Theorange schrieb:Ich würde dich gerne auf den Beitrag von @cyclic um 8.28 Uhr hinweisen. Hier fand ich super erklärt, wie die EB den Fall bewertet und auch das Gericht. Habe mich mal ein bisschen mit dieser Wahrscheinlichkeits-Theorie befasst und vieles erscheint mir jetzt logischer.
Da habe ich im morgentlichen Überschwang vielleicht zwei Dinge nicht klar genug getrennt:
- Eigentlicher Aufhänger war die Diskussion hier, die aufgrund der äußerst beschränkten öffentlich bekannten Fakten geführt wird.
- Die EB haben demgegenüber ja den Vorteil, dass sie Szenarien plausibilisieren/widerlegen können. Ich nehme an, dass in einer ganz überwigenden Zahl der Fälle am Ende (spätestens wenn es vor Gericht geht) nicht mehr viele Alternativszenarien übrig bleiben. Insofern werden Wahrscheinlichkeiten oder nennen wir es vielleicht eher Plausibiltäten meist eher der Priorisierung und Ressourcenaufteilung während den Ermittlungen dienen.
Edelstoff schrieb:Bei der Polizeiarbeit spielen diese Wahrscheinlichkeiten für unterschiedliche Ereignishergänge eine untergeordnete Rolle. Primär wird ein möglichst vollständiges Paket von Spuren, Indizien und Beweisen gesammelt, aus dieser Sammlung entsteht dann nach und nach ein mehr oder weniger komplettes Bild der Ereignisse. Es ist nicht möglich, "überall" nach Spuren zu suchen, manchmal führen vorhandene Spuren zu weiteren, es gibt dann in Einzelfällen überlegungen zu Wahrscheinlichkeiten, wo in Ermangelung konkreter Hinweise nicht klar ist, wo die nächste Spur liegen könnte. Beispiel: Suche nach der Leiche im Wald an Orten in der Nähe von Stellen, an denen Zeugen den Schwager gesehen haben wollen. Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung ist bei der Polizeiarbeit sekundär, sicherlich stellen sie die Polizisten diese Frage aber aus beruflichem Interesse auch.
Dem möchte ich nicht widersprechen (s.o.)
Edelstoff schrieb:Erst die Staatsanwaltschaft muß sich ein klareres Bild von den Wahrscheinlichkeiten im Sinne von einer Einordnung der Schwere des Tatverdachtes machen, wie wir im Falle von Rebecca eindrucksvoll mitverfolgen konnten:
"Reicht es für dringenden Tatverdacht und damit U-Haft?". Diese Frage stellt sich dann wieder bei der Überlegung, ob Anklage erhoben werden soll. Ob die Quantifizierung der Warhscheinlichkeiten hier in Prozentzahlen ausgedrückt wird und mit diesen
Zahlen sinnvoll gearbeitet wird, ist eine andere Frage, ich bezweifle es und denke eher, es wird mit beschreibenden, klassifizierenden Worten gearbeitet: hoch, niedrig, hinreichend, dringend...
Nennen wir es Plausibiltäten oder noch anders (mir fällt gerade kein guter Begriff ein - "(Un-)sicherheiten" vielleicht?). Mathematischen Axiomen der Wsk.-Rechnung muss das nicht zwingend genügen und exakte Prozentwerte wären ohnehin oft irrefürend (weil das eine Genauigkeit vorgaukeln würde, die man für die Bewertung eines komplexen Szenarios wohl eher nicht erreichen kann). Auch dem würde ich also nicht widersprechen.
Edelstoff schrieb:Die Arbeit der Gerichte ist etwas transparenter, da Verhandlungen und Urteile öffentlich sind. Prozentzahlen für Wahrscheinlichkeiten kommen da praktisch überhaupt nicht vor.
Ausnahme: Quantifizierung der Zuverläsigkeit beim Vergleich von speziellen Arten von Spuren mit Referenzmustern, wie bei Fingerabdrücken oder DNA.
