Das Verhalten meiner Mutter macht mich traurig
27.02.2021 um 10:02
Falls es dich tröstet: Ich bin (bzw. mein Bruder und ich sind) in einer sehr ähnlichen Situation - mit beiden Elternteilen ... wir sind insgesamt drei Kinder (und ich glaube, solche Konstellationen gibt es häufiger, als man denkt).
Mein Bruder und ich wurden sehr streng und mit hohen Erwartungen, aber wenig Unterstützung und Aufwand erzogen. Wir wurden z.B. auch nicht bei Hobbywünschen unterstützt und jeder kleine Regelverstoß führte daheim zu einem sehr großen Drama. Wir waren/ wurden daher sehr pflegeleichte, überangepasste Kinder, weil wir immer das Gefühl hatten, wir seien einfach nicht gut genug und wenn wir es schafften, die Anforderungen zu erfüllen, die an uns gestellt wurden, würden wir auch so geliebt werden, wie wir uns das wünschten. Das war so das Mindset: Man muss sich Liebe verdienen. Mein Bruder produzierte im Gymnasium eine Topnote nach der anderen, ich durfte nicht aufs Gymnasium (trotz guter Noten). Wir spielten viel draußen und mit Freunden, die auf Bauernhöfen lebten, weil unsere Eltern durch unsere Freunde immer supergenervt waren. Außerhalb des Hauses fühlten wir uns viel wohler, weil man da nicht so auf "Habacht" Stellung war. Auf den Höfen haben wir viel fleißiger mitgeholfen als die eigentlichen "Landkinder", weil wir für unsere Arbeit dort dann auch gelobt wurden (etwas, was uns entsetzlich fehlte) und weil es nach getaner Arbeit ein gemütliches Abendessen mit der gesamten Familie gab (was bei uns fast nie stattfand und wenn, die Atmosphäre entsprechend war).
Wir sind dann beide früh ausgezogen, weil man daheim immer das Gefühl hatte, man läuft auf rohen Eiern. (Ein Beispiel für einen sehr sinnlosen Konflikt, von denen es so viele gab: Ich war bei meiner Freundin zu Besuch und es begann, zu gewittern. Ihre Eltern forderten mich auf, meine Eltern anzurufen, weil sie meinten, es sei viel zu gefährlich, mit dem Fahrrad heimzufahren. Ich wusste schon, dass mich meine Eltern nicht abholen würden - so war es auch, ich wurde am Telefon nur angemeckert, warum ich nicht VOR dem Gewitter heimgekommen wäre und mein Vater sei nun nach einem langen Arbeitstag müde. Ich wollte das nicht sagen und meinte, dass mein Vater leider mit dem Auto unterwegs sei ... Da fuhr mich der Vater meiner Freundin heim und ich bekam wieder einen riesigen Anschiss, dass ich die Familie nun belastet hätte und wie mein Vater denn nun da stehe ...).
Mit meinem Bruder hatte ich, als wir zuhause lebten, ein schlechtes Verhältnis, weil wir immer dabei waren, um die wenige Aufmerksamkeit meiner Eltern zu buhlen und uns wirklich als Konkurrenz wahrnahmen. Das änderte sich später, bevor wir selbst Kinder hatten - mein Bruder hat nun in eine Familie eingeheiratet, die sehr eng und liebevoll miteinander umgehen und ist da praktisch "aufgegangen" -daher haben wir nun leider wenig Kontakt.
