Die Definition von Hass, Gewalt und Aggression
18.09.2006 um 15:58
5.1.6 Ist der Mensch gut oder böse?
Als eine Art Zusammenfassung der FrommschenGedanken zum Wesen des Menschen und als Vorstudie zur Anatomie der menschlichenDestruktivität (1973) kann das Buch Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten undBösen (The Heart of Man, 1964)<307> gelten. Der Autor lanciert folgende These:Gewalttätige Menschen wie Diktatoren und Machthaber wären weder grausam noch bösartig;sie würden „im normalen Leben wahrscheinlich mehr Gutes als Böses bewirken“:
Der normale Mensch mit außergewöhnlicher Macht ist die Hauptgefahr für die Menschheit- nicht der Unhold oder der Sadist (ebd. S.168).<308>
Hinter der „bösartigsten undgefährlichsten Form menschlicher Orientierung“ steckten jedoch drei Strebungen: Die Liebezum Toten (Nekrophilie, siehe 4.7 und 4.9), der bösartige Narzißmus und diesymbiotisch-inzestuöse Fixierung. Diese drei Orientierungen machen das „Verfallssyndrom“aus,
welches den Menschen dazu treibt, um der Zerstörung willen zuzerstören und um des Hasses willen zu hassen (Hervorhebungen durch Fromm, ebd.S.168).<309>
Der Autor erläutert neben der harmlosen und „spielerischen“verschiedene Formen der Destruktivität wie Gewalt<310> aus Frustration, Neid, Eifersucht,Rachsucht, erschütterten Glauben, Lebens-Unfähigkeit, Sadismus und archaischen Blutdurst.Bei letzterem finde eine rauschhafte Regression und Transzendenz an die Natur („Blut undBoden“) statt. Als Beispiel dafür verwendet Fromm eine Erzählung von Gustave Flaubert(Die Legende von St. Julian dem Gastfreundlichen), in der von einem Mann berichtet wird,der mit lustvollen Tötungen von Tieren beginnt, Heerführer wird und schließlich seineEltern (irrtümlich) umbringt. „Am tiefsten Punkt der Regression ereignete sich bei ihmdie große Umkehr. Er wurde nun tatsächlich ein Heiliger, der sein Leben den Armen undKranken weihte“ (ebd. S.177).
Die Nekrophilie als eine der drei Tendenzen,welche „das Wesen des wahrhaft Bösen“ ausmachen, wird an der Antwort des spanischenPhilosophen Unamuno (1864-1936) auf eine Rede des faschistischen Generals Astrayexpliziert, der wieder einmal sein Lieblingsmotto „Es lebe der Tod!“ ausgerufen hatte.
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Als der General seine Ansprache beendet hatte, stand Unamuno auf undsagte: „Gerade eben habe ich einen nekrophilen und sinnlosen Ruf gehört: „Es lebe derTod!“ ... Es schmerzt mich, denken zu müssen, daß General Millán Astray uns diePsychologie der Massen diktieren könnte. Ein Krüppel<311>, dem die geistige Größe eineCervantes fehlt, sucht sich gewöhnlich dadurch eine fragwürdige Erleichterung, daß eralles rings um sich her verstümmelt (ebd. S.179).
Der nekrophile Mensch ist vonTotem, Verwesendem, Nacht, Rückkehr in den Mutterschoß sowie Höhlen und Trollen (PeerGynt) angezogen. Fromm zieht zur Erläuterung Mythen, Träume und Metaphern heran und nenntC.G. Jung einen typisch nekrophilen Charakter. Jung hätte den Konflikt dadurch gelöst,daß er seine destruktiven Kräfte durch den Beruf des Seelenarztes ausglich. Aber auchEichmann, der kalt, leblos und zwanghaft pedantisch die Ordnung liebte, sei nekrophilgewesen. Fromm nennt die Nekrophilie eine „echte Perversion“ (ebd. S.185); sie wäre „diemorbideste und gefährlichste unter allen Lebensorientierungen“.