Und da ist jetzt für mich die Frage: Kommt das kaum vor, weil die Ermittlungen i.d.R. doch am Ende nur eine Möglichkeit übrig lassen (zumindest was die Frage Täter ja/nein betrifft)?
Und was ist dann in den Fällen wo sich doch bestimmte Alternativen nicht ganz ausschließen lassen? Nun ich nehme an, sobald das der Fall ist, kann es eigentlich keine Verurteilung mehr geben und deshalb hat sich das ganze damit schon erledigt, ohne dass man (Un-)Sicherheiten wirklich genau quantifizieren müsste(?) Denn um doch nochmal eine Prozentzahl zu nennen (weil die hier schon öfter vorkam) 90% sind mal ganz sicher zu wenig für eine Verurteilung (wie ich heute morgen schon ausführte).
Sector7 schrieb:Ich würde die Verdachts-Grade ungefähr so definieren:
[...]
(3) Dringender Tatverdacht, wenn aufgrund der (aktuell als Zwischenstand vorliegenden) Beweislage eine Täterschaft hoch wahrscheinlich ist
- Voraussetzung für U-Haft
- Gerichtlich geprüfte theoretische Verurteilungs-Wahrscheinlichkeit deutlich größer als (2) unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit und der unvollständigen (dynamischen) Beweislage
Dazu OStA & Pressesprecher StA Berlin Steltner (mehrfach so geäußert):
Beschuldigt ist bei uns der Schwager von Rebecca. Aber die Beweislage reicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht aus, um einen dringenden Tatverdacht anzunehmen. Das ist ja eine hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung zum gegenwärtigen Zeitpunkt.
Themen-Wiki: Wo ist Rebecca Reusch? 22. März
Ok, bei Punkt 3 sind Steltner und du offensichtlich anderer Meinung als Wikipedia. Dass Wikipedia Fehler enthält wäre ja nicht neu, aber ganz überzeugt bin ich noch nicht :-) Gar so wichtig ist es aber nicht. Eigentlicher Punkt war der, dass eine Verurteilungs-Wsk. doch ganz was anderes ist als eine Täter-Wsk. Und die Bestimmung einer Verurteilungs-Wsk. scheint mir persönlich ein recht seltsames Konzept zu sein.
Sector7 schrieb:Deine Wahrscheinlichkeitsüberlegungen hinsichtlich der Summierung aller unwahrscheinlichen Szenarien zu einem großen Wahrscheinlichkeitsfaktor ist mMn. so nicht machbar.
Man kann nicht allen theoretisch denkbaren Szenarien ohne jeden belastbaren Hinweis (zB R. im geheimen Zeugenschutzprogramm etc.) eine minimale Wahrscheinlichkeit zuordnen und dann allen unwahrscheinlichen Szenarien zusammen zB 60%.
Äh nein, das war so auch nicht gemeint. Aber allen Hinweisen, die nicht von Anfang an als absolut unbelastbar einzustufen sind muss man doch nachgehen und diese damit Verbundenen Szenarien entweder erhärten oder entkräften(?) Man wird z.B. kaum einer Zeugensichtung wie denen vom Tag des Verschwindens nicht nachgehen können, weil rein digitale Spuren in eine andere Richtung deuten.
Sector7 schrieb:Vielmehr muss man von den tatsächlich vorhandenen Indizien ausgehen. Diese erreichten am 4. März in Summe und zum Nachteil von FR eine Wahrscheinlichkeit nach (3). Da sich die Beweislage bzw. der Tatverdacht bis zum 22.3. nicht erhärtet hat, reichte die Neubewertung der dann aktuellen (unveränderten) Beweislage unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit (Zeitfaktor U-Haft-Dauer, Rechte des TV) nicht mehr für eine Wahrscheinlichkeit nach (3).
Andere Baustelle, aber so ganz gesichert ist nicht was zur Aufhebung der U-Haft / Herabstufung des dringenden Tatverdachts geführt hat, oder? War es nun nicht mehr verhältnismäßig oder war die Haftbeschwerde so überzeugend begründet, dass die U-Haft zurückgenommen werden musste weil sie demnach eigentlich nie hätte angeordnet werden dürfen?