Hallo und schönen Sonntag zusammen,
habe nochmal bezüglich des schweren Kyschtym-Unfalls, der sich nur 16 Monate zuvor im Ural ereignet hat, recherchiert. Was ich rausgefunden habe, finde ich erstaunlich und frage mich, ob das noch Zufall ist und die zwei Tragödien nicht doch in einem sehr engen Zusammenhang stehen. Erstmal, der Unfall hat sich quasi vor der Haustür von Sverdlovsk, der Stadt in dem die Dyatlov-Gruppe studierte und lebte, ereignet. Die kerntechnische Anlage Majak ist nur rund 90 km Luftlinie entfernt. Und Rustem Slobodin als auch Yuri Krivonischenko scheinen dort gearbeitet zu haben, wenn die Angaben im Internet richtig sind:
Über Krivonischenko:
After graduation he started working on Plant number 817 (the "Mayak") along with Rustem Slobodin.
http://ermakvagus.com/Europe/Russia/Cholat-%20Syachil/krivonischenko.htmlÜber Slobodin:
After graduation Rustem worked as an engineer on Plant number 817 (also known as "Mayak"- "Lighthouse" in Russian). The plant is a closed regime facility that belonged to Chelyabinsk- 40. Among other things this closed plant worked with weapon grade plutonium. He came to work to this secret facility a year before George Krivonischenko.
http://ermakvagus.com/Europe/Russia/Cholat-%20Syachil/slobodin.htmlWikipedia dazu:
Im Laufe der Zeit wurde die Anlage häufiger umbenannt: Von 1946 bis 1967 wurde Majak als „Kombinat 817“ (russ. Комбинат № 817) bezeichnet
https://de.wikipedia.org/wiki/Kerntechnische_Anlage_MajakNach dieser Quelle hat Slobodin dort 1958 angefangen zu arbeiten und Krivonischenko 1959. Krivonischenko wurde wohl ausserdem für "Aufräumarbeiten" nach dem Unfall rekrutiert:
While working in Chelyabinsk - 40 a secret nuclear facility he experienced a disaster that became known as Kushtumkoy Accident. On September 29, 1957 plutonium plant experienced radioactive leak. Yuri (or Georgiy) Krivonishenko was among the people who was sent to clean it up.
https://dyatlovpass.com/yuri-krivonischenkoSince Ozyorsk/Mayak (named Chelyabinsk-40, then Chelyabinsk-65, until 1994) was not marked on maps, the disaster was named after Kyshtym, the nearest known town.
https://en.wikipedia.org/wiki/Kyshtym_disasterNach diesen Quellen und der Nähe von Sverdlovsk zur Anlage ist davon auszugehen, dass die Dyatlov-Gruppe im Bilde über den Unfall war. Weiter müssen zumindestens Slobodin und Krivonischenko mitbekommen haben, wie der Unfall vertuscht wurde. Er wurde ja nie in der Öffentlichkeit bestätigt, die Explosion, die wohl mehrere hundert Kilometer weit zu sehen war, wurde als Wetterleuchten bzw. Polarlichter erklärt. Rund 10.000 Menschen wurden innerhalb von mehreren Jahren evakuiert.
At least 22 villages were exposed to radiation from the disaster, with a total population of around 10,000 people evacuated. Some were evacuated after a week, but it took almost 2 years for evacuations to occur at other sites.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kyschtym-UnfallAusserdem habe ich gelesen, dass – unabhängig vom Unfall – radioaktives Material in den Fluss Tetscha abgeleitet wurde. Flussabschnitte nahe der Anlage wurden für Fischerei und als Trinkwasser für die Bevölkerung verboten. Da keine Gründe für diese Massnahme genannt wurden, hielten sich viele nicht daran. Daraufhin wurde der Fluss wohl eingezäunt. Leider finde ich den Link grade nicht mehr, reiche den nach.
Wichtig ist, das alles im Kontext der Zeit und ihren politischen Verhältnissen zu sehen. Nach Stalins Tod 1953 folgte zwar die Entstalinisierung und die politischen Verhältnisse wurden lockerer und liberaler, das Regime blieb aber in den Grundzügen repressiv. Dazu der kalte Krieg, das Wettrüsten zwischen USA und Sowjetunion. Die Anlage Majak war wichtiger Plutonium-Lieferant für Atombomben und war als solche (wie auch alle anderen Fabriken in der Region) streng geheim. Die Angestellten lebten in der geschlossenen Stadt Osjorsk, die Stadt hatte damals noch keinen Namen und existierte nicht auf der Karte. Die Adressen der Angestellten lauteten auf ein Postfach und sie durften selbst Angehörigen weder von ihrer Tätigkeit noch der Anlage erzählen. Es ist auch davon auszugehen, dass Krivonischenko für die Aufräumarbeiten zwangsrekrutiert wurde. Eine russische Anwältin (sie musste Asyl in Frankreich beantragen, weil sie sich für die Opfer von Majak einsetzt) berichtet von Grossmutter und Vater, die nach dem Unfall aushelfen mussten – ab Minute 13:00:
https://www.youtube.com/watch?v=8XdQKAdCO3s (Video: Re: Russlands Atomkatastrophe - Auf den Spuren des vertuschten GAUs von Majak Doku (2017))Sverdlovsk (heute Jekaterinburg) ist immer noch eine wichtige Universitäts- und Industriestadt, das UPI (heute USTU) ist eine renommierte technische Universität mit starker Bindung zur Industrie.
