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Mordfall Hinterkaifeck

51.943 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Mord, Bauernhof, Hinterkaifeck ▪ Abonnieren: Feed E-Mail
Zu diesem Thema gibt es eine von Diskussionsteilnehmern erstellte Zusammenfassung im Themen-Wiki.
Themen-Wiki: Mordfall Hinterkaifeck

Mordfall Hinterkaifeck

23.06.2022 um 11:02
Zitat von DonislDonisl schrieb:An dieser Stelle wäre eine Antwort auf die Frage hilfreich, ob die Familie an einem Strang zog oder die Situation sowieso schon wegen Differenzen angespannt war.
a) Ob die Großfamilie hinsichtlich Finanzierung und Fortgangs des Neubaus noch an einem Strang zog, ist mir nicht bekannt. Die Inflation hatte den Bar(papier)geldwert gebeutelt und würde ihn vernichten. Aber das galt ja nicht für alle Assetklassen, über die Bauern damals verfügten und schon gar nicht bei Goldgeld.

a) Ob die Großfamilie generell wegen Differenzen untereinander angespannt war, läßt sich schon eher nachvollziehen. Zunächst einmal wird das davon abhängen, inwieweit man der Zeugin Sophie Fuchs zutraut, dass sie kindliche -im Alter von ca. 7 Jahren gemachte- Wahrnehmungen kurz vor dem Mord betr. Cilli in der Schule unverfälscht in ihrem Gedächtnis behalten, wiedergeben konnte und das auch getan hat.
Zur Vermeidung von Wiederholungen mein kürzlicher Beitrag: Beitrag von pensionär (Seite 2.497)

Folgt man Frau Fuchs wenigstens im Kerngeschehen, so gab es kurz vor der Tat ein Cilli beunruhigendes Erlebnis von erheblicher häuslicher Gewalt des Andreas Gruber entweder gegenüber seiner Frau oder Viktoria. Von Dir angesprochene "Differenzen" hätten sich damit in der Großfamilie tatzeitnah vor einem unbekannten Hintergrund generell sogar überdeutlich manifestiert.

b) Eine weitere mögliche ! frühere Differenz sehe ich im Verhalten zwischen Andreas Gruber und Viktoria gegenüber LS in der Vaterschaftsfrage.

Wie wir aus der Pielmayer-Zusammenstellung wissen, hat nach Aktenlage Andreas Gruber von LS 3000 Mark für das Kind Josef verlangt.

Ob das auch von Viktoria so gewollt war, scheint mir fraglich.

Vielleicht hatte oder hat sie im weiteren Ablauf klarer als ihr Vater erkannt, dass für die gut situierten Hinterkaifecker es (soweit gesetzlich überhaupt möglich) nicht primär auf Geld für Josef ankommen sollte. Sondern es stand die Existenz des Hofes auf dem Spiel und die Gefahr einer weiteren Verurteilung wegen Inzests mußte abgewendet wrden . Sie war es auch, die -nach der Aussage des LS- nachdem Andreas Gruber in Untersuchungshaft genommen worden war- ganz aufgelöst auf LS zukam und ihm u.a. versicherte, die Übernahme der Vaterschaft solle ihn nichts kosten.

c) Die familiäre Situation in Hinterkaifeck müßte aus meiner Sicht aber schon aus den bekannten Gründen, die in der dieser Großfamilienstruktur lagen, zumindest für Viktoria sich wegen der Kinder schon länger als bedenklich dargestellt haben. Die Kinder wuchsen heran und man mußte doch damit rechnen, dass in einem Dorf -bei aller möglicherweise vorhandenen Zurückhaltung gegenüber Kindern - in wenigen Jahren mindestens auf dem Schulhof Cilli unter Teenagern darauf angesprochen würde.


