Peter0167 schrieb:Nicht wenige sind der Meinung, dass ein "echtes Naturgesetz" solche Fragen [nach einer Erklärung] beantworten muss
Diese Forderung ist m.E. wesentlich problematischer, als es zunächst den Anschein haben mag. Was ist eine "Erklärung"? Bereits das ist eine Definitionsfrage, wozu Feynman treffend feststellte:
We cannot define anything precisely! If we attempt to, we get into that paralysis of thought that comes to philosophers, who sit opposite each other, one saying to the other, “You don’t know what you are talking about!” The second one says, “What do you mean by know? What do you mean by talking? What do you mean by you?,” and so on.
(Feynman Lectures, Ch. 8)
Eine mögliche Definition von "Erklärung", die mir im hier betrachteten Zusammenhang sinnvoll erscheint, ist die "Zurückführung auf bekannte und verstandene Sachverhalte". Dabei gibt es natürlich sowohl bei "bekannt" als auch bei "verstanden" enorme individuelle Unterschiede, was sich durch den entscheidenden Unterschied zwischen "wirklich verstanden" und "einbilden, verstanden zu haben" noch erheblich verschärft. Es ist deshalb fraglich, ob es so etwas wie eine auch nur halbwegs allgemeingültige "Erklärung" überhaupt geben kann. Die Natur verhält sich unter Bedingungen (Geschwindigkeiten, Temperaturen, Drücken, Spannungen, ...), die deutlich von den alltagsüblichen Bedingungen abweichen, oft
sehr viel anders, als man es basierend auf der Alltagserfahrung vermuten würde.
Ein amüsantes Beispiel dafür ist ein hypothetischer Südsee-Insulaner, der bisher keinen nennenswerten Kontakt mit der Zivilisation hatte, mit dem man aber trotzdem -- aus welchen Gründen auch immer -- problemlos kommunizieren kann. Erzählt man diesem Südsee-Insulaner, dass bei einem zuhause Wasser manchmal so kalt wird, dass es sich verfestigt, und man darauf laufen kann, wird er vermutlich laut loslachen. Basierend auf seiner Alltagserfahrung ist kaltes Wasser kein bisschen fester als warmes Wasser. Wasser, das durch Kälte so fest wird, dass man sogar darauf laufen kann, ist folglich für ihn eine vollkommen absurde, lächerliche Vorstellung.
;) Auf dieser Basis ist aber auch das Verständnis jedes weitergehenden Sachverhalts, der auf dem Konzept "Eis" beruht, mit hoher Wahrscheinlichkeit verbaut.
Ein anderes, häufig anzutreffendes Beispiel ist der verzweifelte Versuch, alle physikalischen Effekte auf mechanischer (einschliesslich hydraulischer) Basis zu verstehen. Z.T. klappt das ganz gut, z.B. bei der
elektro-hydraulischen Analogie oder der
Kinetischen Gastheorie. Ein entscheidender Punkt, wo dieses Denkmuster jedoch regelmässig scheitert, ist das Verstehen von durch materiefreien Raum wirkenden Kräften, z.B. Gravitation. Das führt dann häufig (siehe z.B.
hier) zu Vorstellungen von
"Druck"-Gravitation, wo die gravitative Anziehung dadurch erklärt wird, dass hypothetische Teilchen "von aussen" auf alle Massen einprasseln, und diese dadurch "aufeinander zu drücken". Eine m.E. ganz hervorragende Widerlegung solcher Theorien hat James Clerk Maxwell 1875 für die
Encyclopaedia Britannica verfasst. Auch weite Teile der Elektrodynamik lassen sich nicht sinnvoll mechanisch verstehen. Für Menschen, die sich auf mechanische Erklärungen versteift haben (wovon es meiner Erfahrung nach eine ganze Menge, z.T. sogar hochgebildete gibt), wird eine nicht-mechanische Erklärung immer unbefriedigend und letztendlich "gefühlt falsch" bleiben.
Neben dieser grundsätzlichen Subjektivität von "Erklärungen" (im Gegensatz zu rein beschreibenden Naturgesetzen) besteht die erhebliche Gefahr, nicht objektiv begründete Aspekte (z.B. metaphysischer oder ideologischer Art) in Naturgesetze einzubringen, die zwar zum jeweiligen Zeitpunkt nicht nachweislich falsch, aber auch nicht direkt aus der Beobachtung der Natur ableitbar sind. Das bringt Newton in der berühmten "Hypotheses non fingo"-Passage zum Ausdruck:
Ich habe bisher die Erscheinungen der Himmelskörper und die Bewegungen des Meeres durch die Kraft der Schwere erklärt, aber ich habe nirgends die Ursache der letzteren angegeben. Diese Kraft rührt von irgend einer Ursache her, welche bis zum Mittelpunkte der Sonne und der Planeten dringt, ohne irgend etwas von ihrer Wirksamkeit zu verlieren. (…)
Ich habe noch nicht dahin gelangen können, aus den Erscheinungen den Grund dieser Eigenschaften der Schwere abzuleiten, und Hypothesen erdenke ich nicht [im lat. Original: "Hypotheses non fingo"]. Alles nämlich, was nicht aus den Erscheinungen folgt, ist eine Hypothese und Hypothesen, seien sie nun metaphysische oder physische, mechanische oder diejenigen der verborgenen Eigenschaften, dürfen nicht in die Experimentalphysik aufgenommen werden. In dieser leitet man die Sätze aus den Erscheinungen ab und verallgemeinert sie durch Induction. Auf diese Weise haben wir die Undurchdringlichkeit, die Beweglichkeit, den Stoss der Körper, die Gesetze der Bewegung und der Schwere kennen gelernt. Es genügt, dass die Schwere existire, dass sie nach den von uns dargelegten Gesetzen wirke, und dass sie alle Bewegungen der Himmelskörper und des Meeres zu erklären im Stande sei.
(Wikipedia: Hypotheses non fingo)
Zum Begriff "Experimentalphysik" (im lat. Original "Philosophia Experimentali") sei angemerkt, dass es zum damaligen Zeitpunkt noch keine Unterscheidung zwischen Theoretischer Physik und Experimentalphysik, wie sie heute üblich ist, gab. M.E. ist der Begriff im Sinne der Abgrenzung der Physik insgesamt von der Philosophie zu verstehen.
Ein weiterer Gigant der Wissenschaft,
André-Marie Ampère (über dessen Arbeiten zur Elektrodynamik Maxwell schrieb: "one of the most brilliant achievements in science") betrachtete diesen Grundsatz als so wichtig, dass er ihn sogar in den Untertitel seines Hauptwerks "Théorie des phénomènes électro-dynamiques" (1826) aufnahm: "uniquement déduite de l'expérience" (= "ausschliesslich aus der Erfahrung abgeleitet").
Ich sehe aus diesen Gründen Forderungen nach "erklärenden" Naturgesetzen etwas skeptisch, und begnüge mich mit "beschreibenden" Naturgesetzen.