Mordfall Charlotte Böhringer
29.11.2019 um 16:44
Hier kam der Wunsch auf, mal ein Urteil zu lesen, das auf Freispruch gelautet hätte.
Ich habe das mal in aller Kürze versucht und freue mich auf die Diskussion! Hätte ein Urteil auch so ergehen können?
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Im Namen des Volkes ...
Der Angeklagte wird wegen Diebstahls in drei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe in Höhe von 120 Tagessätzen zu je EUR XX verurteilt. Im Übrigen wird der Angeklagte freigesprochen. …
Gründe:
[Teil 1: Diebstahl des Geldes aus Parkautomaten]
Teil 2: Mordvorwurf:
Vom Vorwurf des Mordes war der Angeklagte freizusprechen.
Die erhobenen Beweise und festgestellten Indizien führen nicht zu der für eine Verurteilung notwendigen Überzeugung, dass der Angeklagte seine Tante getötet hat.
a) DNA-Spuren
Soweit DNA-Spuren des Angeklagten in der Wohnung und an der Leiche des Opfers gesichert wurden, erlauben diese keinen sicheren Rückschluss auf die Täterschaft des Angeklagten. Zum einen stand der Angeklagte in einer engen persönlichen Beziehung zum Opfer, bereits dies kann zur Übertragung von DNA-Spuren auf das Opfer und Gegenstände in seiner Wohnung geführt haben, ohne dass sich der Zeitpunkt der Übertragung sicher feststellen ließe.
Zum anderen ist in der Wohnung des Opfers eine DNA-Spur festgestellt wurden, die im Zusammenhang mit einem anderen Tötungsdelikt gesichert wurde. Der Verursacher dieser DNA-Spur ist unbekannt. Trotz umfangreicher Ermittlungen konnte diese Spur nicht dem Kreis der Ermittler, der an der Spurensicherung und –auswertung beteiligten Personen oder dem Umfeld des Opfers zugeordnet werden.
Deshalb kommen für diese Spur nur zwei Erklärungen in Betracht: Entweder wurde die Spur von einer Person gesetzt, die als Täter oder Beteiligter an dem anderen Tötungsdelikt in Betracht kommt. Oder die DNA-Spur ist das Ergebnis einer ungewollten Übertragung unbekannter Ursache. Beide Alternativen führen dazu, dass die am Tatort gesicherten DNA-Spuren des Angeklagten nicht für die Feststellung seiner Täterschaft ausreichen:
Sollte sich eine als Täter oder Beteiligter an dem anderen Tötungsdelikt in Betracht kommende Person in der Wohnung des Opfers befunden haben, wäre die Täterschaft dieser Person mindestens ebenso wahrscheinlich wie die Täterschaft des Angeklagten. Dabei kommt es nicht darauf an, zu welchem konkreten Zeitpunkt diese Person die Spur gesetzt haben mag. Denn angesichts der räumlichen und zeitlichen Entfernung zu dem anderen Delikt hätte sich diese Person räumlich und zeitlich so nah am Tatort und an der Tatzeit befunden, dass ihre Täterschaft ernsthaft in Betracht kommt.
Sollte die unbekannte DNA-Spur das Ergebnis einer ungewollten Übertragung unbekannter Ursache sein, könnte sich diese Ursache auch auf die gesicherten DNA-Spuren des Angeklagten ausgewirkt haben. Namentlich könnte es zu Übertragungen innerhalb der Wohnung und an der Leiche des Opfers gekommen sein, ohne dass noch gesagt werden könnte, welche Spur vom Angeklagten zur Tatzeit gesetzt und welche Spur gegebenenfalls ungewollt übertragen wurde.
b) Indizien
Auch die von der Staatsanwaltschaft angeführten Indizien können die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten nicht begründen:
aa) Zeitschriften
Soweit Zeitschriften von der Wohnungstür des Opfers in der Wohnung des Angeklagten gefunden wurden, deutet dies nicht auf eine Tötung des Opfers durch den Angeklagten hin. Selbst wenn der Angeklagte diese Zeitungen an sich nahm (was das Gericht für erwiesen hält), ist dies kein Indiz dafür, dass der Angeklagte seine Tante getötet hat. Die Auffassung der Staatsanwaltschaft, wonach die Wegnahme der Verdeckung der Tötung bzw. Verzögerung des Auffindens der Leiche dienen sollte, ist eine unzulässige petitio principii. Denn diese vermeintliche Indizwirkung setzt voraus, was sie beweisen soll. Wenn die Wegnahme dem Zweck der Verdeckung der Tötung gedient haben soll, ist dieser Zweck zu beweisen. Die bloße Wegnahme beweist den Zweck nicht. Es sind zahlreiche andere Motive denkbar, die der Wegnahme einen Sinn geben können. Das naheliegendste Motiv ist das Lesen der Zeitungen, denn immerhin hatte der Angeklagte die Zeitungen in seine Wohnung mitgenommen, was bei einer Wegnahme zur Verdeckung einer Mordtat eher fernliegend ist. Denkbar ist auch, dass der Angeklagte die Zeitung wegnahm, um dem Opfer zu zeigen, dass die Mitarbeiter der Parkgarage ohne ihn ihre Pflichten nicht erfüllen, der "Laden" also ohne ihn nicht läuft.