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23.06.2022 um 20:33
Ja, die häusliche Situation konnte man wohl nicht als harmonisch bezeichnen. Das muss aber nicht unbedingt bezeichnend sein.
Wo der Städter schon mal konsequent sein kann und sich selbst von unliebsamen Bekannten und auch Verwandten fernzuhalten in der Lage ist, ging es auf einem Einödhof und selbst in einer Gemeinschaft wie Gröbern nur miteinander.

Meiner Meinung nach reicht ein häuslicher Streit nicht, um was auch immer ins Rollen zu bringen. Immerhin wuchs die Viktoria mit diesem Vater auf diesem Hof auf, sie kannte ihre Welt.

Da sollte also noch eine weitere Komponente mit im Spiel sein, vielleicht eine wirtschaftliche oder eine die Zukunft betreffende. Kinder und was sie schwätzten sehe ich ohne Einfluss, dass kam erst lange nach dem zweiten Weltkrieg.


Für mich passt (bekanntlich) der Stationärmotor und Andreas Gruber nicht zusammen. Ein sechzigjähriger geiziger Provinzbauer, der sein Ackerland mit zwei Ochsen bestellt, überspringt nicht drei Entwicklungsstufen (Pferd, Wind, Dampfmaschine), um auf seine alten Tage den Schritt in die Zukunft zu wagen.

Der Mann hatte nicht einmal einen Windbrunnen, also eine windbetriebene Brunnenpumpe. Der Schlittenbauer schon, wenn ich mich recht entsinne - das Ding fiel doch mal einem Sturm zum Opfer.

Windbrunnen (die vielflügligen Propeller auf hohen (15-25m) Eisen-Gittermasten fanden um die Jahrhundertwende zunehmend Verbreitung. In Verbindung mit einem höhergelegten Speichertank ermöglichten sie die gesicherte Wasserversorgung einer kalkulierbaren Anzahl Stallvieh.


Screenshot 20220623-2027582Original anzeigen (0,2 MB)



Was ich damit sagen will ist, die Modernisierung des Anwesens Hinterkaifeck geschah wohl kaum aus der Inspiration des A. Gruber. Nichts spricht dafür.
Da bleibt als Verantwortliche für diese ganze Initiative (Motor, Transmissionswellen, Bauvorhaben) eigentlich nur die Viktoria. Naja, es war ja auch ihr Hof. Ihr Hinterkaifeck. Infolge jeder Logik sollte sie sich dafür eingesetzt haben, dass Maschinen die Arbeit erledigen … wenn schon kein Mann auf den Hof durfte.

Hier sehe ich die weitere Komponente des Konfliktes, denn immerhin - wenn es denn so war - betrafen Viktorias Ambitionen das Ersparte der Familie.


