Venice2009 schrieb:aber wäre EH bereits verdächtigt gewesen, dann hätte man sie schon in Virginia festgenommen. Das macht doch überhaupt gar keinen Sinn, diese Annahme. Du weißt doch, sie war diejenige die ihre polizeidienstlichen Erkennungsmerkmale abgegeben hatte. Und da kam...nichts weiter bei rum. JS war derjenige gewesen, der sich verweigerte und daraufhin sind sie auch geflohen. Warum wohl?
Elizabeth wurde verdächtigt! Man hatte nur keine physischen Beweise, die eindeutig waren.
Sie lebte dort. Sie konnte Fingerabdrücke und Zigarettenkippen damit erklären, dass sie dort am Wochenende regelmäßig war.
Was wäre für dich ein eindeutiger Beweis? Meinst du wirklich etwas richtig Konkretes, also zum Beispiel den Abdruck eines Körperteils, der mit dem Blut der Opfer in Verbindung steht? Ja, da hatte sie wirklich Glück, dass sie so etwas nicht hinterlassen hatte.
monstra schrieb:Weil sie darüber hinaus Aussagen machte, die nicht notwendig gewesen wären? Und Aussagen, mit denen sie Jens bloß stellte?
Ich hatte es so verstanden, dass Venice fragte, ob EH sich eventuell verraten fühlte, als JS gestand. Und das kann ich auch bei einem Perspektivwechsel nicht sehen. 1986 kamen ja in London die Briefe dazu, die den Ermittlern 1985 nicht bekannt waren! Auch bei Englade steht immer wieder, dass man aufgrund der Briefe beide für die Täter hielt. Die Story, dass JS Alleintäter war und EH derweil in Washington ein Alibi konstruierte, wurde den Ermittlern erst von ihren Beschuldigten selber serviert, so eine Theorie hatten sie bis dahin gar nicht im Kopf.
monstra schrieb:Aber vielleicht lasse ich mich da auch nur durch die "Borderline"-Diagnose leiten.
Ich würde gerne mehr darüber erfahren. Ich bin keine Psychologin und was ich mir angelesen habe, fühlt sich für mich nicht belastbar genug an, um damit zu argumentieren.
Ich habe mir neulich etwas über "Sexuellen Missbrauch" abgespeichert:
Erstmal: "Missbrauchte Kinder reagieren unterschiedlich auf die Geschehnisse." und
"Jedes Kind entwickelt entsprechend seiner Persönlichkeit und der Missbrauchssituation individuelle Reaktionen und Symptome."
Sexueller Missbrauch kann (nicht muss!) führen zu:
- langfristiger Verwirrung auf kognitiver, emotionaler und sexueller Ebene
- Hilflosigkeit
- Einsamkeit
- Einfluss auf die sexuellen Gefühle und Vorstellungen
- erschüttertem Vertrauen
- Schädigung des Selbstvertrauens
- Gefühl von Scham, Schuld und Wertlosigkeit
- seelischer Schädigung durch den Verrat durch eine Vertrauensperson
- Gefühl von Beschädigt- und Ausgestoßensein
- Selbstbestrafungstendenzen
- Suchtprobleme, Essstörungen oder Borderline-Syndrom
- tiefem Misstrauen gegenüber allen Menschen
- erschwertem Aufbau tragfähiger Freundschaften/Beziehungen
- Bindungsängsten
Die Situation wird verschärft, wenn das Kind keinen Glauben und keine Unterstützung findet.
(Quelle:
https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/kinder-jugend-psychiatrie/risikofaktoren/sexueller-missbrauch/psychische-folgen/)
Außerdem habe ich gelesen, dass es das sog. "paradoxe Verhalten" gibt, das heißt, wenn einer Person lange genug Schuldgefühle für eine Situation eingeredet werden (--> wie es die Mutter von EH tat), verhält sich diese dann irgendwann so, dass die Schuldgefühle zutreffen.
monstra schrieb:oder - dritte Variante - weil sie es beide waren und nun ein Paar waren
Ja, du hast recht, das ist wirklich ein guter Gedanke. Bis dahin hätte sie noch Schluss machen können, aber nach der Tat war das unmöglich geworden. Nun war sein "sacrifice" eine Last und sie konnte nicht mehr frei entscheiden, wen sie liebt.
Bei der Vernehmung konfrontierte Vernehmer Beever EH mit einem Brief vom 18.4.1985:
"Beever pushed on. “Let’s go to other extracts. All the letters that you’ve admitted to writing. There’s one here about your parents’ deaths. Dated April 18, 1985, about two and a half weeks after the death of your parents—and you write Jens criticizing him for threatening to surrender, for threatening suicide. What does that mean?”
(...)
“You then go on to say that the deaths of your parents made it easier for you to select your own lover.”
(...)
What did she mean when she wrote Jens angrily accusing him of being unfairly jealous of her? Why did she say that their deaths made her free?
(...)
“And lastly, what did you mean when you said you didn’t want his ‘sacrifice’ to be a burden? (...)"
