Pesca schrieb:Mir ging es mit meiner Anmerkung eher drum, dass ich den verlinkten Artikel interessant finde, aber darauf hinweisen wollte, dass er zu einer Zeit erschienen ist, als ChatGPT & Co. noch nicht so omnipräsent waren, also manche Details heute vielleicht anders bewertet werden würden.
Danke für die Erklärung und vor allem Danke für den Artikel. Das ist schon echt krass, was Experten aus so einem Text herauslesen können und was sie alles als Vergleich heranziehen. Ich überlege mir jetzt, dass ich besser niemals ein anonymes Erpresserschreiben oder einen Hassbrief losschicken sollte, weil solche Fachleute wahrscheinlich sofort große Übereinstimmungen im Stil und Ausdruck mit den Beiträgen des Benutzers Grillage im Allmy-Krimi-Forum entdecken würden...
Aber Spaß beiseite: der vorliegende Brief in diesem Fall müsste doch ein reines Fest für solche Experten sein. Die Texte, die sie sonst für ihre Analysen zur Verfügung haben dürften ja meistens deutlich kürzer sein. Hier haben sie 5 eng beschriebene Seiten, da werden sicher jede Menge Auffälligkeiten drin stecken.
Allerdings führt das ja leider nicht direkt zum Schreiber, wenn man eben keine Vergleichstexte von dieser Person vorliegen hat. Man wird damit höchstens den Schreiber in Richtung Alter, geographischer Herkunft und Bildungsstand grob eingrenzen können. Aber sicher auch eine Aussage darüber bekommen, ob es Hinweise gibt, dass die Geschichte authentisch ist oder ob er sich versucht zu verstellen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizei den Brief nicht schon längst so einer Analyse unterzogen hat. Immerhin geht es um Mord und den Fall bei XY vorzustellen stellt einen großen Aufwand dar und ist bei einem 40 Jahre alten Cold Case zudem wenig aussichtsreich, zumindest wenn man den Brief als nicht authentisch einschätzen würde.
sallomaeander schrieb:So einen Brief dann auszuarbeiten mit allerhand Fleiß und Überlegung, in ernüchtertem Zustand selbstverständlich, und bei künftigen Zechgelagen bei Nennung eines oder mehrerer Stichworte aus dem anonymen Brief sich vor Lachen den Bauch zu halten - das könnte ich mir beispielsweise bei einer Gruppe von Menschen vorstellen, die auch ansonsten durch derbe Scherze oder abseitigen "Humor" in Erscheinung tritt.
Als Modell für den Briefschreiber könnte ein gemeinsamer Kollege oder Kommilitone Pate gestanden haben - Typen, die sich so ausdrücken, und so verhalten, gibt es ohne Frage.
Bei Deiner Beschreibung ist bei mir sofort das Kopfkino angesprungen. Ich kann es förmlich vor mir sehen, wie sie da zusammenhocken, sich gegenseitig mit abstrusen Ideen überbieten wollen und sich dann an irgendeinen verschrobenen gemeinsamen Bekannten erinnern, den sie sich als Vorbild für diesen angeblichen Verwandten hernehmen.
sallomaeander schrieb:Aber der abseitige "Witz" einer Zechrunde, das käme für mich schon irgendwo hin. Eine gewisse Affinität zu True Crime wäre erforderlich - aber TC hat ja auch Konjunktur derzeit.
Ich finde diese Idee auch überhaupt nicht so abwegig. Gerade wenn es sich um Personen handelt, die in der Polizei nicht unbedingt den Freund und Helfer, sondern eher Wegelagerer mit Radartechnik sehen und es deshalb - gerade im "angeheiterten" Zustand für witzig halten, die mal "so richtig auf eine falsche Spur zu schicken". Vielleicht durchaus auch in Kombination mit einer Wette, so wie von
@Rotkäppchen erwähnt. Sowas kann auch schnell dazu führen, dass sich so was hochschaukelt, nach dem Motto: "Du traust Dich doch eh nicht, das abzuschicken!"
brigittsche schrieb:"Sag' mal, spinnst Du? Wie kommst Du denn auf die Idee, das wirklich abzuschicken? Das war doch blos ein Witz, aber das nun wirklich abzuschicken, da hört der Spaß doch auf!"