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Mordfall Hinterkaifeck

23.06.2022 um 20:53
Zitat von pensionärpensionär schrieb:Ob die Großfamilie
Wen meisnt du mit Grossfamilie ? Die Hkler ? Die Gabriels ?
Sorry ist mir nicht so ganzs klar. Vermutlich die Hkler oder ? Waren die so gross ?
Zitat von DonislDonisl schrieb:Meiner Meinung nach reicht ein häuslicher Streit nicht, um was auch immer ins Rollen zu bringen. Immerhin wuchs die Viktoria mit diesem Vater auf diesem Hof auf, sie kannte ihre Welt.
Trifft das auch zu wenn der alte Gruber sich auch so langsam der kleinen Celli annährte ?
Zudem darf man nicht vergessen, dass es auch die Oma betroffen hätte können. Und die litt wohl unter dem alten am Meisten.
War doch der kleine Joseph vll sogar von ihrem eigenen Mann ;)
Also ich kann mir nicht vorstellen, dass die so ganz ohne psychischen Schaden davon kam.
Zitat von DonislDonisl schrieb:Für mich passt (bekanntlich) der Stationärmotor und Andreas Gruber nicht zusammen. Ein sechzigjähriger geiziger Provinzbauer, der sein Ackerland mit zwei Ochsen bestellt, überspringt nicht drei Entwicklungsstufen (Pferd, Wind, Dampfmaschine), um auf seine alten Tage den Schritt in die Zukunft zu wagen.
Du darfst nicht vergessen, dass der Karl Gabriel auch kurz auf dem Hof war. Zwar nur kurz, aber es könnte 1914 ausgereicht haben, eben so einen Motor anzuschaffen.
Wenn ich mir die alten Höfe aus meiner Jugend so ansehe, gab es da kaum einen Alten auf dem Hof der Fortschritt ablehnte.
Damals kamen die ersten Lanz & John Deere Traktoren auf die Höfe.
Es dauert nicht sehr lange bis alle einen hatten. Ehrlich gesagt keine Ahnung wie die sich das alles damals finanzieren konnten.
Vermutlich der eine oder andere mit Schulden & Subventionen.
Ich hatte den Eindruck, dass es da auch um Ansehen ging.
Viel spater war das definitiv so. Da galt der Bauer mit den meisten PS auf dem Hof als der Angesehenste ;)
Viel PS = Viel Geld ;)
Zitat von DonislDonisl schrieb:Was ich damit sagen will ist, die Modernisierung des Anwesens Hinterkaifeck geschah wohl kaum aus der Inspiration des A. Gruber.
Wie gesagt muss es auch nicht. Reicht schon der "Gruppenzwang" aus dem Dorf aus. ;)


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23.06.2022 um 21:25
Zitat von Tron42Tron42 schrieb:Vermutlich die Hkler oder ?
Danke der Nachfrage. Richtig vermutet - von mir unklar formuliert. Viktoria und die beiden Kinder sähe ich als kleine Familie. Da Mutter und Vater bzw. Opa und Oma auch unter einem Dach mit allen zusammen in einem Haushalt wohnten, meinte ich halt, das sei eine Großfamilie. Wobei das natürlich relativ zu verstehen ist. Heutzutage für manche ein Wunschtraum - für andere ein Alptraum.


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23.06.2022 um 22:13
Zitat von Tron42Tron42 schrieb:Ich hatte den Eindruck, dass es da auch um Ansehen ging.
Viel spater war das definitiv so. Da galt der Bauer mit den meisten PS auf dem Hof als der Angesehenste ;)
Die meisten PS? Wieviel PS liefert ein Ochse ab? Ich meine es macht doch nur Sinn, wenn wir bei den Tatsachen bleiben ...

Zwei Ochsen und eine kaputte Zylinderkopfdichtung ... da sehe ich kein Ansehen.


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24.06.2022 um 00:21
Zitat von DonislDonisl schrieb:Für mich passt (bekanntlich) der Stationärmotor und Andreas Gruber nicht zusammen. Ein sechzigjähriger geiziger Provinzbauer, der sein Ackerland mit zwei Ochsen bestellt, überspringt nicht drei Entwicklungsstufen (Pferd, Wind, Dampfmaschine), um auf seine alten Tage den Schritt in die Zukunft zu wagen.
Vielleicht hast du nicht nur von Andreas Gruber eine falsche Vorstellung. Womöglich zum ganz Anwesen von Hinterkaifeck. Ich würde mal sagen, dass es zu dieser Zeit zig tausend solcher Betrieb gab die mit Ochsen fuhrwerkten. Und genau soviel die mit Kühen arbeiteten. So weit ich das noch auf dem Schirm habe wird in der Inventarliste auch ein Windrad geführt. Mit Pferden wurde meist nur auf gossen Höfen bzw. auf Gutsbetrieben gearbeitet. Und vor den 2. WK gehörten Traktoren auch auf solchen Betrieben nicht zum Alltag. Dampfmaschine wurden gemeinschaftlich betreiben. Genau wie grosse Dreschmaschinen. Ich glaube nicht mal, dass jeder Gutsbetrieb vor dem 2. WK. solch einen Maschinenpark besessen hat.