Im Gegensatzdazu bedeutet „Biophilie“ Liebe zum Leben. Sie ist mit der produktiven Orientierungidentisch. Fromm schwebt dabei als Idealtyp Spinoza vor Augen:
Der reinnekrophile Mensch ist geisteskrank; der rein biophile Mensch ist ein Heiliger (ebd.S.187).<312>
Der moderne Menschentyp ist von Organisation, Automatismus, Mechanikund vom Toten fasziniert. Deshalb auch seine Verherrlichung von Krieg, Technik,Geschwindigkeit, Aggressivität, Militarismus, Patriotismus, anarchistischerVernichtungswut und Verachtung des Weibes, wie es im „Gründungsmanifest desFuturismus“<313> zu Anfang des 20. Jahrhunderts angepriesen wurde.
DerNarzißmus als zweite Kategorie der Nekrophilie führe - im Gegensatz zu Freuds Ansicht -nicht generell zu Geisteskrankheit, was Fromm an den Pharaonen, römischen Kaisern, Hitlerund Stalin aufzeigen möchte, die mit ihrem Narzißmus „zwischen Normalität undGeisteskrankheit“ (ebd. S.202) gestanden hätten. Hitler als narzißtischer Mensch z.B.wäre an manifester Psychose erkrankt, wenn er nicht von Millionen Unterstützung undBestätigung erhalten hätte.<314>
Der „gutartige Narzißmus“ wird am besten anguten Künstlern beobachtet; hier gibt es genügend Beispiele dafür, daß deren Eitelkeitder Produktivität nicht im Wege stand. Beim „bösartigen Narzißmus“ sei der Mensch jedochauf etwas stolz, was er an Besitz, Aussehen, Reichtum usw. hat und nicht darauf, was ertut und wie er handelt. Diese Eitelkeit werde bösartig, weil sie sich nicht inBeziehungen korrigieren lasse.<315> Darüber hinaus differenziert der Autor noch einen„gesellschaftlichen Narzißmus“, der sich in fanatischer und destruktiver Richtung wiebeim Rassismus oder der dogmatischen Kirche, aber auch in Richtung humanistischerVorkämpfer wie bei Erasmus von Rotterdam oder Thomas Morus und deren Anhänger entwickelnkönne.<316>
Der dritte Faktor des „Bösen“ liegt in den „inzestuösen Bindungen“.Auch hier greift Fromm auf psychoanalytische Kriterien zurück, indem er den Grad derRegression dafür verantwortlich macht, ob eine „inzestuöse Symbiose“ gutartig oderbösartig wird. Er beschreibt verschiedene Ebenen und Differenzierungen innerhalb dieserMutterbindung, wobei er unter „Mutter“ auch andere „Objekte“ subsumiert, die Schutz,Macht und Liebe
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versprechen. Charakteristisch für die bösartige Regression sind Träumevon „Mutter-Familie-Blut-Boden-Bindung“ (ebd. S.230).
Die Kombination von Narzißmusund inzestuöser Fixierung ergibt die „Erklärung für jeden nationalen, rassischen,religiösen und politischen Fanatismus“ (ebd. S.234). Wenn noch die Nekrophilie wie beiHitler dazu kommt, entsteht ein „archaisches Verfallssyndrom“.
Frommbeantwortet die Ausgangsfrage nach der guten oder bösen Natur des Menschen dahingehend,daß das Böse ein menschliches Phänomen ist, das durch Regression auf „Vormenschliches“ausgelöst wird. Der Mensch entwickelt destruktive Verhaltensweisen, wenn er sich „derLast des Menschseins“ (der Freiheit) entledigen möchte und sich in Selbsttäuschungen,Lügen und moralisch fragwürdige Aktionen verwickelt. Damit verbaut er sich den ohnehinkleinen Spielraum der freien Entscheidung und findet keinen Weg, um sich aus dem Netz derirrationalen Leidenschaften zu lösen. Destruktivität und Bösartigkeit entstehen alsonicht aus der Natur des Menschen, sondern aus fehlender Einsicht und mangelnderEntscheidungskraft.