Die Reaktion könnte aber auch anders sein: "Ey Alter, das hast Du Dich nicht wirklich getraut?!" Eher anerkennent und erstaunt als reuig und tadelnd. Und weil alle mit drin hängen und ihnen das im nüchternen Kopf als alberne und etwas peinliche Idee erscheint, erzählen sie auch keinem davon...
sallomaeander schrieb:Und spätestens jetzt wäre es ggf. fair, meinetwegen ebenfalls anonym, das Ganze als Fake zu enttarnen.
Die Frage ist aber, wie man das anstellen will. Theoretisch könnte ich selber ja heute einen anonymen Brief an die Kripo Bonn schreiben und rein schreiben: "Hallo, ich bin der anonyme Briefeschreiber aus dem Fall CW. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass das ganze eine Versehen war, ein dummer Scherz aus einer Bierlaune heraus. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Mühen bereitet habe."
Natürlich würde man die Nummer des Briefzentrums vergleichen, das Druckerbild, den Stil und Ausdruck und davon würde ja, zumindest mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit, nichts stimmen. Trotzdem könnte ich ja den ersten oder eben den zweiten Brief auch auf einer Reise abgeschickt haben, also von einem ganz anderen Ort, könnte einfach einen anderen drucker aus meinem Haushalt benutzt haben und wenn ich nur zwei oder drei Sätze schreibe ist eine Stilanalyse wohl nicht ganz so aussagekräftig, v.a. wenn ich mich bemühen würde, den doch recht auffälligen Stil des Briefeschreibers zu simulieren.
Wie also soll der Briefeschreiber die Polizei informieren, dass es ein Fake war, so dass diese auch sicher ist, dass diese Nachricht dann authentisch ist? Ich könnte mir vorstellen, dass diese Überlegung durchaus jemanden davon abhalten könnte, das aufzuklären. Zumal jede weitere Kontaktaufnahme ja irgendwie das Risiko steigert, doch noch identifiziert zu werden.
DerDoctor11 schrieb:Henry Lee Lucas hat in den 80 zugegeben morde begangen zu haben die er nicht begangen hat.
Ich verlinke hier auch was.
Im Fall der Black Dahlia haben ca. 500 Personen gestanden, den Mord begangen zu haben, darunter sogar Menschen, die zum Zeitpunkt des Morden noch nicht einmal geboren waren. Und das waren überwiegend Menschen, die sich aktiv mit ihrem Geständnis an die Polizei gewandt haben, also nicht Leute, die irgendwann nach stundenlangen Vernehmungen oder Drohungen durch die Polizei umgekippt sind.
Trotzdem sehe ich das ähnlich wie
@sallomaeander:
sallomaeander schrieb:Im von @DerDoctor11 verlinkten Wikipedia -Artikel ging es um falsche Geständnisse - das lässt sich mMn nur sehr bedingt auf unseren Briefschreiber übertragen, da er sich ja nicht selbst bezichtigt, und auch den Weg zum angeblichen Täter mit allerlei Geschichten pflastert (Offenlegungen auf dem Sterbebett); das ist schon etwas anderes, als wenn ein Unschuldiger unter dem Druck harter Verhörmethoden, oder gar Folter, Dinge zugibt, an die er, möglicherweise durch entsprechende Suggestion, irgendwann selbst zu glauben beginnt.
Der Vergleich hinkt einfach, denn hier gesteht ja nicht jemand eine Tat, sondern behauptet zu wissen, wer der Täter ist. Vielleicht mag durchaus das Motiv dahinter stecken, Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu wollen, der Ehrgeiz, die Polizei "an der Nase rumzuführen", es mit dieser Geschichte bis zu XY zu schaffen.
Aber ich sehe da schon erhebliche Unterschiede im Vergleich zu jemanden, der sich selbst einer Tat bezichtig.