Also von drei Entwicklungsstufen überspringen nur weil auf Hinterkaifeck ein Stationärmotor angeschafft wurde; eventuell auch schon länger einer auf dem Hof war, halte ich für weit daneben. Überhaupt halte ich Hinterkaifeck wie man es heute in der Betriebswirtschafft ausdrückt für gut Aufgestellt.

Und noch was. Subventionen für die Landwirtschafft so wie sie heute zum tragen kommt gab es bis Ende der 60zigr Jahre nicht.


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24.06.2022 um 12:42
@schluesselbund
@Donisl
Zitat von schluesselbundschluesselbund schrieb:Ich würde mal sagen, dass es zu dieser Zeit zig tausend solcher Betrieb gab die mit Ochsen fuhrwerkten. Und genau soviel die mit Kühen arbeiteten.
Richtig. Ich habe noch ein Bild von meinem Opa und dessen Vater mit einem Ochsenfuhrwerk. Das wurde etwa 1925 aufgenommen. Der erste Traktor wurde etwa 1938 gekauft. Das heisst, dass mein Opa bis dahin mit Ochsen arbeitete. Und er war kein armer Bauer im Ort.


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24.06.2022 um 14:09
Ich kann die Aussage von @Hathora wegen der Nutzung von Ochsengespannen nur bestätigen.

Ich komme aus einem kleinen Bauerndorf und ich kann mich noch, allerdings als Kind, selbst daran erinnern, dass selbst da noch gegen Ende der 60 ziger/Anfang der ganz frühen 70 ziger kleinere Landwirte (heute würde man wohl Nebenerwerbslandwirte sagen), besonders die damalige "alte Generation", noch mit Tieren arbeitete und fuhr.

Eine Familie fuhr immer mit zwei "Kühen" (glaube die hatten keine Ochsen) bei uns am Haus vorbei auf Ihre Felder, eine andere mit einem Pferd. Das, obwohl in beiden Familien ein kleinerer Traktor vorhanden war. Diese wurden allerdings nur von der (damals) jungen Generation genutzt. Der Pferdenutzer stieg selbst erst auf den Traktor um, als das Pferd nicht mehr zur Arbeit eingesetzt werden konnte.

Auch daran lässt sich erkennen, wie "normal" der Einsatz dieser Tiere früher gewesen sein muss und Jahrzehnte danach für viele sogar noch lange Zeit wohl war.


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24.06.2022 um 19:54
Zitat von HathoraHathora schrieb:Richtig. Ich habe noch ein Bild von meinem Opa und dessen Vater mit einem Ochsenfuhrwerk. Das wurde etwa 1925 aufgenommen. Der erste Traktor wurde etwa 1938 gekauft. Das heisst, dass mein Opa bis dahin mit Ochsen arbeitete. Und er war kein armer Bauer im Ort.
Zitat von schluesselbundschluesselbund schrieb:Ich würde mal sagen, dass es zu dieser Zeit zig tausend solcher Betrieb gab die mit Ochsen fuhrwerkten. Und genau soviel die mit Kühen arbeiteten.
Die Frage lautet ja, hatten zu dieser Zeit die meisten Betriebe, die mit Ochsen etc arbeiteten auch Stationärmotoren? War das üblich zu der Zeit?
Zitat von DonislDonisl schrieb:Einigermassen interessant finde ich, dass im Zeitraum Januar 1922 bis März 1922 ein deutlicher Schub in Sachen Teuerung/Geldentwertung stattgefunden hat.
Ich finde das interessant, weil es in den letzten Wochen vor der Tat Konflikte mit potentiellen Käufern des Roggens etc, den die Familie noch auf dem Dachboden zur Tatzeit hatte, hätte geben können, wenn sie die nun deutlich erhöhten Preise an ihre Kunden hätten weitergeben wollen. Hätte durchaus als Wucher wahrgenommen werden können, wenn einem als Käufer das wirtschaftliche Verständnis und die dafür notwendige Gelassenheit dafür gefehlt hätte.
Zitat von pensionärpensionär schrieb:"Ich rechne"
"etwa"
"dürfte"
sind für mich Schätzungen aus der Zeit des Liebenswerbens mit Viktoria. Exakt wußte er das nicht, und sagte es auch so nicht aus.
Zitat von pensionärpensionär schrieb:Von wem wußte Bürgermeister Greger das alles ? Nicht zu Protokoll nachgefragt - die Gelegenheit dazu verpufft. "Äußerung" also : wann, wem gegenüber ?.
Heisst ja für mich, es ist nach dieser Aktenlage sehr zweifelhaft, ob 100.000 Mark geraubt worden sind.

