie die gesellschaftlichen, es müsste vom Augenblicksvorteil die nachwirkenden Verluste abziehen. So gesehen, ist das Gemeinwohl – und mithin der Anstand – eben doch eine ökonomische Tugend.
Von dieser idealen Volkswirtschaft sind wir weit entfernt. Wie sie praktisch aussehen könnte, ist einstweilen gänzlich unklar. Aber wir dürfen nicht warten, bis die Verhältnisse einen neuen Marx oder Bakunin zwangsläufig erzeugen. Wir sollten es dem Allzweckargument »Globalisierung« nicht länger gestatten, uns in eine intellektuelle Resignation zu treiben. Die soziale Marktwirtschaft war der letzte funktionierende Gesellschaftsvertrag. Er hat lange gehalten und die Gesellschaft befriedet. Nun ist er am Ende, und wir müssen die Debatte über einen neuen Gesellschaftsvertrag beginnen, bevor der Friede zerbricht. Je offener, streitlustiger sie geführt wird, je mehr an ihr teilnehmen, umso besser für uns alle.
Zeichnet sich damit eine Abkehr von der allgemeinen Verherrlichung des neoliberalistischen Ideals ab? Ich wäre an euren Meinung interessiert.
あなたがやったというのは本当か。
Sine ira et studio.
Per noctem ad lucem.
Fiat iustitia, et iamsi pereat mundus!