JosefK1914-2 schrieb:Natürlich ist ein Urteil immer nur eine Interpretation mit dem Ziel ein Ergebnis zu erhalten, was unter den damaligen Kenntnissen die höchste Wahrscheinlichkeit darstellt. Ob es die Wirklichkeit widerspiegelt, weiß niemand. Wer mehr darin sieht, macht sich nur etwas vor.
Ich muss hier mal eine Lanze für
@JosefK1914-2 brechen, auch wenn mir klar ist, dass es vermutlich als Stich in ein Wespennest interpretiert werden wird. Ich gehe mal davon aus, dass
@JosefK1914-2 kein Jurist ist, und daher erwarte ich auch nicht, dass er hier immer alle Begriffe unserer Fachsprache gerecht verwendet. Aber ich denke, es wird ziemlich klar, was er hier gemeint hat.
Und da liegt er gar nicht so falsch. Denn die Frage ist berechtigt:
Venice2009 schrieb:Warum gibt es denn überhaupt Fehlurteile? Eigentlich müsste es ausgeschlossen sein, wenn man hier so liest. Wie erklärt man diese?
@Seps13 hat versucht die Frage hier zu beantworten:
Seps13 schrieb:Venice2009 schrieb:
Warum gibt es denn überhaupt Fehlurteile?
Ja, warum gibt es die? Da muss schon einiges an Fehlern zusammenkommen. Ermittler liegen falsch, der Staatsanwalt und die Strafkammer, bestehend aus 3 Berufsrichtern und 2 Schöffen, dann noch der Senat beim BGH. Die Verteidigung schafft es auch nicht, die Fehler überzeugend aufzudecken. Wenn das die Regel wird, muss man wirklich am Justizsystem oder am Rechtsstaat zweifeln. Was sollte man ändern?
Das Problem ist, wie die Praxis in zahlreichen Fällen bewiesen hat, nicht, wieviele Leute am Ende zu einem Urteil gekommen sind. Ob es nun Berufsrichter allein, Berufsrichter und Laienrichter zusammen, sind, ob es fünf sind wie in Deutschland oder viel mehr, wie z.B. in Italien, oder gar nur Laienrichter, wie in den USA, es ist am Ende egal. Tatsache ist, dass - und ich lasse hier mal alle vordergründigen Motive beiseite - egal wieviele Leute sich hier ernsthaft bemüht haben, ein "richtiges" Urteil zu fällen, es sein kann, dass sie es eben nicht getan haben. Die Lebenswirklichkeit hat eben Fälle, in welchen es am Ende auf eine Interpretation der vorliegenden Beweise ankommt, und den Richtern keine weiteren Handwerkzeuge zur Verfügung stehen als ihr gesunder Menschenverstand, ihre Bildung, und die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die zur Zeit des Urteils zur Verfügund stehen. Und das alles kann immer noch zu einem falschen Urteil führen.
Ich will es mal an einem recht einfachen Beispiel deutlich machen, ein Wiederaufnahmeverfahren, das ich selbst -freilich nicht allein sondern mit einem Team von erfahrenen anderen Juristen und Wissenschaftlern- erfolgreich durchgeführt habe.
Was hat sich dem Tatsachengericht geboten: Ein Mensch, der offensichtlich durch gehörige Gewalt ums Leben gekommen ist. Einige Tatortspuren, die so oder so interpretiert werden können. Kein "rauchender Colt" in der Hand eines Tatverdächtigen, der brav am Tatort auf die Polizei gewartet hat. Nichts dergleichen. Die Polizei musste erst einmal mühsam ermitteln, den Hintergrund des Opfers, die Umstände rund um den Tatort und so weiter. Es musste ermittelt werden, wer und wann eventuell am Tatort gewesen sein könnte, Motive, die z.B. in der Person des Opfers liegen könnten und so weiter. Das ist das tägliche Brot der Polizei und der sie beaufsichtigenden Staatsanwaltschaft.
Die Polizei bildet daraus dann eine oder mehrere Hypothesen, die vielleicht (!) den Tatverlauf richtig darstellen.
Ich versuche es mal kurz zu machen. Wie in den meisten Ermittlungen hatte die Polizei zunächst anscheinend auch ein wenig Glück. Es gab einen Hinweis einer Zeugin, die auf eine Person hinwies, die eventuell die Tat begangen haben könnte. Es gab noch ein paar andere Hinweise auf andere Personen.
Die Polizei ermittelte nun weiter und stellte fest: es gab tatsächlich eventuell drei Personen, welche für die Tat verantwortlich sein könnten. Nun werden diese möglichst weitgehend untersucht, ihr Hintergrund durchleuchtet, nach möglichen Alibis, nach Motiven usw.
Schon aber fand die Polizei sich vor einer gewissen Mauer. Zwei der drei Personen waren unauffindbar in der Versenkung verschwunden, so dass man mit diesen Ermittlungen nicht weiter kam. Bei der dritten Person war das anders. Dieser konnte man habhaft werden. Zwar gelang es nie einen direkten Bezug dieser Person zum Opfer nachzuweisen, aber die Tatumstände könnten eine zufällige Begegnung plausibel machen.