Was bleibt nun als Motiv noch übrig?


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24.06.2022 um 20:41
Zitat von BlaubeerenBlaubeeren schrieb:Die Frage lautet ja, hatten zu dieser Zeit die meisten Betriebe, die mit Ochsen etc arbeiteten auch Stationärmotoren? War das üblich zu der Zeit?
In den 20ziger Jahren waren Stationärmotoren doch weit verbreitet. Da dürften auf den meisten Höfen einer gestanden haben.


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24.06.2022 um 20:42
Zitat von BlaubeerenBlaubeeren schrieb:Ich finde das interessant, weil es in den letzten Wochen vor der Tat Konflikte mit potentiellen Käufern des Roggens e
Das ist interessant. Was war da genau ? Kenne das nicht.


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Mordfall Hinterkaifeck

24.06.2022 um 21:47
Folgt man dem Zeugen Wenzeslaus Bley, soll LS später (1924) über das Geld/die Geldangelegenheiten der Ermordeten auch folgendes gesagt haben:
Im Jahre 1924 war ich einmal bei dem Wirt Schwaiger in Gröbern. Um 1/2 4 Uhr nachmittags kam auch Schlittenbauer in diese Wirtschaft. Außer uns beiden war niemand in der Wirtschaft anwesend. Wir sprachen über verschiedenes und zum Schluß über Geldangelegenheiten. Bei diesem Anlaß sagte ich, jetzt bräuchten wir halt das Geld der“Hinterkaifecker“. Schlittenbauer sagte darauf:“Die haben nicht so viel gehabt, als was die Leute immer sagten“.

https://www.hinterkaifeck.net/wiki/index.php?title=Aussagen:_1930-08-08_Bley_Wenzeslaus
Diese Relativierung ist aber halt auch wieder interpretationsbedürftig.

(Hervorhebung von mir.)


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Mordfall Hinterkaifeck

25.06.2022 um 11:35
Kriminalistisch kann damals wie heute die zutreffende Annahme des Motivs (oder auch eines Motivbündels !) für eine erfolgreiche Tätersuche entscheidend werden.

Für die Beweiswürdigung vor Gericht konnte damals wie heute ein zweifelsfrei festgestelltes Motiv (oder Motivbündel) ggf. indiziell bedeutend sein. Ebenso, inwieweit das Motiv auch Rückschlüsse auf die Geistesverfassung des Angeklagten ermöglicht.
Heute ist allerdings der § 211 StGB viel komplexer als damals gefaßt.

Für eine korrekte Subsumtion im Fall Hinterkaifeck muß ich mir deshalb dazu selbst immer wieder den Tatbestand des Mordes in § 211 RStGB des damals ! gültigen Reichsstrafgesetzbuches in Erinnerung bringen :

https://de.wikisource.org/wiki/Strafgesetzbuch_f%C3%BCr_das_Deutsche_Reich_(1871)#%C2%A7._211.
Vor der 1941 eingeführten Fassung lautete der Mordtatbestand gemäß der Fassung im Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 (RStGB):

„Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.“

Bei der Ausgestaltung des Mordtatbestandes orientierte sich der Gesetzgeber des Reichsstrafgesetzbuchs am Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten von 1851 (PreußStGB). Dessen § 175 lautete: „Wer vorsätzlich und mit Überlegung einen Menschen tötet, begeht einen Mord, und wird mit dem Tode bestraft.“