Du vermutest ja, dass evtl. deine frühe Schwangerschaft ein Grund für dieses Verhalten ist - bei uns ist es tatsächlich so, dass wir "keinerlei objektive Gründe" geliefert haben, das Verhältnis trotzdem unterirdisch schlecht ist. Gerade mein Bruder - machte ein Abi mit Topnoten, war daheim ein "Streberkind" mit aufgeräumtem Zimmer, der, ohne dass man es ihm sagen musste, auch im Winter für die verwitwete alte Nachbarin Schnee schaufelte, lieb, nett und hilfsbereit war (und sich da Anerkennung holte) und auch musikalisch sehr erfolgreich war. Ich war mitunter etwas "widerspenstiger". Meine Eltern interessieren sich trotzdem nicht für ihn (oder mich) - er hat heute eine nette Frau, einen guten Job, zwei sehr nette Kinder, aus dem Nichts ein Haus gebaut und finanziert, setzt sich heute für soziale Zwecke ein ... Wenn er meine Eltern nicht anruft - sie melden sich nicht bei ihm, obwohl wir beide nach gesellschaftlichen Standards "erfolgreich" sind.
Es gab auch viele sehr sinnlose Streitereien, ich habe z.B. das Abi nachgemacht (was meine Eltern total sinnfrei fanden - und als persönlichen Angriff sahen, weil ich ja damit ihre Entscheidung, mich nicht aufs Gymnasium zu schicken/ lassen, hinterfragt habe).
Als wir schon fast auf der weiterführenden Schule waren, wurde meine Mutter völlig ungeplant nochmal schwanger - sie war 40 und mein Vater ist nochmals deutlich älter als sie - auf dem Dorf damals sehr ungewöhnlich und es wurde auch überlegt, die Schwangerschaft zu beenden, weil mein Vater panische Angst vor einem Downsyndromkind hatte. Alles war kompliziert: die Schwangerschaft, die Geburt ein Horror, ... und meine Mutter liebt unsere Schwester abgöttisch - bis heute.
Ich wohne heute im gleichen Ort (ist aber eher Zufall), sehe meine Eltern aber meist nur zufällig - beim Einkaufen, beim Spazierengehen. Sie kommen auch nicht bei uns vorbei - die Enkel gehen halt hin und wir (also mein Mann und ich) werden auch nicht eingeladen. Trifft man sich auf der Straße, sind sie immer in Eile. In die Enkel sind sie jedoch völlig vernarrt.
Mein Bruder war das letzte Mal vor Corona daheim - meine Eltern vermissen ihn nicht. Meine Schwester geht 2x die Woche mit meiner Mutter einkaufen, sie fahren gemeinsam in den Urlaub, sie machen gemeinsam Tagesausflüge, man trifft sich jeden Sonntag zum Kaffee und kocht oft zusammen und oft, wenn ich bei meiner Schwester vorbeifahre, sitzt meine Mutter dort auf der Terrasse. Es ist so, als ob sie das einzige Kind sei ... mein Vater war kürzlich ernsthafter krank ... meine Schwester hat sich gekümmert und -als es vorbei war- wurden wir per Whatsapp informiert. Wir nehmen auch an unserem Leben gegenseitig nicht teil, oft erfahre ich Dinge mit riesiger zeitlicher Verzögerung - oft auch von Freundinnen von meiner Mutter "Geht es der Mama wieder besser?" und ich weiß gar nicht, was war.
Ich hatte echt viele Jahre, wo ich furchbar daran zu knabbern hatte, weil ich oft den Rückschluss gezogen habe, dass ich es einfach nicht wert bin, so geliebt zu werden wie meine Schwester. Das schlug mir entsetzlich aufs Selbstbewusstsein und es dauerte lange, bis ich mich selbst so akzeptieren konnte, wie ich bin. Mein Wendepunkt: Ich hatte einen Nachmittag, wo mir aber ganz bewusst war, dass es mich auffrisst und dass ich an mir selbst arbeiten musste - ich machte nach der Schule zunächst eine Ausbildung in einer sehr ländlichen Gegend ohne wirkliche Verkehrsanbindung und musste bis zum 23.12 arbeiten. Alle, die ich kannte, die in die Richtung fuhren, fuhren schon früh heim und ich wollte Weihnachten nicht alleine in einer Dachkammer verbringen, daher trampte ich gegen Mittag los (es gab keine andere Möglichkeit) und jemand nahm mich mit, bis ca. 40km von daheim. Ich rief also an und meine Mutter motzte, ob ich nicht glaubte, sie hätte am Tag vor Weihnachten noch anderes zu tun, als durch den Schnee zu fahren und mich nun abzuholen. Sie würde kommen "wenn es reinpasste". Ich stand stundenlang an einer Bushaltestelle in einem Dorf, bei Minustemperaturen, und es war so kalt, dass mich schließlich eine alte Frau zum Tee einlud ... da hatte ich dann wieder den Gedanken "ich bin es gar nicht wert, dass ich hier Tee bekomme" - war aber in der Lage, dieses mindset dann zu hinterfragen.
