Ein Phänomen
18.02.2006 um 18:43
Kurz nach der Jahrhundertwende konnte man in New York einen Mann sehen, groß und wuschelhaarig, mit einem wilden Walrossschnurrbart und Augengläsern so dick wie Flaschenböden, wie er eilig die Fünfte Avenue hinaufging und hinter den Pforten der Stadtbibliothek verschwand. Jahr für Jahr, jeden Tag, ging dieser Mann die Fünfte Avenue hinauf und verschwand hinter den Pforten der Stadtbibliothek.
Der Mann hieß Charles Fort und arbeitete an seinem Lebenswerk. Fort trug Informa-tionen zusammen, die sonst keiner haben wollte, Informationen über rätselhafte, unerklärte Ereignisse. (Wenn irgendwo auf der Welt eine Menge Fische vom Himmel gefallen war, dann notierte Fort die Zeitungsmeldung auf einer Karteikarte. Wollte ein Astronom fliegende Heuballen gesichtet haben, waren auf dem Mond seltsame Lichter zu sehen, durchschlugen Felsbrocken aus dem Nichts fallend Hausdächer, Fort notierte Zeit, Ort und Umstände. Die Wissenschaft behauptete zwar, derlei Dinge seien nicht möglich, aber das hielt Fort nicht von der Arbeit ab. Die Zeitungen berichteten davon, und das war genug.) Besonders angetan hatten es ihm die rätsel-haften Sachen, die zuweilen vom Himmel fielen: Im englischen Ort Hindon innerhalb von zehn Minuten Hunderte kleiner toter Fische, die man später als Sandaale identifi-zierte. Es waren nur Sandaale gleicher Größe, nichts anderes. Im Mai 1849 tief-schwarzer, ekelhaft stinkender Regen über Castlecommon in Irland. Dicker, zähflüs-siger roter Regen anno 1812 in Ulm.
Im Januar 1868 sauste in einem Städtchen namens Pultusk in Polen aus heiterem Himmel ein brennender Schwefelklumpen auf die Straße, wo er von den Dorfbewoh-nern mit den Füßen ausgetrampelt wurde. 1876: kleine Fetzen Rindfleisch in Olympi-an Springs, Kentucky. Sand in Europa, (verknäuelte Haare in Shanghai, Seide in Pernambuco, Seife in New Jersey, verkohltes Papier in Norwegen,) ziegelsteingroße Eisklumpen in Schottland und Indien, Gemüseabfälle in Toulouse, lebende Schlangen in Memphis, Tennessee. Das rätselhafte Fallobst des Himmels pflegte die orthodoxe Wissenschaft in Erklärungsnot zu bringen. Die Leute würden fantasieren, hieß es gemeinhin, der Sand sei von der Sahara hergeweht, die Schlangen schon vorher da gewesen, die Gemüseabfälle von einer Marktfrau verloren. Charles Fort war skep-tisch, (denn die Aussagen der sogenannten Experten fanden immer aus weiter Ferne statt. Nie war einer hingegangen und hatte sich die Sache vor Ort angesehen.)
Die Wissenschaft, schrieb Fort, wolle mit Dingen, die sie verwirrten, ganz einfach nichts zu tun haben. Phänomene, die der Wissenschaftler nicht erklären könne, bezeichne er als nicht existent, und wer sie trotzdem erlebt haben will, werde als Spinner und Fantast abgetan. Eben jenen Leuten mit ihren seltsamen, ungeklärten Phänomenen widmete Charles Fort seine Bücher. 1919 erschien "The Book of the Damned - Das Buch der Verdammten", zehn Jahre später folgte "Lo!", auf deutsch "Neuland". In beiden Büchern öffnet Fort seinen Zettelkasten, macht sich über die Verdrängungskünste der etablierten Wissenschaften lustig und entwickelt sein eigenes Erklärungsmodell. Was, wenn wir Menschen vergleichbar wären mit den Bodenbe-wohnern der Tiefsee? Weit über uns, hoch droben auf der Oberfläche des Wassers, ziehen die Meereskreuzer ihre Bahn. Ab und zu wirft irgendein Koch Abfälle über Bord, die regnen langsam herunter, und tief unten, wo wir von Schiffen und deren Abfällen keine Ahnung haben, wundern wir uns, was da wieder alles herabgesegelt kommt. Unrat und Schrott von im Weltall fliegenden Dampfern, sagt Charles Fort. Natürlich hat damals kaum ein Mensch gewusst, was er mit solchen Ideen anfangen sollte. Nur ganz wenige fanden Gefallen an dem seltsamen kleinen Kerl und seinen krausen Gedanken. Was ihm allerdings nicht viel genützt hat. Charles Fort, zur Welt gekommen am 06. August 1874 in Albany im Staate New York, starb 58 Jahre später, arm und unbekannt, an Leukämie. Sein Interesse allerdings und seine Ideen, die leben fort, in einer weltweit verbreiteten Zeitschrift namens "Fortean Times", die bis heute existiert und in der die Fortianer aller Länder gebannt von Steinregen, schwarzem Schnee und anderen rätselhaften Phänomenen lesen dürfen. "Ich selbst allerdings", hatte Fort gesagt, "ich selbst glaube sowieso nichts von dem, was ich geschrieben habe."