Eine vorsätzliche Tötung ohne Überlegung wurde als Totschlag mit Zuchthaus bestraft (lebenslang nach § 176 PreußStGB, nicht unter fünf Jahren nach § 212 RStGB), wobei unter „Überlegung“ in diesem Sinne eine ruhige besonnene Verstandestätigkeit im Gegensatz zu der durch den Affekt hervorgerufenen Aufgeregtheit verstanden wurde...

https://www.bundestag.de/resource/blob/383414/71ecf606bb1120831edeae1debf8276c/mord-und-totschlag-data.pdf
(Hervorhebungen von mir).


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Mordfall Hinterkaifeck

25.06.2022 um 13:41
Zitat von Tron42Tron42 schrieb:Das ist interessant. Was war da genau ? Kenne das nicht.
Basis meines Beitrags war die Tabelle, die @Donisl durch seinen zweiten Link verlinkt hatte. Hier zu finden:
Beitrag von Donisl (Seite 2.509)
Die Preise für 1 kg Roggenbrot stiegen round about um 70 Prozent in den letzten 3 Monaten vor der Tat nach oben.
Die Hinterkaifecker hatten 23 Zentner Roggen (lt Pielmayer '26) auf dem Dachboden.
Die Bauern waren die Profiteure der Inflation (zumindest im Vergleich zu regulären Arbeitnehmern oder Geldsparern), weil sie die durch die Inflation nach oben getriebenen Preise ihrer Güter direkt an ihre Abnehmer weitergeben konnten.
Zitat von pensionärpensionär schrieb:Eine vorsätzliche Tötung ohne Überlegung wurde als Totschlag mit Zuchthaus bestraft (lebenslang nach § 176 PreußStGB, nicht unter fünf Jahren nach § 212 RStGB), wobei unter „Überlegung“ in diesem Sinne eine ruhige besonnene Verstandestätigkeit im Gegensatz zu der durch den Affekt hervorgerufenen Aufgeregtheit verstanden wurde...
Ohne Überlegung scheint der von Reingruber am 5.4.22 dargestellte Tatablauf meiner Ansicht nach nicht abgelaufen zu sein.

Nach Reingrubers Bericht wäre die Tötung recht strukturiert und sukzessiv abgelaufen:
Warten an der Schwelle zum Stadel, den Stallgang entlang, am losgelassenen Vieh vorbei, Aufsuchen der Magd und des Kleinkinds in ihren Kammern, vor denen sich Blutflecken am Boden befanden, vor dem Kinderwagen auch - möglicherweise noch ein Abstellen des Tatwerkzeugs auf dem Boden - ein Innehalten vor den letzten Tötungen.

Weiterhin ein recht zielgerichtetes und -sicheres Schlagen mit solidem Werkzeug auf stets gleiche Stellen.. bei ca. 20 Schlägen insgesamt für 6 Opfer.
Hinzukommend eine Tatausführung knapp nach Eintreffen der Magd noch vor der Nachtruhe der Hausbewohner.

Da fällt es mir schwer, eine Tat ohne Überlegung anzunehmen. Erst recht nicht den Affekt, bei dem der Täter mehrmals die Gelegenheit und die Zeit gehabt hätte, diesen, bzw diese, zu überwinden.

Nichtsdestotrotz hatten die Taten meiner Meinung nach psychologisch (allgemein ausgedrückt) stark ausgeprägte Tatanteile, wie zbsp in Form der Abdeckungen der Leichen und die Art und Stelle der Leichenablagestelle (direkt im Weg zum Übergang in den Stall und Wohnbereich liegend und unmittelbar am Tötungsort ohne sie wegzuschieben - tw. so, wie sie fielen.

Auf den ersten Blick muss der Anblick verrückt gewirkt haben oder "irre".