Dass der Angeklagte die Wegnahme wenig glaubhaft bestritten hat, kann keine andere Überzeugung begründen. Das Gericht ist zwar überzeugt, dass der Angeklagte die Zeitungen wegnahm und diese Wegnahme wahrheitswidrig leugnet. Aus diesem wahrheitswidrigen Leugnen der Wegnahme kann aber noch nicht geschlossen werden, dass die Wegnahme der Verdeckung der Tötung diente. Auch die erwiesene Lüge eines Angeklagten überführt ihn nicht der Tat, derer er beschuldigt ist. Denn die Lüge kann auch schlicht dazu dienen, eine Verurteilung zu verhindern. Es wäre verfehlt, aus einer solchen Lüge auf die Täterschaft zu schließen.
bb) Fahrt nach Augsburg
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für die weiteren von der Staatsanwaltschaft für die anderen als tatrelevant erachteten Indizien:
Die Fahrt nach Augsburg war eine Fahrt nach Augsburg, nicht mehr und nicht weniger. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Fahrt der Beseitigung der Tatwaffe oder anderer Tatmittel diente. Insbesondere wurden solche Tatmittel nicht in Augsburg oder auf dem Weg dahin aufgefunden. Es kann dahin stehen, ob die vom Beklagten gegebene Begründung für die Fahrt zutrifft oder sinnvoll erscheint. Denn es mag noch andere Gründe für die Fahrt nach Augsburg gegeben haben, eine Verbindung zur vermeintlichen Tat ergibt sich aus der Fahrt jedoch nicht. Es wäre für den Angeklagten einfacher gewesen, die Tatwaffe und weitere Tatgegenstände auf andere Weise zu beseitigen. Auch insofern setzt die von der Staatsanwaltschaft angenommene Indizwirkung (Beseitigung von Tatmitteln) eine Täterschaft des Angeklagten voraus, ohne dass diese bereits erwiesen wäre.
cc) Reinigung des Fahrrades
Die Reinigung des Fahrrades in der Parkgarage hat ebenfalls keine tatrelevante Indizwirkung. Die Reinigung des Fahrrades war wiederum nur die Reinigung eines Fahrrades, nicht mehr und nicht weniger. Ein Bezug zur Tat ergibt sich nur, wenn man eine Täterschaft des Angeklagten annimmt. Diese ist aber nicht erwiesen und kann auch nicht durch solche Indizien belegt werden, die ihrerseits eine Täterschaft des Angeklagten bereits voraussetzen. Der von der Staatsanwaltschaft angenommene Zweck der Reinigung, nämlich die Beseitigung von Tatspuren, ist auch fernliegend. Denn der Angeklagte wäre bei vorheriger Entdeckung der Leiche Gefahr gelaufen, mit dem noch ungereinigten Fahrrad am Tatort einzutreffen und so das ungereinigte Fahrrad den Ermittlungsbehörden in die Hände zu spielen. Geht man von der Motivlage des Angeklagten als Täter aus, hätte die Reinigung des Fahrrades in der Parkgarage nicht zur Verdeckung, sondern zur Aufdeckung seiner Täterschaft führen können.
[Das kann man beliebig fortsetzen.]
c) Gesamtschau
Eine Gesamtschau der Beweise und Indizien führt zu keinem anderen Ergebnis. Dass eine Häufung von Indizien auf die Täterschaft des Angeklagten hinweisen würde, könnte nur dann angenommen werden, wenn die Indizien für sich gesehen eine Tatrelevanz aufwiesen. Bereits hieran fehlt es, wie vorstehend im Einzelnen ausgeführt. Aus einer Häufung nicht tatrelevanter Indizien kann eine Überzeugung von der Täterschaft nicht gewonnen werden. Aus diesem Grund bilden die nicht tatrelevanten Einzel-Indizien auch keinen "Ring" um die Frage der Täterschaft des Angeklagten. Denn die Indizien weisen weder einen naheliegenden Zusammenhang zur Tat auf noch einen Zusammenhang untereinander.
d) Motiv
Zu dem von der Staatsanwaltschaft angenommenen Motiv des Angeklagten ist folgendes festzustellen: Der Angeklagte hatte schon seit mehreren Jahren ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Opfer. Er war einerseits der von seiner Tante gewünschte Erbe und künftige Leiter der Parkgarage. Andererseits hatte die Tante klare Vorstellungen von der Entwicklung des Angeklagten, die mit dessen Lebensplan nur insofern in Einklang standen, als der Angeklagte eine Leitung der Parkgarage als durchaus erstrebenswerte Stellung ansah. Immer wieder kam es deshalb zu heftigen Konflikten zwischen dem Angeklagten und seiner Tante, z.B. im Zusammenhang mit seiner für die Tante unerwünschten Lebenspartnerin. Es kam aber immer wieder auch zur Aussöhnung zwischen dem Angeklagten und dem Opfer.
