falstaff schrieb:Ist das ein Auszug aus deiner Promotion? Und wenn ja, in welchem Fach? Anglistik? Kriminalistik?
Guten Morgen,
ich habe mir einfach die Mühe gemacht, das Buch zu lesen, weil mir klar wurde, dass das Motiv, sich zu "opfern", dort irgendwo zu finden sein muss.
Sydney Carton = Jens Söring
opfert sich für
Lucie Manette/Darnay =
Lucy Tara Noe =
Liz Haysom
Und zwar zum frühestmöglichen Zeitpunkt, ohne einen Anwalt zu sprechen.
Das löst für mich einige Knoten im Gehirn.
Aber das kann jeder sehen, wie er möchte.
Letztendlich haben beide hinterher ihre gemeinsame Story in Fetzen gepflückt und sich nur das herausgenommen, was ihnen selber nützen würde:
z.B. Scheck im Hotel als Alibi für ihre gemeinsame Anwesenheit dort:
--> er: ich habe ihn zu Zeitpunkt x (Lüge) eingelöst,
--> sie: ich habe die Unterschrift gefälscht (Lüge).
Dadurch entstanden große Lücken, die durch weitere Lügen gefüllt werden mussten, und nichts ergab mehr einen Sinn.
Vermutlich hatten sie wirklich erst nach dem Mord das erste Mal (Penetrations-Sex) (s. Aussage im psychiatrischen Gutachten; mögliche rationale Gründe wären für mich: er nahm Rücksicht, weil sie angeblich vergewaltigt worden war, er hatte Probleme mit der Penetration aufgrund peinlicher Erfahrungen im Sommer zuvor, sie hatte Angst vor einer Schwangerschaft; und vielleicht kamen tatsächlich gewisse irrationale Macbethsche Motive dazu), Ergebnis:
--> er: ich liebte diese Frau und tat alles für sie
--> sie: er kriegte erst einen hoch, als er einen Mord begangen hatte (Motivation ihrer Aussage: er war der schon immer gewaltbereite Täter, ich bin die Anstifterin)
Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen und enthält vielleicht noch irgendwelche Bestandteile ihrer gemeinsamen Folie-a-deux-Dynamik, die lieber von beiden verschwiegen wurden.
Sie konnte ihre Verteidigungs-Strategie perfekt auf seine Aussagen aufbauen, sie hatte alle Unterlagen. Sie bekam zum Beispiel die Kopie eines Briefes, den JS am 18.5.1986 (im Gefängnis) an einen Freund geschrieben hatte. Sie machte sich sogar Notizen an den Rand, wie Ken Englade berichtet:
"When he and Elizabeth denied the “self’ motive in their relationship they were fooling each other, denying their instincts in an attempt to get what they could from the other. At one point he wrote about the great joy he experienced in giving something to someone unconditionally. That, he felt, was fulfilling a perfect act of friendship. It was an example of a totally “selfless” act. At that phrase, in the margin of her copy of the letter, Elizabeth had scrawled that was precisely what Jens used to say about the murder of her parents —it was a completely “selfless” act."
(Quelle: Ken Englade, Beyond Reason, Kapitel 46, Amazon Kindle-Edition S. 290/375)
--> Die Aussage, dass JS den Mord an ihren Eltern als selbstlosen Akt ansah, kam von EH und zu keinem Zeitpunkt von ihm selber! Er selber beschäftigte sich aber offensichtlich gedanklich im Gefängnis mit dem Thema Selbstlosigkeit (selbstloses Opfer à la Sydney Carton).
Für mich sieht es nämlich so aus:
- JSs Strategie: Dinge weglassen und ansonsten viel und ausführlich alles Mögliche ("Stücke der Wahrheit") rausplappern
- EHs Strategie: "Stücke der Wahrheit" nehmen und Dinge dazuerfinden oder umdeuten
(Er nennt das "p.o.t. = Perversions of truth", siehe
http://web.archive.org/web/20050907103609/http://lucy.ukc.ac.uk:80/Soering/chapter02.html#32)
Auf der Seite
https://das-versprechen.de/liebesbriefe/ kann man in der Hintergrundgrafik einige Briefe lesen:
https://das-versprechen.de/typo3conf/ext/streckerdesign/Resources/Public/img/ThePromise_Loveletters_BG.jpgAuf der linken Seite schreibt er in einem Brief vom 3.6.1986 (da saßen sie schon im Gefängnis), er möchte sie in Stimmung bringen, er schreibt (sinngemäß): Du gehst durchs Zimmer, ich zünde Kerzen an, du schaust durch die Kassetten-Sammlung und legst Musik auf, ich berühre dich ... Das schreibt jemand, der eigentlich permanent ganz andere krasse Fantasien gehabt haben soll? Dafür ist er aber verdammt empathisch.
Wie gesagt, ich will JS nicht verteidigen und ich halte ihn auch nicht für komplett unschuldig. Ich war selber einmal mit einem notorischen Lügner zusammen und weiß selbst jetzt nach 20 Jahren nicht, welche seiner Geschichten wahr waren und welche nicht. Er hat mich teilweise in Dinge reingequatscht, die ich mir bis heute nicht erklären kann. Aber es müssen definitiv Persönlichkeitsaspekte in MIR vorhanden gewesen sein, die dazu führten, dass ich letztendlich sogar 3 Jahre mit ihm zusammen war, bevor ich den Absprung geschafft habe.
Jetzt bin ich seit 20 Jahren mit einer "ehrlichen Haut" verheiratet. Und trotzdem frage ich mich (vor allem, nachdem ich mich durch dieses ganze Lügengeflecht durchgedacht habe), ob ich auch zu so einem Verbrechen fähig gewesen wäre, wenn jemand nur "die richtigen Knöpfe" bei mir gedrückt hätte.