Optimist schrieb:wie soll es ein Christentum ohne Jesus gegeben haben? Wie soll das gehen, wenn sich doch das Christentum nur auf den Christus begründen lässt (das Christentum also vom Wort "Christus" abgeleitet ist)?
Ganz einfach: "Christus" ist kein Nachname und "Christen" ist kein Vereinsname.
"Christus" ist die griechische Form von "Messias".
"Christen" ist eine Bezeichnung, die sich die Anhänger nicht selbst gegeben haben, sondern wohl von aussen stammt.
Einen wirklichen Messias gab es noch nie, denn es gab noch nie das dazu notwendige Gottes-Reich. Der Messias soll der Herrscher in diesem Reich sein.
Die Bezeichnung "Christen" charakterisiert damit gläubige Menschen, die sich der Erwartung des Gottes-Reich und damit des Messias verschrieben haben.
Das Gottes-Reich/Messias-Thema steckt bereits im AT andeutungsweise drin. Mir sind die Stellen nicht bekannt, aber vermutlich wird es irgendeine Prophezeiung sein.
Mit dem AT gab es damit im Judentum grundsätzlich die Möglichkeit einer (neuen) starken Betonung, einer Fixierung auf dieses Thema.
Im Jahr 6 n.Chr hat sich eine Gruppierung gebildet, die exakt diese Betonung durchgeführt hat.
Die Grundlagen für diesen "Start" waren vorherige Spannung mit dem Herodes-Clan (herrschende Griechen-Juden, die mit ROM paktierten) und die von ROM (nach dem Tod von Herodes dem älteren) eingeführte Steuererhebung (-> Volkszählung).
Diese Angaben sind vermutlich jedem heutigen Christen aus den Evangelien bekannt.
Bei der literarischen "Jesus"-Figur erscheinen diese Daten komisch, weil sie zeitlich hintereinander liegen und keinen Zeitpunkt markieren.
Für die Gruppe aus dem Jahr 6 n.Chr ist es die Charakterisierung ihres Anfangs.
In der Zeit von Herodes, also lange vor 6 n.Chr gab es immer wieder Versuche innerhalb der jüdischen Bevölkerung sich gegen die herrschende Klasse zu wehren.
Das waren aber wohl eher kleine, lokale Aufstände, ohne Erfolg. Der Grund hierfür war, dass es kein wirklich zündendes Thema gab, mit dem die Gesamtbevölkerung mobilisiert werden hätte können.
Genau das änderte sich im Jahr 6 n.Chr, denn die aus dem AT begründete Erwartung des Gottes-Reiches/Messias war wohl eine Idee, bei der die damaligen Juden in grossen Teilen mitgingen.
Wichtig dabei ist: nicht alle haben mitgemacht, aber enorm viele und die Juden stellten damals wohl eine sehr grosse Menschenmenge im römischen Reich dar (deshalb ja auch die Steuererhebung und die Volkszählung).
Die Idee lautete in etwa so:
- "Wir sind das auserwählte Volk und haben nur Gott über uns.
- "Wir dienen nur ihm"
- "Gott wird seinem Volk beistehen, wenn es sich für ihn als würdig erweist"
- "Wir halten uns von nun an exakt an das Gesetz Gottes, lehnen jegliche menschliche Macht über uns ab und kämpfen für das Gottes-Reich"
Es war ihnen klar, dass sie sich zahlenmässig niemals gegen ROM wehren konnten, aber sie hatten ja jetzt "Gott" auf ihrer Seite.
Sie wollten durch ihr Verhalten die Endzeit einleiten.
Sie hatten diese ominöse Naherwartung, die wohl auch aus der Bibel herausgelesen werden kann.
Das war der Start der Gottes-Reich/Messias-Thematik im Nahen Osten.
- Es gab Propaganda, es gab Druck auf die Bevölkerung mitzumachen (-> Missionierung).
- Es gab Gewaltaktionen gegen ROM-Sympathisanten (Morde). Es gab Kampfaktionen gegen Römer.
