Beifall für den Angeklagten
Seite 2/2: Am Ende bleiben viele Fragen offen
Manche Journalisten scheinen die Distanz zum Fall verloren zu haben. Eine Reporterin applaudiert am ersten Verhandlungstag, als der angeklagte Kulac den Saal betritt, eine andere umarmt seine gesetzliche Betreuerin wie eine alte Freundin. Im Schulterschluss mit der etwa 20 Mann starken "Unterstützergruppe Ulvi" zeichnen einige Journalisten das Bild vom harmlosen Einfaltspinsel, dem skrupellose Ermittler einen Mord anhängen, damit ihre Unfähigkeit nicht offenbar werde. Gemeinsam sammeln sie entlastende Indizien – und verschweigen die belastenden. Dieselbe Strategie fährt auch der Frankfurter Verteidiger Euler. Das kann ihm niemand vorwerfen.
Was ihm aber vorzuwerfen ist, sind die unverhohlenen Beschuldigungen an die Nebenklägerin – Peggys Mutter Susanne Knobloch. Sie gilt im Unterstützerkreis als Gehilfin des Verbrechens an ihrer eigenen Tochter, wenn nicht Schlimmeres. In ihrer Vernehmung reitet Euler auf einer SMS herum, die Susanne Knobloch kurz nach Peggys Verschwinden von ihrem Exmann erhalten hat. Dort heißt es: "Überleg es dir gut. Mit 50.000 DM kann man viel machen auf dieser Scheiß-Welt." 50.000 D-Mark waren als Belohnung für Hinweise auf den Verbleib des Mädchens ausgesetzt. Euler spricht es nicht direkt aus, doch was er meint, ist unmissverständlich: Die beiden wollten das Geld einsacken, indem sie die Ermittler in Richtung des Täters dirigierten. Das aber setzt voraus, dass beide den Aufenthaltsort des Mädchens kannten.
Was der Rechtsanwalt verschweigt: Susanne Knobloch hatte die SMS den Ermittlern von sich aus übergeben. Für sie war es eine Drohung, der Ex wolle sie mithilfe eines Profikillers aus dem Weg räumen.
Die Staatsanwältin wirft dem Verteidiger einen Schauprozess vor. Der aber bekommt Szenenapplaus von den Zuschauerbänken. Die Allianz stilisiert Kulac zu einem Märtyrer wider den autoritären, erbarmungslosen Staat, die Hofer Schwurgerichtskammer ist für sie kaum mehr als der Vasall einer entfesselten Polizei. So einfach, so skandalös. Doch ist es wirklich so einfach?
Auch am Ende des Prozesses bleiben viele Fragen offen. Sogar die, ob Peggy wirklich tot ist. Auch am angeblichen Tatablauf bestehen Zweifel. Es gibt drei Zeugen, die Peggy deutlich nach dem angenommenen Tatzeitpunkt gesehen haben wollen. Solche Zeugen gibt es in jedem Vermisstenfall, meistens irren sie sich – aber nicht immer.
Auch der Zeitraum ist überaus kurz, in dem der stark übergewichtige Ulvi Kulac einer Neunjährigen fast einen Kilometer durch unwegsames Gelände hinterhergerannt sein soll, bevor er sie einholte, erstickte und die Leiche gemeinsam mit seinem Vater in dessen Auto schaffte.
Weil auch dieser Prozess kein Licht in die Sache bringt, hat der Bayreuther Vorsitzende Michael Eckstein das Hauptverfahren abgekürzt und keinen Zweifel daran gelassen, dass hier nur Freispruch infrage kommt – aus Mangel an Beweisen. Denn auch der Psychiater Kröber hat sein Gutachten abgeändert. Im Lichte der neuen Tatsachen und auch neuer Forschung sei es "nicht mehr ausschließbar, dass Herr Kulac ein aussagepsychologisch recht gutes, aber falsches Geständnis vorzubringen imstande war". Kröber ist eine Koryphäe unter den forensischen Psychiatern, diese Neubewertung verdient Respekt.
Trotzdem hält der Sachverständige nach wie vor die Möglichkeit eines auf realen Erlebnissen basierenden Geständnisses für die wahrscheinlichste. Es sei "in seiner aussagepsychologischen Qualität erstaunlich gut". Und die einfachste Erklärung hierfür ist für Kröber, "dass Herr Kulac es halt so erlebt hat".
Aus rechtsstaatlicher Perspektive ist ein Freispruch in einem Verfahren ohne jeden Beweis folgerichtig. Bleibt die Frage, ob mit Ulvi Kulac deshalb ein vollumfänglich unschuldiger Mann auf der Anklagebank sitzt, der unablässigen Applaus verdient.