Ural State Technical University (USTU) is a higher education institute in Yekaterinburg, Sverdlovsk Oblast, Russian Federation. It is the biggest technical institution of higher education in Russia, with close ties to local industry in the Urals. Its motto, Ingenium Creatio Labor, means "brilliance creates work".USTU was founded in 1920. It was formerly known as Ural Polytechnic Institute (UPI). The school has rapidly expanded due to the industrialization program of the Soviet Government, which created a high demand for engineering positions. The USTU was key in providing local industrial enterprises with technical and engineering staff.
https://en.wikipedia.org/wiki/Ural_State_Technical_UniversityIch denke, dass die Dyatlov-Gruppe im guten Glauben ihre Ausbildung gewählt hat. Die Atomenergie war zu der Zeit noch unbefleckt und galt als höchst innovativ. Ausserdem waren Berufe in dem Bereich hoch angesehen, Bewohner der geschlossenen Städte hatten einen gehobenen Luxus in Form von Waren und Lebensmitteln, die anderen Orts schwer erhältlich waren. Einige der Dyatlovs hatten auch Eltern, die in dem Bereich u.a. als Professoren Ansehen genossen. Wie wird es ihnen wohl ergangen sein, als sich der Unfall ereignete? Was haben sie zu der Vertuschung und der Evakuierung der Menschen der Region gedacht? Ich glaube nicht, dass Krivonischenko und Slobodin sich ihren Job in Majak frei wählen konnten, er wurde ihnen nach dem Unfall und den gehobenen Personalanforderungen vermutlich nahegelegt. Auch war es sicher nicht möglich, diese Arbeit nach Belieben zu kündigen und anschließend durchs Land zu ziehen. Die anderen der Gruppe waren noch Studenten, war es auch ihre Perspektive dort eingesetzt zu werden? Wie sehr konnten sie das Ausmass des Unfalls einschätzen und wie beklemmend war die Aussicht dort zu leben und zu arbeiten? Die Region um Majak gehört zu den verseuchtesten Gebieten der Welt, der Kyschtym-Unfall gilt mindestens als der drittschwerste Gau der Geschichte. Einige Quellen vermuten sogar, dass er sogar weitaus schwerer als Tschernobyl war. Die radioaktive Substanz ist, anders als bei Tschernobyl, allerdings nicht in die Stratosphäre gelangt und wurde nicht so weit getragen. Laut Wikipedia ereignete sich die starke Verseuchung in einem Radius von mehreren hundert Kilometern. Es ist sehr gut denkbar, dass der Glaube der Gruppe an ihren Job, die Atomenergie und ev. auch deren politische Gesinnung stark erschüttert wurde. Aus dem Gruppentagebuch:
While traveling we sang songs, discussed various topics like love, friendship, cancer illness and cures.
https://dyatlovpass.com/dyatlov-group-diary?rbid=17742Ausgehend von diesen Umständen, ist jetzt viel denkbar. Waren sie tatsächlich sowas wie geheime "Umweltaktivisten"? Der Fluss Tetscha bei Majak mündet in einen grösseren Fluss, der im Nordpolarmeer endet. Weiter wird das Wasser durch viele abzweigende Flüsse auch in die Region des Dyatlov Pass getragen. Wenn man sich die Route der Gruppe anschaut, sieht man, dass sie entlang der Flüsse war. Vielleicht weil es die "Navigation" erleichterte.
https://dyatlovpass.com/mapsSollte Yuri Yudin nie die ganze Tour mitbestreiten und sein Auftrag bestand darin, lediglich Bodenproben der ersten Tage zu beschaffen (aber nicht alle waren in die Mission eingeweiht?)?
After breakfast, some of the guys Yura Yudin, Kolya and Yura Doroshenko went for the rocks in the core storage, where they decided to collect minerals for the collection. Nothing but pyrite, and there were no quartz veins in the rock.