Versucht man mit meinen Eltern darüber zu sprechen, werden sie verbal aggressiv, streiten alles ab, sind empört über die "Unterstellung". Einmal, während eines Streits, hat mein Vater zu meinem Bruder gesagt, dass er nichts im Leben so sehr bereut, wie Vater geworden zu sein. Uns hat diese Aussage -so grausam sie war- echt geholfen. Ich glaube, meine Eltern haben es einfach nicht geschafft, zu uns ein vernünftiges emotionales Band aufzubauen und eher Kinder bekommen "weil man es auf dem Dorf halt so macht" - waren dann aber von der Belastung nur genervt. Als unsere Schwester geboren wurde, war auch die Ehe in einem anderen Stadium und man konnte sich dann emotional darauf einlassen, zumal sie ja ein "Bonuskind" war - man hatte schon ein Mädchen und ein Junge, man hatte schon bewiesen, dass man in der Kindererziehung alles richtig gemacht hatte ...
Daher habe ich für mich beschlossen, dass ich nur an meiner Seite etwas ändern kann - ich habe mich wirklich damit abgefunden und es ist nun so ... Ich rege mich auch nicht auf - es berührt mich emotional nicht mehr und ich habe mein Mindset geändert - das hat wirklich geholfen ... ich bin emotional so abgespalten, dass es mich nicht mehr verletzt, wenn ich nicht einbezogen werde. Es amüsiert mich eher - der direkte Weg zum Haus meiner Schwester führt z.B. an unserem Haus vorbei - ich weiß, dass meine Mutter oft einen Umweg geht, dass wir nicht sehen, dass sie hingeht (mir wäre das egal, ich würde es ihr auch nie vorwerfen) - aber das zeigt mir, dass sie unterbewusst schon weiß, dass da etwas nicht stimmt, auch wenn sie es wehement abstreitet.
Du schreibst ja, dass du den Grund in einer frühen Schwangerschaft etc. vermutest - ich glaube aber, dass echte Elternliebe gar nicht von so etwas abhängig ist - wir haben einen Bekannten hier im Dorf, der früh "auf die schiefe Bahn" geriet und auch inhaftiert war - und seine Mutter zu ihm hielt, ihn bis zur Selbstaufgabe unterstützte (und glücklicherweise damit erfolgreich war). Meine Schwester schaffte den Schulabschluss fast nicht, machte eine Ausbildung in einem gesellschaftlich nicht so anerkannten Beruf (bekam mit den Noten nichts anderes), arbeitete auf auf Gelegenheitjobs (und oft einfach als professionelle Reinigungskraft), kaufte überstürzt mit einem Freund ein Haus, geriet nach der Trennung dermaßen in eine finanzielle Schieflage, dass meine Eltern sie "retten" mussten, ist bis heute nicht verheiratet (trotz Kinder) - alles Dinge, die im Wertesystem meiner Eltern eigentlich nicht "gehen". Sie lieben sie trotzdem sehr.
Sorry, das wurde nun sehr lang: Fazit: Du kannst nur an deinem Mindset etwas ändern, nicht an dem von anderen Menschen. Wichtig ist, dass du über dich selbst urteilst und nicht das Urteil deiner Mama als Maßstab nimmst, ob du im Leben erfolgreich oder nicht erfolgreich war - du hast gesunde Kinder, es geschafft, den Schulabschluss und die Ausbildung zu machen - das sind alles Dinge, auf die du sehr, sehr stolz sein kannst (und solltest).