Rick_Blaine schrieb:In gewisser Weise ist das richtig. Eine Zeugenaussage wurd zum Indiz, wenn sie 1. mit der Tat zu tun hat (relevant ist) und 2. glaubwürdig ist. Glaubwürdig ist sie, wenn weder besonderer Be- noch Entlastungseifer, wie wir Juristen das oft nennen, zu bemerken ist, noch wenn sie nachweislich auf Unwahrscheinlichkeit oder Unmöglichkeit beruht.
Ich will das mal an Beispielen versuchen zu verdeutlichen:
Es wird angenommen, dass Toni am Sonntag um 2.30 Uhr nachts in der Ochsengasse eine Frau überfallen und getötet hat.
Es melden sich drei Zeuginnen:
1. Zenzi: sie kennt den Beschuldigten, sie wohnt in der Ochsengasse, etwa 200m vom Tatort entfernt, und sie gibt an, ihn gegen 2.25 Uhr an ihrem Haus vorbeigehen gesehen zu haben. Ihr Fenster im Erdgeschoss ermöglicht einen klaren Blick auf die Ochsengasse. Sie sagt, genau zu diesem Zeitpunkt aufgestanden zu sein, auf ihre Uhr geschaut zu haben und zur Toilette gegangen zu sein, wobei sie an dem Fenster zur Strasse vorbeikommt. Da hat sie auf die Strasse geschaut und den Toni gesehen. Den Toni habe sie an seinem auffälligen Bart erkannt, denn er trägt stolz einen mehr als 50cm langen Bart. Direkt vor ihrem Fenster steht eine Strassenlaterne, in deren Licht man ihn klar habe erkennen können.
All das klingt plausibel. Dann aber erfährt die ermittelnde Staatsanwaltschaft: a) Die Laterne ist um diese Uhrzeit abgeschaltet, sie leuchtet nachts nur bis 2 Uhr. Und b) Toni hat ihr vor einem Jahr mal einen Korb gegeben, was sie ihm nie verziehen hat und vielen Bekannten und Freunden immer wieder erzählt hat, dass sie eines Tages "Rache" üben werde.
Das sind zwei Probleme: Kann man zweifelsfrei im Dunklen einen Mann erkennen, der vor dem Haus vorbeigeht, vor allem seinen langen Bart? Und es weist einiges darauf hin, dass diese Zeugin einen besonderen Belastungseifer haben kann, denn sie will "es dem Toni heimzahlen."
2. Zulmara: sie wohnt im gleichen Haus wie Zenzi und sagt, dass sie genau zum gleichen Zeitpunkt aus ihrem Fenster im 3. Stock geschaut habe, und vor dem Haus garantiert niemanden gesehen habe. Sie offenbart allerdings auch, dass sie eine Liebesbeziehung zu Toni hat, sie ist der Grund, warum Toni damals die Zenzi hat sitzenlassen. Sie kann keinen Grund angeben, warum sie eigentlich um diese Zeit aus dem Fenster geschaut haben will. Sie sagt einfach, sie konnte nicht schlafen. Vom 3. Stock aus kann man allerdings das Trottoir vor dem Haus nur einsehen, wenn man sich wirklich weit aus dem Fenster lehnt.
3. Zarah. Diese wohnt im Haus gegenüber der anderen beiden Zeuginnen. Sie arbeitet als Krankenschwester und sei gegen 2 Uhr aus der Nachtschicht nach Hause gekommen. Sie habe sich umgezogen, einen Tee gekocht und habe dann, es muss wohl gegen 2.30 Uhr gewesen sein, ihren Dackel Wastl angeleint und sei mit ihm zum Gassi gehen vor das Haus getreten. Dabei hat sie gesehen, wie am gegenüberliegenden Haus ein Mann vorbeigelaufen sei. Dieser habe einen langen Bart gehabt. Sie konnte das sehen, weil gerade in dem Moment ein Auto durch die Ochsengasse fuhr, dessen Scheinwerfer die Strasse kurz ausleuchteten.
Nun muss das Gericht die drei Aussagen bewerten: Zenzi gibt zwar eine Beschreibung ab, die recht plausibel klingt, hat aber offensichtlich einen Belastungseifer. Sie behauptet, Toni im Licht der Laterne erkannt zu haben, was zu dem angegebenen Zeitpunkt nicht sein kann. Von einem Auto sagt sie nichts. Das Gericht ist nicht überzeugt, vor allem wegen der unzutreffenden Angabe über das Laternenlicht.
Zulmaras Aussage ist das Gegenteil: sie ist sich 100% sicher, dass niemand dort entlang gelaufen ist, schon gar nicht ihr Liebhaber Toni. Aber, aus dem Fenster kann sie die gesamte Strasse gar nicht genau überblicken. Ausserdem ist es durchaus möglich, dass jemand im Dunklen an dem Haus vorbeigeht, ohne dass man zwangsläufig dies vom 3. Stock aus bemerken müsste. Daher ist diese Aussage nichts Wert, zumal hier noch ein Entlastungseifer naheliegt. Auch hat sie weder die Zeugin Zarah und deren Wastl noch ein Auto erwähnt. Das Gericht verwirft auch ihre Aussage.
