JosefK1914-2 schrieb:Ich muss ihnen mal wieder Nachhilfe in Sachen Rechtsstaat geben bzw. ich verweise auf den Beitrag von @Rick_Blaine, dem ich mich voll anschließe. In einem Rechtsstaat geht es eben um den Beweis der Schuld oder ob die Zweifel an der Schuld überwiegen. Der Gutachter des bisherigen Verfahrens hat einen Sturz mit einem Bein in dieser Lage nicht für möglich gehalten. Eine neues Gutachten KANN durchaus geeignet sein, einen Freispruch des Verurteilten zu bewirken. In einem Rechtsstaat braucht glücklicherweise der Angeklagte nicht seine Unschuld beweisen, ihre Frage zielt darauf aber ab, dass für einen Freispruch erst die Unschuld bewiesen werden müsste.
Prinzipiell ist das richtig, allerdings sind wir in diesem Fall bereits in einer Phase, in der ein Gericht nun die Schuld festgestellt hat. Um ein Rechtssystem überhaupt irgendwie vernünftig handhaben zu können, muss es einen Punkt geben, an dem das System sagt: so, jetzt ist Schluss, wir können nicht endlos einmal ergangene Urteile anfechten. Man sagt daher, dass der "Rechtsfrieden" verlangt, dass ein Urteil irgendwann einmal unanfechtbar wird.
Wann das ist, ist in verschiedenen Systemen verschieden geregelt, in allen modernen Rechtsstaaten gibt es sogenannte Rechtsmittel, die man gegen ein Urteil einlegen kann, in den USA zum Beispiel mehr als in Deutschland, in Italien unter ganz anderen Vorzeichen als in Deutschland und so weiter, aber alle Systeme haben wieder gemeinsam, dass sie an einem Punkt sagen: bis hierher und nicht weiter.
Allerdings: Es gibt da die drückende Last des Gefühls, dass es ja doch einzelne Fälle geben kann, in welchen wirklich auch nach Einlegen aller typischen Rechtsmittel, neue Tatsachen ein ganz neues Urteil erforderlich machen könnten. Und so hat der Gesetzgeber in Deutschland das "Wiederaufnahmeverfahren" erfunden, in anderen Staaten gibt es andere Namen, im angelsächsischen Bereich zum Beispiel "habeas corpus oder coram nobis," die Idee ist nicht neu sondern schon viele Jahre alt. Nur, um eben den "Rechtsfrieden" nicht zu gefährden sagt man: diese Wiederaufnahmeverfahren müssen Ausnahmen bleiben. Und es gibt daher eine entscheidende Wende im Gegensatz zum bisherigen Verfahren: da ein Gericht bereits die Schuld festgestellt hat muss nun der Verurteilte beweisen, dass ein WAV notwendig ist.
Man formuliert das zwar eleganter, aber im Grossen und Ganzen gilt nun: der Verurteilte muss seine Unschuld beweisen. Aus oben genannten Gründen steht das nicht im Konflikt mit der normalen Prämisse, dass im Rechtsstaat die Anklage die Schuld begründen muss.
Für alle, die historisch und rechtsphilosophisch interessiert sind mag es interessant sein, dass die heute in Deutschland geltenden Regeln weitgehend jenen entsprechen, die erstmals in dieser Hinsicht im 16. Jahrhundert eingeführt wurden, und zwar in England. Im "writ of coram nobis" (erstmals 1561 belegt) hatte zunächst der König, bzw. die ihm unterstellten Gerichte die Möglichkeit, einmal ergangene Urteile aufzuheben, wenn "Tatsachen vor ihm lagen (coram nobis)", die zeigten, dass wenn man sie zur Zeit des Urteils gewusst hätte, das Urteil anders hätte lauten müssen. Im 18. Jahrhundert wurde dann den Verurteilten das Recht gegeben, dieses Verfahren zu beantragen. Noch heute existiert dieses Verfahren z.B. in den USA.
Die entscheidenden Punkte sind genau wie in der StPO: es muss um Tatsachen gehen, nicht um rein juristische Argumente (für diese gibt es die Revision), es muss darum gehen, dass die Tatsachenerkenntnis zur Zeit des Urteils nicht vorgelegen hat (also um "neue" Erkenntnisse) und diese müssen geeignet sein zu beweisen, dass das Urteil, hätte man sie gekannt, so nicht ergangen wäre.
Vor dieser schweren Hürde steht nun der Verurteilte in diesem Fall, genauso wie Darsow, Soering und einige andere, die hier schon erwähnt wurden. Und in mehr als 90% der Fälle in Deutschland verneint das Gericht, dass diese Bedingungen erfüllt wurden.
Es ist ein Kennzeichen moderner Rechtssprechung (ob das gut ist, sei hier mal dahingestellt), dass solche Fragen im Prinzip ausnahmslos durch wissenschaftliche Gutachten vorgebracht werden. Der Streit darüber, ob ein solches "neue" Erkenntnisse bietet oder nur eine "andere Sichtweise" ist oft der zentrale Punkt.
Das ist sicherlich die Hürde, die jenes Gutachten, das jetzt im Gespräch ist erst einmal nehmen muss. Schafft es das, dann ist da aber noch die zweite Hürde.
Man wird sehen.