Venice2009 schrieb:So eine Erklärung finde ich für JS eben nicht.
Hast du es versucht?
- Alkoholiker-Mutter
- jahrelanges Mobbing als Deutscher
- jahrelanges Mobbing als Nerd
- großer Druck von Seiten seiner Familie (hervorragende Leistungen, Streben nach finanzieller Sicherheit, evtl. versursacht durch die Verlusterfahrungen seiner Eltern im 2. Weltkrieg)
- emotionale Kälte in seiner Familie (Eltern sind selber in bestimmter Art und Weise "heimatlos"; Vater: Flucht aus Ostpreußen (siehe Englade, Beyond Reason, S. 177/376) + die vielen Umzüge; Eltern sind durch die eigenen Erlebnisse in der Kindheit + Erziehung in den 30er-Jahren möglicherweise zu emotionaler Nähe nicht fähig, siehe "Kriegskinder-Forschung", es wäre merkwürdig, wenn ausgerechnet JSs Eltern die große Ausnahme wären)
- Stellvertreteraufträge seiner Eltern (auch seine Mutter war auf einer amerik. Prep School und hatte sogar in den USA studiert, siehe Englade, Beyond Reason, S. 101/376)
- Übergehung seiner eigenen Wünsche (wollte das Stipendium nicht, wollte eigentlich nach Deutschland zum Studieren, siehe Mortal Thoughts, Kapitel 3, Seite 40)
- Minderwertigkeitsgefühle (gerade der hohe IQ und die "Abstammung von den edlen Schwoons" nützen einem in der Realität nichts, wenn man keinen Anschluss findet, weil man z.B. keinen Spaß an Alkohol und Drogen hat)
- Schuldgefühle, an der Situation seiner Mutter schuld zu sein, weil sie nur "wegen ihm" mit seinem Vater zusammenblieb (seine Mutter hatte als Kind diesselbe Erfahrung gemacht, ihr Vater starb, als sie ein Kleinkind war, die 2. Ehe der Mutter brachte finanzielle Sicherheit, siehe Englade, Beyond Reason, S. 101/376)
- beruflich bedingte Trennung der Eltern kurz vor dem Highschool-Abschluss, dadurch 1 Jahr lang große Verantwortung für seine kranke Mutter (siehe Amy Lemley, S. 59) (das nennt man, soweit ich gelesen habe, "Parentifizierung"), außerdem sicherlich auch hier wieder Druck, dass man das alles nur für ihn tut und er dankbar sein muss
- gleichzeitig große Verlustangst durch Krankheit der Mutter, die bereits einen Selbstmordversuch gemacht hatte (Weihnachtsbrief, S. 32)
- Auseinandersetzung mit der deutschen Kollektivschuld, evtl. Frage nach der Rolle der eigenen Großväter im 2. Weltkrieg
- keine wirklichen Bindungen als Diplomaten-Sohn, kein Ansprechpartner, dem er wirklich vertrauen konnte ("completeley unanchored", Weihnachtsbrief S. 25)
Ich habe da noch ein Beispiel gefunden.
In "Mortal Thoughts" (Selbstdarstellung) schreibt er, dass er durch seine Hingabe an seine deutsche Freundin Katerina (muss wohl Claudia sein), die mit ihm Schluss gemacht hatte, von intelligenten und attraktiven Mädchen umrundet war:
"But at the honors student dorm at U. Va. I was suddenly surrounded by scores of intelligent and attractive girls. And a few of them now pursued me quite determinedly! Later Elizabeth told me that my popularity was inspired by my continuing public devotion to Katerina, the German girlfriend who had recently dumped me after I returned to America for college. But perhaps my advertising this exploitable weakness was only reason for noticing me.