Vor diesem Hintergrund ist die Annahme einer Zuspitzung des Verhältnisses zwischen dem Angeklagten und der Tante als Auslöser der Tat zwar nicht fernliegend, aber auch nicht naheliegend. Unzweifelhaft hatte sich die Situation seit Beginn des Jahres zum Nachteil des Angeklagten verändert, er wurde nicht mehr in dem Maße wie zuvor gebraucht. Dies zeigte sich insbesondere bei dem Streit im Reifenlager.
Das Gericht geht auch davon aus, dass es zu der vom Angeklagten behaupteten Aussöhnung am Muttertag nicht kam, denn es handelt sich insoweit um eine nicht belegte Schutzbehauptung.
Nicht belegt ist aber auch, dass eine vom Angeklagten versuchte Aussöhnung endgültig scheiterte oder von ihm als endgültig gescheitert angesehen wurde. Vielmehr konnte der Angeklagte gerade angesichts der zahlreichen Auseinandersetzungen mit seiner Tante und den folgenden Aussöhnungen auch dieses Mal auf eine solche Aussöhnung hoffen. Dies auch deshalb, weil die kinderlose Tante aus ihrer Sicht nicht nur auf einen geeigneten Leiter der Parkgarage angewiesen war, sondern auch auf einen geeigneten Erben. Dass die Tante diesen Erben weiterhin aus dem Kreis ihrer Familie wählen würde, war durchaus naheliegend und wird durch die aufgefunden Testamente bestätigt.
Das Opfer hatte zudem eine emotional sehr starke Beziehung zu dem Angeklagten, dieser war ihr Lieblingsneffe. Dass der Angeklagte diese emotionale Bindung als für immer zerstört ansah, ist weder erwiesen noch naheliegend.
Auch die Studienlüge des Angeklagten führt zu keiner anderen Überzeugung des Gerichts. Zwar stand nach den Angaben des Angeklagten gegenüber seinem Umfeld der schriftliche Teil des Staatsexamens kurz bevor. Dies führte jedoch nicht dazu, dass eine Aufdeckung der Studienlüge unmittelbar bevorstand. Denn der Angeklagte hätte auch das Absolvieren des schriftlichen Teils behaupten können und sogar das Bestehen des gesamten Examens. Möglich wäre es auch gewesen, dass der Angeklagte das endgültige Nichtbestehen des zweiten Examens behauptet hätte, ohne dass hierdurch die Studienlüge aufgedeckt worden wäre. Da die Leitung der Parkgarage das Bestehen eines juristischen Examens nicht voraussetzt, wäre es nicht fernliegend, dass die Tante von ihrer Zielvorstellung Rechtsanwalt abgelassen und sich mit einem ersten Examen zufrieden gegeben hätte. Da die Tante Nachweise des Bestehens des ersten Examens nicht verlangte, diese im Übrigen auch ohne großen Aufwand gefälscht werden konnten, hätte der Angeklagte annehmen können, dass sich die Tante auch mit einem bestandenen 1. Examen zufrieden gegeben hätte.
Dass der Angeklagte die Tat deshalb begehen wollte, um den Weg zum Erbe zu verkürzen, also nicht auf den Tod der Tante warten zu müssen, hält das Gericht für fernliegend. Bei einer solchen Erwägung hätte der Angeklagte bei auch nur geringster Anspannung seiner Geisteskräfte erkannt, dass eine gewaltsame Tötung der Tante Fragen nach seiner möglichen Täterschaft aufwerfen würde. Dies wäre ein sehr viel höheres Risiko für das Erbe des Angeklagten gewesen als das Abwarten eines natürliches Erbfalls.
e) Ergebnis
Insgesamt konnte das Gericht deshalb nicht zur Überzeugung der Täterschaft des Angeklagten kommen, wenngleich es dessen Täterschaft nach wie vor für möglich hält. Dies allein genügt jedoch nicht für eine Verurteilung und es ist eine Errungenschaft des modernen Rechtsstaats, in Zweifelsfällen eher einen Schuldigen ungestraft zu lassen, als einen Unschuldigen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen
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