Auf den zweiten Blick scheint der Ablauf klar.


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Mordfall Hinterkaifeck

25.06.2022 um 15:36
Zitat von BlaubeerenBlaubeeren schrieb:Auf den zweiten Blick scheint der Ablauf klar.
Dem stimme ich zu. Die Frage wäre, ob im Sinne der juristischen Ausführungen von @pensionär der Anfang der Tat ebenso als
Zitat von pensionärpensionär schrieb:Tötung mit Überlegung
zu sehen wäre. Wenn die Tat im Affekt begann, dann könnte die erste Tötung als Totschlag gesehen werden, die fünf weiteren als Morde, die zur Verdeckung des Totschlages dienten.
Zitat von pensionärpensionär schrieb:Schlittenbauer sagte darauf:“Die haben nicht so viel gehabt, als was die Leute immer sagten“.
Er taucht in der Topographie dieses Falles immer wieder auf, der gute Lorenzi.


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25.06.2022 um 15:55
Zitat von EdgarHEdgarH schrieb:Er taucht in der Topographie dieses Falles immer wieder auf, der gute Lorenzi.
...vor allem dann, wenn keine falschen Kausallitäten hergestellt werden!


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Mordfall Hinterkaifeck

25.06.2022 um 16:39
@Blaubeeren
@totto
Wie die vernommenen Zeugen Schlittenbauer, Pöll und Siegel angaben, war bei ihrer Ankunft im Stalle ein Rind losgekettet gewesen. Vielleicht ist durch diese im Stalle entstandene Unruhe eines von den Ermordeten und vielleicht die Viktoria Gabriel in den Stall gegangen, dort niedergeschlagen und in die Tenne geworfen worden. Die weiteren Personen dürften infolge längeren Ausbleibens der Ersteren nach und nach zur Nachschau in den Stall nachgefolgt sein.
https://www.hinterkaifeck.net/wiki/index.php?title=Berichte:_1922-04-06_Reingruber_Georg
a) Folgt man diesem hypothetischen Ansatz von Oberinspektor Reingruber mit "vielleicht" und "dürften", so bestünde gegenüber dem Täter X Tatverdacht auf Mord in in 6 Fällen. Denn wer auch immer vor der Tat ein Rind loskettete, um die Opfer in den Stall (oder zum Türchen vom Stallgang zum Stadel zu locken) - es ist dann anzunehmen dass er mit Mordabsicht gekommen war und überlegt mit Mordabsicht auch gegenüber den im Haus verbliebenen Opfern gehandelt hat. Der Trick der Schmaderer-Bande.

b) Es gab/gibt ? hier aber schon früh noch eine andere Fraktion von usern, welche nicht die Auffassung hatte/hat, dass Tötungen vorgeplant und trickreich eingefädelt waren.
Sie gehen eher in etwa davon aus, dass eine Art vereinbarte Aussprache mit der Frau, welche die Würgemale aufwies, stattfand.
Zitat von pensionärpensionär schrieb:„Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.“
= § 211 StGB nach dem Reichsstrafgesetzbuch.

Nach dieser Variante könnte es bei der Aussprache zu einem heftigen Affekt beim Täter gekommen sein, der zum Würgen und Erschlagen des ersten Opfers führte.

Nimmt man es so an, kann es auf den mentalen Zustand bei der zweizeitigen (Würgen/Schlagen) Tatbegehung ankommen, inwieweit die Tötung "mit Überlegung" i. S. des § 211 a.F. ausgeführt wurde. Denn:
Zitat von pensionärpensionär schrieb:wobei unter „Überlegung“ in diesem Sinne eine ruhige besonnene Verstandestätigkeit im Gegensatz zu der durch den Affekt hervorgerufenen Aufgeregtheit verstanden wurde...

https://www.bundestag.de/resource/blob/383414/71ecf606bb1120831edeae1debf8276c/mord-und-totschlag-data.pdf
Da ein prolongiert sich entladender Affektstau zusätzlich auch auf die weiteren 5 Opfer m. E. sehr unwahrscheinlich ist, wäre bei diesen weiteren Fällen eher die Annahme eines Mordes nach § 211 a. F. aus strafrechtlicher Sicht erwartbar.