(Quelle: Mortal Thoughts, Kapitel 1, Seite 8,
http://web.archive.org/web/20100124092451/http://lucy.ukc.ac.uk:80/Soering/chapter01.html#8)
Aber an seine ehemalige Lehrerin (mögliche Vertrauensperson?) schreibt er (muss zur ähnlichen Zeit gewesen sein, obwohl kein Datum draufsteht), dass sich sechs Frauen zusammengeschlossen hätten, um ihn von seinen Minderwertigkeitskomplexen zu befreien. (Irgendwie musste ich da spontan an "Das Model und der Freak" aus dem Jahr 2007 mit Model-Coaches wie Jana Ina denken, hat das irgendeinem "Freak" wirklich geholfen oder ihn nur noch mehr bloßgestellt?). Er selber findet ihr Vorgehen lächerlich:
Original anzeigen (0,2 MB)"Never got around to doing with Omnia Ad Dei Gloriam. I didn't
get drunk enough often. I took the valuable lessons
so many of my friends at Lovett taught me and still haven't
gotten hooked on some form of chemical pleasure. However,
I might join a druggy fraternity (I know I won't -- to much
like high school -- but since many of my friends have joined
I will get asked.) Oh yea, I'm going to take a film class next
semester and write a screenplay for Japanese television (more
about that later.) I've been psycho-analyzing myself over
vacation (again). Hm. What else.
Oh, yes, Ms. Brandau wanted to hear about the girls.
Well, after seven years of complete mututal disinterest at
Lovett, six of the University of Virginia's womenfolk have
conspired against me and are trying to get rid of my deeply
entrenched inferiority/insecurity complexes by pursuing me
violently (I find the thought silly). Oh fun. The one I'm
concentrating upon right now, however, is a girl called Elizabeth
(form my dorm; Claudia's memory having been firmly repressed.
Only to return when I'm 42 in the form of an ulcer.) She's
first year but 20, English, had a scholarship to Cambridge,
but skipped out to hang around in Europe for 1 1/2 years or
Having finally been recaptured by her parents ...
... out (well, ...), wrote a novel which will ..."
(Quelle: Zweimal lebenslänglich: Jens Söring - Doppelmörder oder Opfer der Justiz? | Focus TV Reportage,
https://www.youtube.com/ watch?v=4kERzKMfNrE, 00:02:49)
Auch JS kannte Schamgefühle, Schuldgefühle und das Gefühl, von seinen Mitschülern und Eltern nicht als er selbst akzeptiert zu werden, genau wie EH.
(Und nochmal, ich möchte seine Schuld nicht minimieren, ich suche einfach auch bei ihm nach Gründen. Er hat die Aggressionen nicht gegen sich selbst gerichtet (selbstverletztendes Verhalten), sondern nach außen.
Denn was ich immer wieder als die größte Parallele sehe: Seine eigene Mutter wartete auf den Tod der Großmutter, um die finanzielle Freiheit zu haben, endlich den Vater zu verlassen! Das sind doch 2 Puzzle-Stücke, die genau ineinander passen. Darum war er auch überhaupt nicht schockiert, als EH darüber schrieb, denn genau solche Gedanken sind ja in seiner eigenen Familie vorherrschend (nicht bei ihm selber, sondern bei seiner Mutter):
JS: (...)"she is waiting mainly for one death (her mother's, (...).) And if not her mother's death, her husband's. A death-centered existence for years now." (Weihnachtsbrief, S. 32)
EH: "We can either wait till we graduate and then leave them behind or we can get rid of them soon." (EH-Weihnachtsbrief).
Selbst wenn EH den Weihnachtsbrief nicht in seiner schriftlichen Form kannte, haben sie sicherlich am Telefon über diese Themen gesprochen, die Parallelen zwischen ihrer beiden Leben waren ja wirklich gravierend.
Dummerweise hat keiner von beiden an diesem Punkt gestoppt und eine "erwachsene" Lösung gesucht.
Judith123 schrieb:Aber es geht hier doch auch nicht darum, ob man Söring für böse hält, sondern ob man ihn für schuldig im Sinne der Anklage und der Verurteilung hält.
Mir geht es nicht darum. Ich halte ihn für schuldig und möchte trotzdem wissen, was ihn antrieb. Ist das nicht legitim?