Nun konzentrierte sich die Polizei auf diese Person. Was sie herausfand war, dass zunächst einmal nichts klar
gegen eine Tatbeteiligung dieser Person sprach. Man ermittelte also weiter. Und, tatsächlich, es ergab sich eine relativ schlüssige Hypothese, dass diese Person den Mord verübt haben könnte. Immer noch - und bis heute - gab es keine völlig eindeutigen Beweise. Dennoch, die Staatsanwaltschaft fühlte sich ermutigt, auf der richtigen Spur zu sein. Gleichzeitig wurden weiterhin alle Register gezogen, um die Hypothese zu stützen. Forensische Wissenschaftler wurden bemüht, den Tatverlauf möglichst präzise darzustellen.
Die Forensiker konnten allerdings in bestimmten Punkten nur grobe Grenzen setzen: zum Beispiel die Tatzeit: sie sagten, die Tat habe sich in einem 12-Stunden Fenster ereignet.
Irgendwann musste sich die Staatsanwaltschaft entscheiden: und sie entschied, ja, alles, was ermittelt worden war konnte eine schlüssige Theorie sein, und nach dieser war die verdächtige Person schuldig. Man brachte das alles zur Anklage und die Richter entschieden nach langer Hauptverhandlung, dass die Angeklagte schuldig war.
Die Angeklagte selbst beharrte die ganze Zeit darauf, unschuldig zu sein.
Fall abgeschlossen. Die nun Verurteilte trat eine sehr lange Haftstrafe an.
Eine Revision bescheinigte dem Gericht, keine Verfahrensfehler begangen zu haben. Das Urteil war rechtskräftig. Die Verurteilte beharrte weiter auf ihrer Unschuld. Es gab einige Leute, die das ebenso sahen, aus verschiedensten Motiven heraus, und den "Kampf" der Verurteilten unterstützten, finanziell, moralisch usw., um ihre Unschuld zu beweisen.
Einige Jahre gingen ins Land, und dann geschah etwas Interessantes. Der Fall erregte die Aufmerksamkeit einer Gruppe von sehr engagierten und sehr erfahrenen Juristen, die sich zur Aufgabe gemacht hatten, Fälle zur Wiederaufnahme zu bringen, in welchen wissenschaftliche Methoden neue Erkenntnisse erlauben.
Und, das hört sich weitaus einfacher an als es ist, aber am Ende stellten wir fest: heute, Jahre nach dem Urteil, gab es Methoden, die weitaus präzisere Angaben zum Tatverlauf ermöglichen. Hatte die Forensik zur Zeit des Urteils noch sagen müssen: wir können die Tatzeit nur auf einen Zeitraum von 12 Stunden festlegen, sagten Wissenschaftler heute: jetzt können wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass die Tat nur in einem Fenster von ca. 4 Stunden verübt werden konnte.
Und das war der entscheidende Punkt: die Verurteilte hatte für die ursprünglichen 12 Stunden kein Alibi. Für die nun nur noch in Frage kommenden 4 Stunden aber hatte sie ein Alibi. Es konnte nachgewiesen werden, dass sie in diesen 4 Stunden keinesfalls am Tatort gewesen sein konnte, weil sie ganz woanders war.
Mit dieser Erkenntnis konnte eine Wiederaufnahme erreicht werden und diese führte schliesslich zu einem Freispruch.
Um es zusammenzufassen: als das ursprüngliche Urteil gefällt wurde, konnte jeder zustimmen: die Theorie der Staatsanwaltschaft
könnte zutreffend sein. Die Verurteilte könnte die Tat begangen habe in den 8 Stunden, für die sie kein Alibi hatte.
Jetzt war klar: die Wissenschaft schliesst das aus. Also hatte es ein Fehlurteil gegeben, die Verurteilte war jahrelang unschuldig in Haft.
Die Richter damals mussten entscheiden, ob die vorliegenden Interpretationen, wissenschaftlichen Rekonstruktionen der Tat und so weiter schlüssig belegen, dass die Tat von der Angeklagten verübt wurde. Mit bestem Gewissen entschieden sie so - und entschieden falsch!
Das ist das Problem aller menschlichen Justiz. Welche Folgen wir daraus ziehen sollten und ziehen, ist ein anderes Thema. Aber man muss sich klar machen, dass niemand behaupten kann, immer und zu jeder Zeit zweifelsfrei das Richtige zu entscheiden. Oder wie sagte der Bischof damals: "Der Mensch ist kein Vogel, es wird nie ein Mensch fliegen!" (Schneider von Ulm). Damals richtig, heute fliegen wir sogar zum Mond.
Seps13 schrieb:Wir alle kennen das Urteil nicht und ich behaupte trotzdem mal, der WA wird keinen Erfolg haben.
Begründung: Die Richter werden hier alle Indizien sorgfältig untersucht und gewürdigt haben, die Verteidigung hat nichts in der Hand, weil ein Unfall tatsächlich unplausibel ist und die eingereichten Beweismittel ungeeignet sind.
Deine Zweifel in Ehren, aber ich traue den Gerichten echt schon einiges mehr zu, als in einem Zweifelsfall einfach mal gegen den Angeklagten zu entscheiden.
So hatte sich alles auch in dem von mir geschilderten Fall zum Zeitpunkt des Urteils dargestellt. Aber was damals "wissenschaftliche, forensische und schliesslich juristische Warheit" war, stellte sich später als falsch heraus. Die Möglichkeit, dass das wieder passiert, sollten wir niemals kategorisch ausschliessen.