CorvusCorax schrieb:Ich könnte mir das nur in die Richtung vorstellen, dass die Familie über einen Anwalt jetzt das "Heft in die Hand" nimmt, um überhaupt einen Einblick in die Ermittlungen zu erhalten, ob da alles Erforderliche und Notwendige getan wurde und wird. Die Familie erhält ja sonst genauso wenig wie die Öffentlichkeit irgendwelche Informationen.
Nein, das ist in meinen Augen eine ziemlich falsche Vorstellung!
Wie soll denn bitte die Familie überhaupt beurteilen können, ob alles Erforderliche und Notwendige getan wird und wurde.
Privatpersonen haben doch in den allermeisten Fällen überhaupt nicht die notwendige Fach- und Sachkenntnis um das beurteilen zu können. Und anders als in Krimis, in denen dann der Anwalt irgendwelche Ermittlungen übernimmt oder einen mit ihm befreundeten Privatdetekiv damit beauftragt, kann selbst ein Anwalt das in der Regel nicht beurteilen.
Zudem dürften Angehörige in einem ungelösten Vermisstenfall so gut wie immer der Meinung sein, dass die Ermittler nicht genug und/oder nicht das richtige getan haben, um den Fall zu lösen. Ich erinnere mich da besonders an zwei sehr unschöne Vermisstenfälle in Deutschland, in denen die Mütter der vermissten jungen Frauen eine regelrechte öffentliche Schlammschlacht gegen die Ermittler gefahren haben, weil diese nicht das getan haben, was in den Augen der Mütter notwendig war.
Natürlich möchte man als Angehöriger immer, dass von Seiten der Ermittlungsbehörden absolut ALLES getan wird, um das eigene Kind zu finden. Aber wenn bestimmte Untersuchungen ohne Ergebnis verlaufen, dann macht es oft einfach keinen Sinn, weiter zu ermitteln. Um Ermitteln zu können, braucht man Spuren, denen man nachgehen kann. Und wir leben hier - und für Frankreich gilt das gleiche - in einem Rechtsstaat, in dem auch die Befugnisse der Ermittler Gott sei Dank eingeschränkt sind.
Die können und dürfen also nicht alles machen, was die Angehörigen als zielführend und angebracht empfinden.
Nein, Gott sei Dank ist es nicht Aufgabe und Befugnis der Angehörigen, bei Ermittlungen das "Heft in die Hand zu nehmen" und die Arbeit der Ermittler zu kontrollieren, zu beurteilen und zu lenken.
frauZimt schrieb:Ich glaube auch nicht, dass die französische Justiz zulässt - jetzt allgemein gesprochen, nicht in diesem speziellen Fall - Täter einen Vorteil bekommen, in dem sich auf den neuesten Ermittlunggsstand gebracht werden.
Vielleicht liest man dazu ja noch Konkreteres.
Aber gerade in einem ungeklärten Fall weiß man doch nie, von wem die Ermittlungen später ergeben, dass er als möglicher Täter in Frage kommt.
Ich meine damit nicht einmal, dass sich rausstellen könnte, dass ein Familienmitglied Täter sein könnte. Aber selbst wenn nur die direkten Angehörigen, also Vater und Mutter des Kindes in die Akten schauen dürften, sie hätte doch sicher das Bedürfnis, sich mit den Großeltern, den anderen Familienangehörigen oder meinetwegen auch ihren besten Freunden darüber auszutauschen.
Und die erzählen es wiederum ihren besten Freunden, deuten beim Nachbarn etwas an, etc. etc. Man kann von niemandem verlangen, erwarten und v.a. für niemanden garantieren, dass er über das dort gelesene 100%iges Stillschweigen bewahren würde.
Und deshalb kann man auch nicht davon ausgehen, dass das Wissen aus den Akten irgendwie an den tatsächlichen Täter gelangt, selbst wenn der nicht selber in die Akten gucken kann.
Und ich bitte auch noch einen anderen Aspekt zu berücksichtigen:
In diesen Akten dürften teilweise sehr private und intime Informationen zu vielen Menschen aus dem persönlichen Umfeld der Familie stehen.
Wenn ein Nachbar angegeben hat, zum Zeitpunkt von Emils Verschwinden bei seiner Geliebten, im Puff, im Sexshop oder sonstwo gewesen zu sein, dann ist das eine sehr vertrauliche Info, von der er sicher nicht möchte, dass seine streng religösen und konservativen Nachbarn, die als Familie in die Akten schauen dürften, davon erfahren.
Das ist jetzt ein überspitztes Beispiel, bei dem sicher jeder sagen würde, dass er nicht will, dass das sein Nachbar (oder seinen Ehefrau!) aus den Ermittlungsakten erfährt.
Aber tatsächlich ist es doch völlig egal, was ich als Alibi angegeben habe. Selbst wenn mein Alibi völlig harmlos war, ich also bei Aldi zum einkaufen war, meine alte Mutter im Altersheim besucht habe oder einfach nur auf der Arbeit war: meinen Nachbarn geht auch das nichts an. Es ist ein Einblick in meine Privatsphäre, der im nicht zusteht. Wo will ich das die Grenze ziehen?
Und was ist, wenn ein Nachbar kein Alibi hat? Vielleicht als einziger im ganzen Dorf? Was wenn die Angehörigen sich allein deswegen auf ihn als möglichen Täter einschießen? Sich sicher sind, dass er etwas weiß?! Es muss nicht mal soweit gehen, dass man sich vorstellt, dass sie ihn bedrohen, um ein Geständnis aus ihm raus zu bekommen. Es reicht schon, dass sie anderen vielleicht von ihrem Verdacht erzählen, dass so Gerüchte, Verdächtigungen, Argwohn und das Misstrauen entstehen.
So unbefriedigend das für Angehörige ist, dass sie oft auch nur sehr begrenzte Informationen zum Stand der Ermittlungen haben, es hat absolut seinen Sinn, dass sie nicht in die Akten reinschauen dürfen und dass es bei der Polizei ein Dienstgeheimnis gibt, so dass sich Zeugen auf Vertraulichkeit verlassen können.