calligraphie schrieb:Ich entnehme deinen Beiträgen hier eine gewisse emotionale Herangehensweise .
Was grundsätzlich bei einigen Verfechtern der JS Theorien erkennbar ist . Eine persönliche emo Sichtweise im Bezug auf den Täter sowie die Tat , verhindert leider auch oft eine realistische Betrachtung von Tatsachen .
Ich glaube, dass das eine falsche Sichtweise ist. Wenn man zum Beispiel von Anfang an glaubt, dass jemand "von Natur aus Böse" ist oder dass es unter allen Umständen unsinnig wäre, einen Mord zu gestehen, den man (in meinen Augen: nicht vollständig alleine) begangen hat, dann kann man natürlich bestimmte Gedankengänge gar nicht entdecken. Glaubst du zum Beispiel, dass Soldaten im Krieg "von Natur aus böse" sind? Oder dass die Attentäter von Columbine oder Robert Steinhäuser von Natur aus böse waren?
Ich habe letzte Woche "Soldaten: Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben" von Sönke Neitzel gelesen.
https://smile.amazon.de/Soldaten-Protokolle-K%C3%A4mpfen-Sterben-Nationalsozialismus-ebook/dp/B004WQ0G6QIch hoffe, ich darf promovierte Wissenschaftler (ein Historiker + ein Soziologe) zitieren, oder ist das auch eine zu emotionale Herangehensweise? Ich habe versucht, mir neben den von JS gelesenen Büchern auch andere (wissenschaftliche!) Bereiche zu erschließen, um seine Tat verstehen zu können:
Sönke Neitzel schreibt, dass man den "Referenzrahmen" rekonstruieren muss. Denn die Analyse objektiver Bedingungen führt irgendwann vor eine Wand, wenn man die Dinge nicht aus der Sicht des Täters betrachtet:
"Wenn man das Handeln von Menschen erklären will, muss man rekonstruieren, innerhalb welcher Referenzrahmen sie gehandelt haben - was ihre Wahrnehmungen geordnet und ihre Schlussfolgerungen nahegelegt hat. Für diese Rekonstruktion sind Analysen objektiver Bedingungen völlig unzureichend."
(Quelle: Sönke Neitzel, Soldaten, Amazon Kindle-Ausgabe, Cloud-Reader: 2%, Position 204 von 10279)
Denn wenn man die Ausübung von Gewalt als "pathologisch" ansieht, übersieht man, dass es für den Täter einen Grund gab, sich so und nicht anders zu verhalten, weil er es in dem Moment aufgrund
seiner Denkmuster nicht anders konnte:
"Und deshalb erscheint das Verhalten von Menschen, die Gewalt ausüben, oft schon von vornherein als anormal oder pathologisch, obwohl es - wenn man die Welt aus ihrer Sicht rekonstruiert -plausibel und nachvollziehbar ist, dass sie Gewalt ausüben. Es geht uns also darum, mit Hilfe der Referenzrahmenanalyse einen immoralischen, nämlich nicht-normativen Blick auf die Gewalt zu werfen, die im Zweiten Weltkrieg ausgeübt wurde - um zu verstehen, was die Voraussetzungen dafür sind, dass psychisch ganz normale Menschen unter bestimmten Bedingungen Dinge tun, die sie unter anderen Bedingungen nie tun würden."
(Einschränkung: Auch wenn sich Sönke Neitzel hier auf den 2. Weltkrieg und psychisch normale Menschen bezieht, kann man diese Überlegungen meiner Meinung nach sehr wohl auch auf Straftäter übertragen.)
(Quelle: Sönke Neitzel, Soldaten, Amazon Kindle-Ausgabe, Cloud-Reader: 2%, Position 220 von 10279)
Denn wer eine Situation als real interpretiert, hat später mit den realen Folgen zu kämpfen. Wie Ligala bereits mehrfach gezeigt hat, gab es für jedes von EHs und JSs Sörings Problemen auch eine "erwachsene Lösung" (Eltern anzeigen, Therapie, Ausziehen, auf Geld verzichten, sich den krankmachenden Strukturen entziehen), die sie aber in ihrer Situation nicht sehen konnten. Aus ihren eigenen Art der "Problemlösung" erwuchsen dann die realen Folgen (Flucht, Gefängnis, lebenslange Strafe):
"»Wenn Menschen Situationen als real interpretieren, dann sind diese in ihren Folgen real.« Eine Realitätseinschätzung kann so falsch oder irrational sein, wie sie will - die Schlussfolgerungen, die aus ihr gezogen werden, schaffen nichtsdestoweniger ihrerseits neue Wirklichkeiten."