- Die Römer haben reagiert, denn wer keine Steuern gezahlt hat, hat seinen Besitz verloren und musste in die Wüste fliehen.
- Da die Wüste seit alter Zeit eine Art Zuflucht für die Juden darstellte, hatte die neue Gruppe exakt dort ihre Stützpunkte.
Von dort aus haben sie ihre Strategie zum Auslösen des Gottes-Reich ausgelebt (-> das Wüsten-Thema mit einer Versuchung kennt man ja auch aus der Bibel).
Diese Gruppe war erfolgreich.
- grosse Teile der Bevölkerung wurden mobilisiert,
- militärische Erfolge wurden erzielt (eine römische Legion wurde vernichtend geschlagen),
- über fast drei Generationen hat sich die Gruppe stabil gehalten, bis es zu einem grossen Kampf/Krieg gegen ROM kam.(aber selbst danach kursierte die Thematik immer weiter)
Der letzte Punkt, diese lange Zeit des Bestehens ist sehr wichtig, denn das war keine Wildwest-Gang, die hier und da mal eine Bank überfallen hat, sondern hier müssen sich regelrecht Traditionen in der Betonung des Gottes-Reich/Messias-Themas geformt haben (-> christliche Ansichten, Zeremonien).
Am Anfang dieser Bewegung stand kein Messias, denn den haben sie als Konsequenz ihres Denkens erst erwartet (-> der Messias ist dann da, wenn das Gottes-Reich startet).
Das waren keine "Jesus"-Christen, ich nenne es das "jüdische Christentum", denn die Betonung der Thematik aus dem Judentum heraus, ist identisch.
Genau hierin liegt die grosse Problematik der "Jesus"-Figur:
Was ist die literarische "Jesus"-Figur, wenn es die gesamte Gottes-Reich/Messias-Thematik an dem Ort und der Zeit davor und danach gegeben hat, aber ausser groben (eher nichtssagenden) Andeutungen, keinerlei Auseinandersetzung in der Bibel vorkommt?
Wie soll das gehen:
im auserwählten Volk bildet sich eine enorm grosse Gruppe von Gläubigen, die das AT sauber einhalten, sich für "Gott" einsetzen und eine Reaktion von "ihm" erwarten (-> den Messias) und dann soll (laut Literatur) dieser "Gott" tatsächlich in Menschengestalt (als zukünftiger Messias) erschienen sein, sagt aber gar nichts zu diesen Leuten, setzt sich nicht mit ihnen auseinander, kein Kommentar, Nichts.
Der Bibeltext ist derart aufgestellt, dass heutige "Jesus"-Christen nichts, und zwar gar nichts, über das damalige Vorhandensein dieser Gruppe wissen.
Als Feinde ROMs wurden sie selbstverständlich gejagt, gefoltert, gekreuzigt und haben das Martyrium in einer neuen Art auf die Spitze getrieben, denn sie erwarteten direkt die Endzeit (-> Naherwartung).
Die heutigen Christen gehen davon aus, dass hier "Jesus"-Christen verfolgt wurden und sie nehmen das Martyrium der "ersten Christen" als Zeichen für die Richtigkeit ihres Glaubens.
Sie haben nicht auf dem Schirm, dass die Gottes-Reich/Messias-Thematik bereits eine Generation lang im Nahen Osten war, als laut Literatur die "Jesus"-Aktivität gestartet sein soll.
Auch nach der behaupteten "Jesus"-Kreuzigung bestand die Gruppe noch lange weiter, aber keine Jesus-Christliche Literatur setzt sich damit auseinander.
Für manche heutigen "Jesus"-Christen ist die Tempelzerstörung "die Rache Gottes am Verrat der Juden", dabei ist die Gottes-Reich/Messias-Thematik verantwortlich, denn ROM ist hier mit 3 Legionen (60.000 Mann) gegen die genannte Gruppe vorgegangen und hat dabei Jerusalem erobert und den Tempel geplündert.