Die Erziehung sündigt in der Regel dadurch, daß sie denKindern nicht Selbstvertrauen, Mut, Können und Wissen vermittelt, welche für dieEntwicklung zum Guten erforderlich sind.<317> Wer sich hingegen dem menschlichen Wesen -das durch Vernunft, Liebe und Freiheit charakterisiert ist - annähert, wird gut.
Obwohl sich das Herz des Menschen verhärten und unmenschlich böse werden kann, wirdes doch niemals „nicht-menschlich“ (ebd. S.267). Wir können allerdings die Fähigkeiteinbüßen, von der Not eines anderen menschlichen Wesens angerührt zu werden und denfreundlichen Blick eines anderen und den Gesang eines Vogels nicht mehr zu bemerken:
Wenn der Mensch dem Leben gegenüber gleichgültig wird, besteht keineHoffnung mehr, daß er das Gute wählen kann. Dann ist sein Herz in der Tat so verhärtet,daß sein „Leben“ zu Ende ist. Sollte das der ganzen menschlichen Rasse oder ihrenmächtigsten Mitgliedern geschehen, dann könnte es dazu kommen, daß das Leben derMenschheit ausgelöscht wird - in seinem verheißungsvollsten Augenblick (Schluß, ebd.S.268).
Wenige Jahre vor seinem Tod (1977) wurde Fromm gefragt, ob er vom LebenAbschied nehmen könnte. Er sagte:
Mit geht es wie dem Psalmisten, derbekennt, daß er das Leben in Fülle gelebt habe und satt an Jahren sei. Ich wüßte nicht,wo ich mein Leben nicht gelebt hätte, so daß ich mir nirgends sagen kann, im Leben zukurz gekommen zu sein.<318>
Damit wollte Fromm aussagen, daß Der Wille zumLeben<319> sich bei ihm nicht auf eine nekrophile „Haben-Orientierung“ gestützt hatte,sondern auf die biophile Entfaltung seines Selbst und des Lebens.
DieserAufsatz beschäftigt sich mit der Frage, warum sich die Menschen so wenig darum kümmern,das Leben zu erhalten und zu verlängern: Viele Menschen gehen erst zum Arzt, wenn es zuspät ist, und stoßen sich nicht daran, daß das Leben der Menschheit durch Atomwaffen undökologische Vernichtung der Welt bedroht ist.
Wer sich nicht um die Tatsachedes Todes kümmert und sie verdrängt, hängt möglicherweise der Illusion an, unsterblich zusein. Wenn diese Illusion z.B. durch eine schwere Krankheit zerstört wird, zerfällt oftauch der Lebenswille. Darüber hinaus gründet unsere Gesellschaft auf den Prinzipien „desEgoismus und der uneingestandenen Selbstsucht“ (ebd. S.394). Dies hat zur Folge, daßElend, Unterdrückung und Tod des Nächsten sowie der nachfolgenden Generationen keinesolidarischen Gefühle und humanitäre Aktionen auslösen, um das Leben zu erhalten und zuverbessern.
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Fromm verweist auch auf seine Ausführungen über die Nekrophilie, die alsunbewußter Charakterzug bei „vielen Menschen ziemlich stark ausgeprägt ist“ (ebd. S.395)und Destruktivität und Lebenshaß ausbrütet.
Die weit verbreitete Angst vor dem Todbedeutet allerdings noch nicht, daß Lebenswillen vorhanden ist:
Die Angstvor dem Tod wächst mit dem Gefühl, nicht richtig lebendig gewesen zu sein, das heißt, einLeben geführt zu haben, das ohne Freude und Sinn war (ebd. S.396).
In diesem Aufsatzprangert Fromm auch die (moderne) inhumane Medizin und die Ärzte an, welche die Patientenzum passiven, unwissenden und ohnmächtigen Objekt degradieren. Dies hat zur Folge, daßder Patient nur noch zum Arzt geht, wenn es nicht mehr zu umgehen ist. Aus verständlichenGründen nehmen derart enttäuschte Patienten die an sich gute Möglichkeit einer Prophylaxedurch ärztliche Kontrollen nicht wahr.
Quelle Doktorarbeit von Alfred Levy
HU - Berlin