(Quelle: Sönke Neitzel, Soldaten, Amazon Kindle-Ausgabe, Cloud-Reader: 3%, Position 268 von 10279)
Innerhalb des Referenzrahmens gibt es keine Reflexion über das, was "vernünftig" oder "sinnvoll" wäre, weil man zum Beispiel von seinen Eltern bestimmte Denkmuster übernommen hat, die es erschweren, die "erwachsene Lösung" zu sehen:
"Habituelle kulturelle Bindungen und selbstverständliche kulturelle Verpflichtungen machen einen erheblichen Teil von Referenzrahmen aus und sind gerade deshalb so wirksam und oft geradezu zwingend, weil sie die Ebene der Reflexion gar nicht erreichen. Es ist offensichtlich die kulturelle Lebensform selbst, die ausschließt, dass bestimmte Dinge gesehen oder schädliche Gewohnheiten und unsinnige Strategien geändert werden können. Aus der Außenperspektive erscheint daher oft als völlig irrational, was aus der Binnensicht der Akteure die Qualität höchster, weil selbstverständlichster Vernünftigkeit besitzt."
(Quelle: Sönke Neitzel, Soldaten, Amazon Kindle-Ausgabe, Cloud-Reader: 3%, Position 324 von 10279)
Ja, "soziale Verpflichtungen" (oder emotionale Verstrickungen) führen sogar dazu, dass man etwas tut, was man unter "normalen Umständen" niemals tun würde:
"Soziale Verpflichtungen
(...)
Wir wissen auch von vielen Fällen, in denen die gefühlte oder die physische Anwesenheit der Ehefrau das Morden begünstigt hat, weil der Täter sich mit den Wünschen und Optionen seiner Gattin in Einklang fühlte."
(Quelle: Sönke Neitzel, Soldaten, Amazon Kindle-Ausgabe, Cloud-Reader: 5%, Position 563 von 10279)
Eigentlich müsste die Beschäftigung "vom Anfang her" erfolgen:
"Niemand würde auf die Idee kommen, die Biographie einer Person vom Ende her zu entwickeln (...) einfach deshalb, weil Entwicklungen nach vorn, nicht aber nach hinten offen sind. Nur in der Rückschau scheinen sie alternativlos und zwangsläufig, während soziale Prozesse in ihrer Entfaltung eine Fülle von Möglichkeiten bereithalten, von denen faktisch nur einige ergriffen werden und ihrerseits bestimmte Pfadabhängigkeiten und Eigendynamiken ausbilden."
(Quelle: Sönke Neitzel, Soldaten, Amazon Kindle-Ausgabe, Cloud-Reader: 7%, Position 732 von 10279)
--> Dazu passt übrigens auch ein Zitat von EH selber. Sie hat nämlich im Gefängnis ein Buch namens "Memoirs of a Phantom Leg" geschrieben, das der Journalist Nathan Heller in den Händen gehalten hat:
"Recently, Lipskar dug out the manuscript and sent it to me [=Nathan Heller]. “Memoirs of a Phantom Leg,” nearly five hundred pages in typescript, is about an avant-garde artist who loses her leg in a skiing accident. The governing metaphor in Haysom’s mind was starting at the top and racing down. A skier knows the risks—they’re part of the sport’s thrill—but maybe one time her ski hits a small rock and she goes flying. Then everything is different. How did the change happen? The narrator says, “I must find the root. The first moment.”"
(Quelle: Nathan Heller, Blood Ties,
https://www.newyorker.com/magazine/2015/11/09/blood-ties)
EH hat übrigens in ihrem Buch auch "verschlüsselte Hinweise" eingebaut:
"The book has several epigraphs. One is an inscription at a German naval officers’ school: “Say not ‘This is the truth’ / but ‘So it seems to me to be as I now see / the things I think I see.’ ” Another is from Niels Bohr: “A great truth is a truth whose opposite is also a great truth.”
