FRIESENHEIM
Aus dem Alltag mit einem autistischen Jungen
Zur Familie Krämer in Friesenheim gehört auch der autistische Sohn Marlon. Der Alltag mit ihm ist eine Herausforderung. Ein Elternnetzwerk bildet für die Krämers einen großen Rückhalt.
Auf den ersten Blick sind die Krämers eine Familie wie viele andere: Mutter Hausfrau, Vater mit geregeltem Einkommen, zwei Söhne im Schulalter, schnuckeliges Häuschen in schöner Wohnlage. Doch der Alltag in der Familie gestaltet sich anders als bei anderen. Sie haben ein Kind mit einer autistischen Störung. Und darum benötigen sie in ihrem Alltag Hilfe, darauf haben sie vor Kurzem mit einer Anzeige im Gemeindeblatt aufmerksam gemacht.
Paar brauchte Hilfe
Es ist eine fröhliche, sympathische Frau, die einen in die gemütliche Essküche führt, um ein bisschen etwas zu erzählen über ihre alles andere als alltägliche Familie. Bewundernswert ist die Offenheit, mit der Manuela Krämer schon beim ersten telefonischen Kontakt an die Sache herangeht: "Verstehen Sie mich nicht falsch, aber es ist besser, wir sprechen miteinander, wenn Marlon in der Schule ist. Sonst haben wir dabei nicht die nötige Ruhe."
Ohne sich in Selbstmitleid zu verlieren, aber auch ohne zu beschönigen zeichnen sie und ihr Mann Stefan dann anhand von Beispielen ein lebendiges Bild vom Alltag mit einem autistischen Kind. "Zum Verhalten von Marlon gehören Stereotypien und eine innere Unruhe. Das kann sich so äußern, dass er aufgeregt mit den Armen zappelt, so wie ein Vogel mit den Flügeln schlägt. Oder er läuft immer wieder hoch in sein Zimmer, dann wieder runter. Auch der bei autistischen Kindern fehlende Spieltrieb führt dazu, dass sich die Aufmerksamkeit der ganzen Familie auf ihn konzentrieren muss, man kann also nur schlecht etwas anderes nebenher machen."
Marlon braucht viel Aufmerksamkeit
Ungeteilte Zuwendung für den drei Jahre älteren Bruder Marvin, die Arbeiten im Haushalt oder eben ein ungestörtes Gespräch – das sind alles Dinge, die passieren müssen, bevor Marlon nach Hause kommt von der Georg-Wimmer-Schule, die er seit 2009 besucht. Von Montag bis Freitag wird er dort ganztags betreut, erhält Förderung zur Sprachentwicklung, zur Verbesserung seiner motorischen Fähigkeiten, lernt vielerlei lebenspraktische Dinge und nimmt mit großer Freude an Aktivitäten wie Kochen, Backen, Reiten oder Schwimmen im Hallenbad teil.
"Das tut unserem Familienleben gut, das vor allem am Anfang ja schon ein Stück weit auf der Strecke bleiben musste", sagt Manuela Krämer und blickt zurück auf die ersten Jahre mit ihrem Zweitgeborenen, der im Mai 2002 zur Welt kam und bald schon allgemein verzögerte Entwicklungen und motorische Defizite erkennen ließ, die aber erst 2007 exakt diagnostiziert werden konnten. "Den Kopf halten, Sitzen, Krabbeln, Laufen – alles kam bei ihm später und war problematisch. Wir waren sozusagen Stammkunden in der Neuro-Pädiatrie und ständig am Herumfahren von einer Therapie zur nächsten."
Ausflüge sind Zerreißproben
Im Alter von drei Jahren stellte sich die Frage, welchen Kindergarten Marlon besuchen sollte. Zunächst entschieden sich die Eltern, ihr Kind mit Eingliederungshilfe in den Regelkindergarten zu bringen, wechselten jedoch nach kurzer Zeit in den Schulkindergarten Offenburg für körperbehinderte und förderungsbedürftige Kinder. "Das war eine enorme Erleichterung für uns, die ganzen Therapien, zu denen wir vorher ständig unterwegs waren, wurden dort während der Schulzeit angeboten", sagt Manuela Krämer und beschreibt mit glücklichem Gesicht, wie viel ihr Sohn in den paar Jahren Schulzeit schon gelernt hat. "Klar, mit Marlon kann man keine längeren Dialoge führen, aber er kann heute sehr viel präziser äußern, was er möchte. Er sagt zum Beispiel nicht mehr wie früher einfach ,trinken!’ wenn er Durst hat, sondern ,Ich möchte Apfelschorle’ und so weiter."
Schwierig bleiben aber nach wie vor alle Aktivitäten, die sich außerhalb der eigenen vier Wände abspielen. Spaziergänge, Spielplatz oder ein Besuch im Europa-Park können unversehens zur nervlichen Zerreißprobe werden. Dabei sind es nicht die unvorhersehbaren Verhaltensmuster des Sohnes, die den Eltern die Schweißtropfen auf die Stirne treiben. "Es sind die Reaktionen der Leute, die dann zufällig Zeuge werden, wie Marlon vor lauter Freude mal wieder austickt", meint die Mutter.
Vorwürfe wegen schlechter Erziehung
Zwar gebe es auch Menschen, denen man alles erklären kann, die dann auch Verständnis zeigen. "Aber oft bekommen wir auch Vorwürfe wegen des angeblich schlecht erzogenen Kindes zu spüren. Denn rein optisch kann man Marlons Behinderung ja nicht erkennen, körperlich sieht er aus wie alle anderen Jungs." Als positiv denkende Menschen lassen sie sich durch eine unreflektierte Sicht der Dinge nicht entmutigen.
Rückenstärkung gibt ihnen hier auch das 2011 gegründete Elternnetzwerk Autismus Ortenau. Treffen dieser Selbsthilfegruppe finden beispielsweise in Offenburg einmal pro Monat in Räumen der Klinik an der Lindenhöhe statt.
Die in der Anzeige im Gemeindeblatt gesuchte Betreuungsperson haben die Krämers übrigens gefunden. Demnächst werden sie sich also unbesorgt an zwei Samstagen im Monat nachmittags Zeit für sich selbst und für den älteren Sohn Marvin nehmen können.
http://www.badische-zeitung.de/aus-dem-alltag-mit-einem-autistischen-jungen