Bei dem zu b) dargestellten möglichen Tatablauf wäre deshalb m. E. aus strafrechtlicher Sicht (nur) Totschlag beim ersten Opfer - aber Mord in den weiteren 5 Fällen diskutabel.
Zitat von EdgarHEdgarH schrieb:... Wenn die Tat im Affekt begann, dann könnte die erste Tötung als Totschlag gesehen werden, die fünf weiteren als Morde, die zur Verdeckung des Totschlages dienten.
Ja @EdgarH. Ein Mord"motiv" brauchte es nach der alten Fassung des § 211 StGB dann allerdings gar nicht, sondern nur der "Überlegung" im Sinne der damaligen Gesetzeslage und Rechtsprechung. Einfach war der alte § 211 Reichsstrafgesetzbuch in der Auslegung damals aber damit durchaus gar nicht.


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Mordfall Hinterkaifeck

25.06.2022 um 19:13
@totto
Zitat von jaskajaska schrieb am 13.06.2022:Wir hatten ja schon die unbeantworteten Fragen zu der damals gültigen Brandschutzverordnung und deren Ausgestaltung.
Jetzt kommst Du mit weiteren Vorschriften ums Eck. Deshalb konkret die Frage:
was ist die Quelle und der genaue Wortlaut für die Vorschriften, die Du hier anbringst:
Da stehen noch etliche Fragen im Raum, die aktuellste ist oben zitiert.
Na wie wärs? Zur Abwechslung mal was Faktisches?


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26.06.2022 um 11:37
@jaska

Solche Fragen mögen vielleicht einen Historiker zu der Zeit um 1920 interessieren; für die Tätersuche und dessen Identifikation sind sie so unnötig wie ein Kropf – enden meistens in falschen Kausalitäten und dienen hauptsächlich zur Ablenkung der „faktischen“ Tätersuche.

PS: wenn es noch Fragen zu weiteren belanglosen Dingen gibt - fernab vom Mordfall – so sind Antworten dazu ab dem Jahre 2010 in ausreichenden Maße und voll umfänglich vorhanden. Ich beschäftige mich jedenfalls damit kein zweites mal.


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26.06.2022 um 12:59
Zitat von pensionärpensionär schrieb:Ja @EdgarH. Ein Mord"motiv" brauchte es nach der alten Fassung des § 211 StGB dann allerdings gar nicht, sondern nur der "Überlegung" im Sinne der damaligen Gesetzeslage und Rechtsprechung. Einfach war der alte § 211 Reichsstrafgesetzbuch in der Auslegung damals aber damit durchaus gar nicht.
Danke @pensionär für die Darlegung! V.a. muss ein Gericht diese Überlegung nachweisen, dass ist mitunter schwerer, als ein Motiv zu beweisen.

Ich kann mir eine „Mischtat“, also eine im Affekt begonnene Tat, die sich aufgrund der Würgemale gegen VG gerichtet haben dürfte, die demnach das erste Opfer gewesen wäre, die dann 5 weitere Morde als Verdeckungstat zur Folge hatte, sehr gut vorstellen.
Zitat von tottototto schrieb:...vor allem dann, wenn keine falschen Kausallitäten hergestellt werden!
Man muss die Dinge so sehen, wie sie sind. Und ich kenne keinen zweiten ungelösten Mordfall, bei dem ein Tatverdächtiger dermaßen oft mit Äußerungen, Handlungen auffällig wird, wie LS bei HK. Man muss kein Stochastikexperte sein, um die geringe Wahrscheinlichkeit der Aneinanderreihung solcher „Zufälle“ zumindest immer wieder kritisch anzumerken.


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