(Quelle: Nathan Heller, Blood Ties,
https://www.newyorker.com/magazine/2015/11/09/blood-ties)
Nathan Heller ist das jedenfalls aufgefallen, sonst hätte er es sicherlich nicht erwähnt. Das sind in meinen Augen eindeutige Anspielungen darauf, dass es "die Wahrheit" (= JS tat es alleine) nicht gibt, sondern dass erst ihre beiden Wahrheiten (= er tat es alleine bzw. sie tat es alleine) zusammen "die Wahrheit" (Denkmuster-Einschränkung: ihre Wahrheit) ergibt.
Von daher denke ich, dass die Beschäftigung mit JS (und EH) auf jeden Fall auch "vom Anfang" her erfolgen müsste, beginnend mit ihrer Kindheit (und vielleicht sogar mit der Kindheit ihrer Eltern und dem Verhalten seiner Großeltern seinen Eltern gegenüber). Ich habe mich in den letzten Tagen intensiv mit den Themen "Kriegsenkel" (= Weitergabe transgenerationaler Traumata an die nachgeborene Generation, die den Krieg selbst nicht erlebt hat) und "Kindheitsforschung" beschäftigt. Das sind alles relativ neue Entwicklungen.
Dort kann man, wenn man möchte und nicht von vornherein an die Psychokiller-These glaubt, Gründe finden für die im Weihnachtsbrief thematisierten Gefühle: ständige (vorauseilende) Schuldgefühle, das Gefühl trotz hervorragender Noten ein Versager zu sein, das lähmende Gefühl, sein eigenes Potential nicht zu nutzen, und das alles trotz vordergründiger materieller Absicherung (bei gleichzeitiger emotionaler Wurzellosigkeit, bedingt durch die Traumata des 2. Weltkriegs und der eigenen Kindheit). Ja, seine Eltern "wollten nur das Beste" für ihn, aber wenn man ehrlich ist, bezieht sich das nur auf die materielle Absicherung, aber nicht auf die emotionale Stabilität, mit Gefühlen wie Schuld, Scham, Angst, Wut, Hass adäquat umgehen zu können, offen mit seinen Eltern reden zu können und sich Hilfe suchen zu können, wenn man diese benötigt.
Ich selber habe das Pferd gedanklich zwangsläufig vom Schwanz her aufgezäumt, weil es erstmal gar keine andere Möglichkeit gab, als sich dem Thema vom Ende her (JS sitzt im Gefängnis und beteuert seine Unschuld) zu nähern. Seine Tat (bzw. ihre gemeinsame Tat) und ihre vielen Lügen haben eine Eigendynamik entwickelt, die es schwer macht, den "Anfang zu finden".
Denn nur in der Rückschau erscheinen die Ereignisse alternativlos zu sein. Aber es hätte vor der Tat zu jedem Zeitpunkt viele Möglichkeiten für JS und EH gegeben, aus der Mordfantasien-Achterbahn auszusteigen, aber dafür hätten sie diese Möglichkeiten sehen und für real halten müssen.
Am 31.12. war ich bereits auf diesen interessanten Blog gestoßen:
http://kriegsursachen.blogspot.com/2019/05/andere-leute-haben-auch-eine-schwierige.htmlLaut Sven Fuchs (Blogbetreiber) spielen Gene und Umwelteinflüsse (=Umgang der Eltern mit dem Kind) eine große Rolle, wie sich ein Kind entwickelt. Und wenn Kinder eine stabile Vertrauensperson habe, können sie Resilenz entwickeln.
Eine solche Vertrauensperson sehe ich aber bei JS und EH weit und breit nicht, weder bei ihm noch bei ihr. Sie haben vielleicht gedacht, sie könnten sich gegenseitig eine solche Vertrauensperson sein. Aber das Gegenteil war der Fall: Da beide ähnliche emotionale Erfahrungen gemacht hatten, klickten sie ineinander wie zwei Zahnrädchen.
Und nochmal, ich halte JS nicht für unschuldig und mit diesen Zeilen versuche ich nicht, ihn zu verteidigen. Ich versuche, ihn zu verstehen.