It's time to go out, but they are still digging and digging. I do not understand what's taking so long.
https://dyatlovpass.com/diariesDas Foto finde ich ganz interessant, weil das nicht nach einem Mineral aussieht, sondern eher wie der Teil eines Sedimentkerns mit der perfekten Rundung vorne. Würde man radioaktive Belastung der letzten Jahre messen wollen, bräuchte man nur einige Zentimeter Kern. Allerdings glaube ich nicht, dass man bei so einer brisanten Mission, einen Sedimentkern fröhlich in die Kamera hält:
Original anzeigen (0,9 MB)Eher glaube ich, dass die Gruppe oder einige der Gruppe wie Slobodin oder Krivonischenko auffällig oder verdächtig wurden. Krivonischenko war der, der singend mit einer Mandoline von einem Polizisten aufgegriffen wurde und trotzdem weitermachte. Das hört sich nicht sehr angepasst und brav an. Vielleicht standen Mitarbeiter von Majak grundsätzlich unter besonderer Beobachtung, es ging schliesslich nicht nur um die Vertuschung des Unfalls sondern auch um die unbedingte Geheimhaltung des Standorts. Wurden einer oder mehrere als Risikofaktoren eingestuft? Wollte man sich unauffällig einer ganzen Gruppe entledigen? Atomindustrie und Militär operierten eng miteinander.
In dem Artikel den
@mashourah mal gepostet hat, berichtet Vladimir Askinadzi, damals Student in der Suchmannschaft, folgendes:
And just before my departure, I was again summoned to the party committee and told bluntly: make sure the tourists didn’t abscond to America through the North Pole. And if you find any details that speak of them leaving to America, then do not talk to anyone about it.
https://dyatlovpass.com/askinadzi?rbid=18461In einem anderen Artikel (Quelle finde ich leider nicht mehr), berichtet jemand, dass es die Befürchtung gab, die Gruppe wolle sich nach Skandinavien absetzen. Man kann sich vorstellen, wie ernst solche Befürchtungen genommen wurden. Vielleicht hatte die Gruppe tatsächlich solche Pläne (wenn auch nicht während der Skitour) oder haben zumindestens mal darüber geredet. Und vielleicht wurde Zolotaryov mit seiner militärischen Laufbahn tatsächlich als Aufpasser und Beobachter eingespannt.
Selbst wenn die Gruppe natürlich verunglückte, ist verständlich, dass die Aufklärung höhere Autoritäten des Militärs auf den Plan gerufen hat. Wenn der Miliitär selber an dem Unglück beteiligt waren, gibt es viele Möglichkeiten, wie es ablief. Dann sind Zurückhaltung von Informationen und Manipulation der Akte denkbar. Nach wie vor finde ich, dass nur anhand der Akte die Verunglückung mit Schnee am naheliegensten ist. Vielleicht war genau das beabsichtigt. Wenn der Militär beteiligt war, ist es möglich, dass bspw. ein Hubschrauber eine Lawine auslöste, sobald die Gruppe weit ab von der Zivilisation war.
Lawinensprenger
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Dann sind da noch die Berichte über die Messung von Radioaktivität vor Ort, die aber nicht in der Akte erwähnt wird.
Ein ehemaliger Ermittlungsbeamter sagte in einem privaten Interview, dass sein Dosimeter am Cholat Sjachl einen hohen Grad an Strahlung angezeigt habe und dass dies der Grund für die an den Kleidungsstücken gemessene Strahlung gewesen sei. Die Quelle der Strahlung wurde jedoch nicht gefunden.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ungl%C3%BCck_am_Djatlow-PassBesonders interessant finde ich nun auch Yuri Yudins Aussagen. Er hat sein Leben lang daran festgehalten, dass die Gruppe vom Militär oder West-Spionen angegriffen wurde. Er kritisierte ausserdem die Gründlichkeit der Ermittlungen und wunderte sich, dass die Ermittler immer wieder nachfragten, was die Gruppe vorhatte. Den Link muss ich nochmal rauskramen, leider findet man über Yuri Yudin auf deutsch sehr wenig.
Yuri Yudin criticized the official criminal investigation until his death. He believed that Dyatlov Pass Incident was a murder that was carefully hidden by the officials, either because the murder was carried out by the Soviet special forces or because Soviet intelligence allowed Western spies to kill the group.
http://ermakvagus.com/Europe/Russia/Cholat-%20Syachil/yudin.htmlAuf youtube habe ich folgendes Interview mit ihm gefunden. Die automatische Übersetzung ist sehr schlecht, man versteht nur bruchstückhaft um was es geht. Ab Minute 1:10 sagt er in der Übersetzung "Ich denke, das ist alles verbunden dort einige Fabrik oder dort durch welche Tests" später sagt er etwas von atomar, aber der Zusammenhang ist in der verwurstelten Übersetzung schwer auszumachen.
@WladimirP: Falls Du Zeit und Lust hast, wäre es prima, wenn Du kurz ab Minute 1:10 einige Sätze übersetzen könntest. Herzlichen Dank!
https://www.youtube.com/watch?v=lyaWE_jYXNo (Video: Перевал Дятлова / Интервью Юрия Юдина / Там были вещи военных)Wenn Yuri Yudin mehr wusste, hatte er Angst konkreter zu werden?