Zarahs Aussage hingegen ist ebenfalls in sich stimmig: sie kennt den Toni nicht, hat also keinen Grund ihn fälschlich zu belasten oder zu entlasten. Der von ihr angegebene Zeitpunkt klingt plausibel, da es ihre Routine ist, nach der Nachtschicht mit Wastl Gassi zu gehen und das Ende der Nachtschicht, ihr Heimweg etc. konnten klar nachgeprüft werden. Zwar kann sie nicht "beweisen," dass in dem Moment ein Auto durch die Ochsengasse fuhr und diese erleuchtete, aber es ist durchaus möglich. Sie erkannte, ohne Toni zu kennen, ausgerechnet das Merkmal, das ihn sehr aus allen Männern der Kleinstadt heraushebt: den langen Bart. Sie hat auch eine plausible Erklärung, warum sie diesen Bart erkennen konnte, trotz der nächtlichen Dunkelheit. Diese Aussage dürfte wohl ein vom Gericht ernst genommenes Indiz sein.
Wie man sieht, betrachtet ein Gericht durchaus alle möglichen Aspekte einer Zeugenaussage, und kann diese als belastendes - oder entlastendes - Indiz bewerten, auch wenn nicht jeder einzelne Teil einer Aussage nachprüfbar ist (z.B. das von Zarah genannte Auto).
Sehr sehr schön geschrieben, als ob man dabei gewesen wäre! 😀 Danke dafür!
Wenn ich dein Beispiel auf diesen Fall übertrage, komme ich zu folgenden Überlegungen, bitte berichtigen bei Denkfehlern.
Die Sichtungszeugenaussagen, die es in den Prozess geschafft haben, wurden im Vorfeld auf Glaubwürdigkeit geprüft : Sie kannten ST nicht, die angegebenen Zeiten passen zu GPS Daten, Kamera-Aufzeichnungen und anderen Zeugenaussagen.
Andere Zeugenaussagen, die keinen Jogger gesehen haben, waren nicht relevant, weil es nicht bedeutet, dass er nicht da war, nur weil sie ihn nicht gesehen haben oder keine Erinnerung mehr daran haben.
Aussagen, die von einer Joggersichtung zu komplett anderen Zeiten oder anderen Örtlichkeiten berichteten, kamen im Prozess nicht zur Sprache, weil sie entweder nicht glaubwürdig waren, oder mit Handydaten etc. nicht übereinstimmten, oder weil der StA diese Sichtungen für nicht relevant hielt?
Indizien dafür, dass ein Jogger unterwegs war, sind also vorhanden. Da es nicht wahrscheinlich ist, dass um die Uhrzeit sehr viele joggen gehen, und sich ST als Jogger gemeldet hat, wird man davon ausgehen können, dass es sich um ST handelt.
Die Aussage des Mithäftlings: Natürlich sehr relevant (1.)
2. Belastungseifer könnte man annehmen, wenn er sich einen Vorteil durch die Aussage versprechen würde, was er ja selbst eingestanden hat.
Unmöglichkeit liegt nicht vor, er war nachweislich mit ST in Haft, vmtl. wurde auch bei den Vollzugsbeamten erfragt, ob es Unterhaltungen gegeben habe.
Wahrscheinlichkeit wurde abgeklopft, durch die Analyse des Inhalts, die Fragen zum Zugang zu Zeitungen und auch seinem persönlichen Umgang mit der Wahrheit. Die Wahrscheinlichkeit ist dann Auslegungssache der RichterInnen?
Aber für ein Indiz dann insgesamt zu schwach oder?
Aussage von V zu Täterwissen: 1. Relevant
2. Belastungs-/Entlastungseifer liegt vermutlich abwechselnd beides vor. Beziehung zu Opfer vorhanden.
Möglichkeit: Der Bericht von V über Spaziergang etc. war nach Handyauswertung und Zeugenaussagen von Schwester und Freund so nicht möglich? Irgendein Gespräch war natürlich schon möglich.
Wahrscheinlichkeit: ????? Sprachnachricht an Schwester vs. Erinnerung am Weg zur Berufsschule, alles sehr dünn.
Wieder zu schwach um das als Indiz zu werten, oder?
Aussage von V zu Geständnis:
1. Relevanz fraglich. Ein schlechter Witz, oder Ironie ist nicht relevant.
2. Belastungs-/Entlastungseifer fraglich, Beziehung zu Opfer
Möglichkeit: Angaben zu Zeit und Ort konnten verifiziert werden, weitere Zeugen bestätigen Aussage
Wahrscheinlichkeit: weitere Zeugen bestätigen Aussage
Wäre am ehesten ein Indiz, aber nicht unbedingt tatrelevant.
Darf ich dich noch nach deiner Beurteilung der Zeugenaussagen fragen, da du ja eher zu einer Verurteilung tendieren würdest und viel Praxiserfahrung hast?
Rick_Blaine schrieb am 10.03.2024:Entscheiden muss nun die Kammer. Aber ich erlaube mir hier einmal meine persönliche Meinung, wohl wissend, dass ich nur einen kleinen Ausschnitt des ganzen Verfahrens, gefiltert durch die Berichterstatter, kenne. Ich habe lange gezögert mich zu entscheiden, aber inzwischen würde ich, wenn ich auf der Richterbank sitzen würde - und wie gesagt, wenn sich im Verfahren nicht uns unbekannte Fakten noch finden - den Angeklagten verurteilen. Aber ich bin nicht Richter in diesem Verfahren sondern nur Zuschauer.