Misetra schrieb:Ich habe zwei Fragen an @Rick_Blaine zum Ablauf einer Hauptverhandlung im Strafverfahren in Frankreich. Haben denn Angeklagte und deren Angehörige in Frankreich kein Zeugnisverweigerungsrecht?
Misetra schrieb:Mir scheint, hier gibt es grundsätzliche Unterschiede zum Ablauf in Strafverfahren vor deutschen Gerichten. Welche sind das? Es wäre schön, hierzu etwas von Dir zu hören.
Oha. Wie wir in den USA sagen: "you opened a can of worms"
:) Du hast hier einen wunden Punkt angesprochen. Generell ist zwar der Ablauf eines Strafverfahrens dem deutschen recht ähnlich, aber in Einzelpunkten gibt es tatsächlich einige Unterschiede. Ich kann nicht alle hier aufzählen, das wird zu lang, aber zur Frage des Zeugnisverweigerungsrechts:
Das ist in Frankreich sehr kurios und verwirrend geregelt, was aber dort erstaunlicherweise keine grosse Diskussion hervorruft:
Ich beschränke die Sache hier mal auf ein Zeugnisverweigerungsrecht von nahen Angehörigen, wie Ehepartnern. Da gibt es in Frankreich eine sehr merkwürdige Situation:
1) Im Ermittlungsverfahren, also vor Polizei und Staatsanwaltschaft bzw. in Frankreich mehr vor dem Ermittlungsrichter (der juge d'instruction hat in Frankreich im Prinzip die Rechte und Aufgaben, die im deutschen Ermittlungsverfahren der Staatsanwalt hat) besteht kein Zeugnisverweigerungsrecht.
2) In der Hauptverhandlung im Strafverfahren besteht allerdings eine Art Zeugnisverbot: Generell müssen alle Zeugen in einer Hauptverhandlung vereidigt werden (anders als in Deutschland), die Vereidigung macht sie erst zu "Zeugen," so Art. 437 und 446 des frz. Strafprozessgesetzes (code de procedure penal).
Aber Art. 448 verbietet die Vereidigung bestimmter Zeugen, z.B. der Ehepartner eines Angeklagten. Aber: es wird eine nichteidliche Aussage erlaubt.
Das führt nun zu etwas skurrilen Ergebnissen:
A) Der Ehepartner kann aussagen, wenn er will. Das ist nicht ungewöhnlich, es gibt allerdings Länder in welchen der Angeklagte eine Aussage des Ehepartners verbieten kann. In Frankreich wie auch in Deutschland ist das nicht so, das Recht die Aussage zu verweigern liegt beim Zeugen.
B) Wenn der Ehepartner in der HV aussagen will, kann er allerdings nicht vereidigt werden. Daraus ergibt sich, dass er nicht verpflichtet ist, die Wahrheit zu sagen. In Frankreich wird nur die eidliche Falschaussage in einer HV bestraft. Das wiederum bedeutet, dass man in der Praxis nicht viel Wert auf eine solche Aussage legen muss.
C) Jetzt wird es aber ganz skurril: wie schon gesagt, ist der Zeuge, auch ein Ehepartner, aber im Ermittlungsverfahren gezwungen, unter Eid auszusagen. Weigert er sich da, oder macht er eine Falschaussage, kann das bestraft werden. Und: es ist in Frankreich üblich, Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren in der Hauptverhandlung zu verlesen, es gilt kein Unmittelbarkeitsgrundsatz, wie in Deutschland oder den USA.
Französische Anwälte raten in solchen Fällen manchmal dazu, den Eid vor dem Untersuchungsrichter zu verweigern, was eine Geldstrafe von 3750 Euro nach sich ziehen kann. Eine Falschaussage unter Eid jedoch wird weitaus härter bestraft. Da ist es besser, sich zu weigern, den Eid zu sprechen.
Das Ganze wirkt sehr konfus und unbefriedigend und einige französische Juristen sind der Meinung, die ganze Regelung verstosse gegen Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Entsprechende Gerichtsverfahren haben da aber noch zu keinem Erfolg geführt.
So, um die Vorlesung zusammenzufassen:
:) Auch in Frankreich können Ehepartner in einer Hauptverhandlung aussagen, wenn sie das wollen. Sie werden nicht unter Eid genommen, sind also nur so etwas wie "Zeugen 2. Klasse." Verweigern sie die Aussage in der HV ist das straffrei.
Im Ermittlungsverfahren dagegen müssen sie prinzipiell und unter Eid aussagen, und die Aussage kann später in der HV eingeführt werden. Dagegen kann man sich im Prinzip nur durch die Verweigerung des Eids schützen, was aber eine Geldstrafe bedeuten kann.
Soweit hier im Verfahren für die Angeklagten positive Aussagen durch ihre Ehepartner gemacht wurden, steht dem natürlich nichts im Wege. Wie weit das Gericht diese dann würdigt, ist seine Sache.
Quellen: Art 335, 448 CPP; 434-15ff CP u.a.