cyclic schrieb:Und da ist jetzt für mich die Frage: Kommt das kaum vor, weil die Ermittlungen i.d.R. doch am Ende nur eine Möglichkeit übrig lassen (zumindest was die Frage Täter ja/nein betrifft)?
Es kommt nicht vor, weil man sich gegen ein Wahrscheinlichkeitsmodell und stattdessen für die freie richterliche Beweiswürdigung (§ 261 StPO) entschieden hat. Man kann so gut wie nie einen komplexen Lebenssachverhalt mit Stochastik erfassen und zahlenmäßig als Wahrscheinlichkeitswert ausdrücken. Die freie richterliche Beweiswürdigung ist historisch gewachsen. Früher gab es noch gesetzliche Beweisregeln, die ebenfalls ihre Schwächen hatten.
Allmählich setzte sich jedoch die Erkenntnis durch, dass auch die freie Beweiswürdigung nicht willkürlich sein
muss. Betont wurde, dass Richter sich ihre Überzeugung vernünftig bilden müssen, dass die Überzeugungsbildung ein rationaler Denkvorgang, kein nicht zu vermittelndes Empfinden, sei. Die richterliche Überzeugung ist demnach keine rein innere Überzeugung, sondern eine vernünftige Überzeugung, eine conviction raisonée. Seinen Ausdruck fand dieses Verständnis in der auch heute noch verwendeten Formulierung, dass Richter an die „Denkgesetze und Erfahrungssätze“ gebunden sind. Ein Verstoß gegen die
Denkgesetze ist ein Verstoß gegen das Gesetz und führt zur Aufhebung des Urteils.
https://www.mpg.de/4671010/Richterliche_Ueberzeugungsbildung.pdfcyclic schrieb:Und was ist dann in den Fällen wo sich doch bestimmte Alternativen nicht ganz ausschließen lassen? Nun ich nehme an, sobald das der Fall ist, kann es eigentlich keine Verurteilung mehr geben
Genau. Ganz ausschließen lassen müssen sich jedoch nur ernsthaft in Betracht zu ziehende Alternativen. Wenn ein Szenario nach vernünftigen und empirischen Maßstäben lebensfremd ist, handelt es sich um eine lediglich theoretische Möglichkeit, die außer Betracht bleiben kann.
Wenn aber eine lebensnahe Alternative übrig bleibt, kann der Angeklagte nicht schuldig gesprochen werden, denn dann bleiben Zweifel an seiner Schuld bestehen.
Der Ablauf ist folgendermaßen:
Am Anfang wird nach kriminalistischem Wissen und Ermessen eine Hypothese gebildet, für die es gewisse Indizien/Beweise geben muss.
-> Das ist hier die öffentlich bekannt gegebene Hypothese, dass der Schwager Rebecca im Haus getötet und ihre Leiche mit dem Twingo abtransportiert hat. Die relevanten Beweismittel sind im Wesentlichen bekannt.
Es wird weiter geprüft, ob es Beweismittel gibt, die dieser Hypothese widersprechen.
-> Dies ist hier momentan die Aussage des Schwagers, dass er mit Rebeccas Verschwinden nichts zu tun hat.
Alternative Hypothesen sind im Falle solcher sich widersprechender Beweismittel natürlich zu prüfen. Sie müssen aber ernsthaft (!) bestehen.
Das Gericht (und vorher machen das auch bereits die Ermittler/die StA) muss also auch allen anderen lebensnahen, in Konkurrenz zur Anklageversion stehenden Hypothesen nachgehen. Solange eine dieser Hypothesen als Möglichkeit ernsthaft nach Ausschöpfen aller Ermittlungen weiter in Betracht kommt, kann das Gericht den Angeklagten im Rahmen der freien Beweiswürdigung nicht schuldig sprechen. Das Gericht muss andere Möglichkeiten (ernsthafte Möglichkeiten, lebensfremde können wie gesagt außer Betracht bleiben) ausschließen.
Für einen Ausschluss der mit der Anklagehypothese konkurrierenden Hypothesen sind plausible Gründe heranzuziehen.
-> Rebecca ist verschwunden. Es gibt keine Leiche, die ein Tötungsdelikt beweist. Die Hypothese der Polizei ist bekannt. Welche ernsthaft in Betracht zu ziehenden alternativen Erklärungen gibt es für Rebeccas Verschwinden? Können diese ausgeschlossen werden?
An diesem Punkt ist die Staatsanwaltschaft, genau wie wir hier auch. Gibt es lebensnahe andere Möglichkeiten?
Als Beispiele seien genannt: Ein freiwilliges Untertauchen, eine Entführung aus dem Haus, eine Tötung durch einen Unbekannten auf dem Weg zur Schule. Alle diese Möglichkeiten werden durchdacht, es wird geguckt, ob sie abwegig sind und falls nicht, ob sie widerlegt werden können.
Suizid oder eine vom Schwager unbemerkte Entführung aus dem Haus sind zum Beispiel (mMn) nach empirischen Gesichtspunkten nicht lebensnah und somit abwegig (keine Widerlegung zwingend notwendig), ein freiwilliges Verlassen des Hauses mit nachfolgend nicht vom TV verschuldeten Ereignissen ist hingegen nicht abwegig, dieses müsste hinreichend plausibel anhand von Indizien widerlegt werden.