Ulvi Kulac hat das Mordgeständnis damals nämlich nicht bloß – wie heute dauernd kolportiert wird – den Ermittlern gegenüber abgelegt, nein, er hat auch seinem damaligen Anwalt die Tat gestanden, den Ärzten in der Psychiatrie – und seinem Vater. Und er hat auch in 17 Vernehmungen der Soko I zwar den Mord stets bestritten, aber immer wieder zugegeben, Peggy massiv sexuell missbraucht zu haben, ihr den Penis zwischen den Pobacken auf- und abgerieben zu haben, bis sie nackt und verstört auf die Straße flüchten wollte. Diesen Hergang bestreitet er erst neuerdings, seit der Wiederaufnahme.
Die Staatsanwältin wirft der Verteidigung im Schlussplädoyer deshalb vor, die sexuellen Übergriffe zu vertuschen, sie zu "Hoppe-Hoppe-Reiter-Spielchen" heruntergeredet zu haben. Euler wehrt sich mit dem perfiden Argument, keines der acht- bis zwölfjährigen Kinder, an denen Ulvi sich vergriffen habe, habe jemals ausgesagt, dass es die sexuellen Handlungen nicht auch gewollt habe.
Im alten Hofer Urteil, dass der ZEIT vorliegt, sind 13 Fälle zum Teil schweren sexuellen Missbrauchs durch Ulvi Kulac dokumentiert. Von allen wurde er aufgrund seiner "erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit" freigesprochen. Das Gericht stellte aber auch fest, dass Kulac aufgrund dieser Übergriffe "für die Allgemeinheit gefährlich" sei, und ordnete die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, in dem Kulac bis heute lebt. Er hat noch keinen einzigen Tag seiner lebenslangen Haftstrafe im Gefängnis abgesessen.
"Der Kerl ist unschuldig, daran gibt es keinen Zweifel", sagt Gudrun Rödel am Montag vor der Urteilsverkündung. Früher hat die 66-Jährige in einer Rechtsanwaltskanzlei gearbeitet, aber seit neun Jahren ist sie die gesetzliche Betreuerin von Kulac. Sie sucht die Hemden aus, die er zur Verhandlung trägt, sie beantwortet die Presseanfragen, sie stimmt alles mit dem Rechtsanwalt ab. In ihrem Arbeitszimmer steht ein Regal, bis zur Decke voll mit Ordnern zu dem Fall, 45 Stück, insgesamt rund 14.000 Seiten stark. Die Wiederaufnahme des Falles ist ihr Triumph. "Wir sind schon stolz, dass eine Gruppe einfacher Leute so etwas zustande gebracht hat", sagt sie.
Es sieht nicht danach aus, als könne der Fall je aufgeklärt werden. Die Ermittler haben viel Arbeit hineingesteckt, insgesamt 88.000 Seiten an Verhören und Spuren sind inzwischen zusammengekommen. Übrig geblieben sind, laut dem Chefermittler Klaus Müller, vier Verdächtige – aber eine Festnahme gibt es bislang nicht.
Da ist Robert E. aus Lichtenberg, der in einem anderen Fall wegen sexuellen Missbrauchs zweier Mädchen zu drei Jahren Haft verurteilt worden war und der für den Tag kein Alibi hat. Und Jens B., der direkte Wohnungsnachbar der Knoblochs. Dessen Alibi, er habe zur vermuteten Tatzeit am Computer gesessen, ist geplatzt. Sein Adoptivbruder Holger E. ist der dritte Verdächtige. Er sitzt in der JVA Burg gerade eine sechsjährige Haftstrafe ab, weil er seine eigene Tochter missbraucht hat. In E.s Zelle fanden die Ermittler ein Foto von Peggy. Als die Beamten es ihm wegnahmen, bekam E. Heulkrämpfe. Er hat "Kuscheleien" mit Peggy zugegeben, mit ihrem Verschwinden aber habe er nichts zu tun. Der vierte Verdächtige, sagt Klaus Müller als Zeuge zum Gericht, sei immer noch Ulvi Kulac. "Er kann genauso der Täter sein wie die anderen."
Im Januar findet die nächste Anhörung im Bezirkskrankenhaus statt. Gudrun Rödel ist sicher, dass Kulac dann aus der Psychiatrie entlassen wird. Er soll in einer betreuten Einrichtung unterkommen, sie hat schon eine Unterkunft gefunden. "Ulvi hat gelernt, in der Gemeinschaft zu leben, ihm gefällt das sehr. Er braucht diesen Austausch und ist froh, nicht mehr gehänselt zu werden, so wie früher in Lichtenberg. Dahin will Ulvi nicht mehr zurück."
http://www.zeit.de/2014/21/ulvi-kulac-peggy-urteil/seite-2