(Quelle: Ken Englade, Beyond reason, Amazon Kindle-Edition, Seite 176/375)
Venice2009 schrieb:Wenn man bedenkt, wie die Leichen zugerichtet waren, mit welcher Brutalität dort fortgegangen wurde, würde ich persönlich nicht in die Bresche für so jemanden springen wollen.
Wer springt hier für wen in die Bresche?
Du hast recht, es wurden zwei Menschen getötet. Aber meiner Meinung nach waren zwei Menschen am Tatort, die unterschiedliche Motive hatten, dort zu sein. Denn es war insbesondere EH, die ein starkes Motiv hatte, genau diese beiden Menschen zu töten. JS hatte auch ein Motiv, er hatte Messer-Fantasien, die er bis dahin durch den Konsum von blutrünstigen Kinofilmen in Schach gehalten hatte. In London wurden laut Amy Lemley "Soldier-of-fortune"-Magazine und Pornohefte gefunden, wobei natürlich unklar ist, wann die gekauft wurden, jedenfalls ist er 1985/1986 gerade nicht auf eine "Killing spree" durch Europa gegangen! (Was doch eigentlich zu erwarten wäre, wenn er seine "wahre Natur" erkannt hätte, oder?)
Venice2009 schrieb:in welcher Hinsicht wird EH denn hier so analysiert wie JS?
Es ist einfach viel schwieriger, weil so wenig bekannt ist.
Rosenmontag schrieb:Ich meinte mit meinem Posting eher ein seelisches Erleben einer Frau, die zum GV gezwungen wird und der es nicht möglich ist, sich zu wehren, ohne dabei zu riskieren, bei Gegenwehr auf dem elektrischen Stuhl zu landen. Sie musste sich "tot stellen", um nicht ihr Leben zu gefährden. Möglicherweise wurden Erinnerungen in ihr geweckt. Das hätte JS bekannt sein müssen.
Es war keiner von uns dabei. Ob der Sex einvernehmlich war oder nicht, wissen nur die beiden.
EH war durch den sexuellen Missbrauch sicherlich geschädigt, aber sie hatte in den vergangenen Jahren durchaus Sex gehabt, es war also nicht so, dass sie Sex nun komplett und gar nicht mehr ertrug, ganz im Gegenteil. Sie schrieb JS heiße Briefe (siehe zum Beispiel dieser hier aus Mortal Thoughts:
http://web.archive.org/web/20100126235232/http://lucy.ukc.ac.uk:80/Soering/chapter03.html#35, ist auch bei Englade mit identischem Wortlaut abgedruckt), während der Flucht hatten die beiden (laut ihrem Tagebuch) Sex und auch im Gefängnis schrieben sie sich wieder heiße Briefe. Traumatisiert war sie sicherlich, aber es führte bei ihr dazu, dass sie ihre eigenen Grenzen ständig überschritt.
Bei JS fühlte sich sich zunächst verstanden(!) und schrieb Anfang Dezember 1984:
"For ten years I've been despising myself, and you changed that. You cared without lust, and you made me feel like a young girl again who had the sun in her eyes and not just a moon between her legs. You were always caring -- just caring."
(Quelle: Mortal Thoughts, Kapitel 1, Seite 14,
http://web.archive.org/web/20100124092451/http://lucy.ukc.ac.uk:80/Soering/chapter01.html#14)
Sie fühlte sich also zu dem Zeitpunkt mit ihm im Bett wohl. Und später fühlte sie sich ihm vielleicht, wie Monstra schon schrieb, emotional verpflichtet, mit JS zusammenzubleiben. (Es blieb ihr ja auch gar nichts anderes mehr übrig, sie hatten sich gegenseitig in der Hand.)
Laut "Nathan Heller" hatte sie nämlich im März 1985 auf dem Colorado-Ski-Trip auch noch eine Affäre. EH sagte zum Reporter über einen Mann, mit dem sie im Mai 1985 Briefe austauschte, er sei ihre Affäre und ihr "letzter Atemzug der Freiheit" gewesen.
“We were lovers for a week?” They’d had a fling on a ski trip. In a letter she sent me later, she described him as her “last breath of freedom.”
(Quelle: Nathan Heller, Blood Ties,
https://www.newyorker.com/magazine/2015/11/09/blood-ties)
Nathan Heller fragte nämlich auch nach dem oben erwähnten "Sex-Brief". EH antwortete, er hätte nur dazu gedient, JS zu erregen:
"When I asked her about some erotic letters she had sent Soering long before then—“my lips pressed into you, and my tongue licking your lips, your teeth, sucking on your tongue, holding it, biting it, sucking your breath away”—she told me that she was simply trying to entice him."
(Quelle: Nathan Heller, Blood Ties,
https://www.newyorker.com/magazine/2015/11/09/blood-ties)
Wie gesagt, ich bin keine Psychologin, vielleicht kann jemand anderes dazu auch seine Gedanken schreiben.