Winterella schrieb:Auch werden hier wie gesagt zum Schutz vom Körper Hormone und Botenstoffe freigesetzt, die meist beruhigend, schmerzstillend und euphorisirend wirken. Dass S. immernoch so aufgebracht war, müsste bedeuten dass er wirklich unter ENORMEN Druck und furchtbar großer Angst litt.
Das ist so nicht korrekt. Dass schwer verletzte Menschen oftmals schmerzunempfindlich(er) sind, liegt zum einen daran, dass Schmerz Wahrnehmungs- bzw. Aufmerksamkeitsabhängig ist und zum anderen am psychischen Status, in dem sich diese Menschen befinden.
Ersteres kennt jeder:
Man verletzt sich, ohne die Schwere der Verletzung zu bemerken (weil man abgelenkt ist o.Ä.). Erst wenn man hinschaut und das Blut sieht, tut's weh. Das Gehirn muss zunächst nicht nur die Information erhalten, dass es eine Verletzung gab, sondern nach Kenntnis dieser Verletzung zudem noch die Bewertung vollziehen, ob hierdurch Gefahr droht. Erst dann - und das dauert nicht mal einen Bruchteil einer Sekunde - reagiert das Gehirn mit der Ausschüttung von Schmerzbotenstoffen und Adrenalin, um eine Schutz- und Wachsamkeitsreaktion in uns hervorzurufen.
Hier kommt der psychische Status ins Spiel:
Befindet sich das Unfallopfer in einem Schockzustand, dann meint das nichts anderes, als dass sein Kortex derart von Adrenalin überflutet ist, dass er Wahrnehmungen nicht mehr verarbeiten und bewerten kann. Es kommt zu einer Trennung von Wahrnehmung und damit verbundenen Emotionen, wobei keine Bewertung beider Dinge vorgenommen wird. Das heißt, die Wahrnehmungen werden in keine Schublade eingeordnet, aufkommende Gefühle werden weder bewertet noch eingeordnet, sondern dissoziiert, also vom Erleben und Wahrnehmen abgetrennt. Auf sie kann in einer solchen Situation auch meist nicht zugegriffen werden, so dass solche Unfallopfer nicht nur leer wirken, sondern auch angeben, "nichts" zu fühlen. Rational wissen sie, dass sie sich geschockt fühlen müssten, sie fühlen den Schrecken aber nicht. Da Schmerz u.a. ein emotional wahrgenommener Sinnesreiz ist, kann auch der in solchen Momenten rein psychisch nicht gefühlt werden. Körperlich auf Grund des Adrenalinrausches ebenfalls nicht. Erst, wenn der Adrenalinrausch nachlässt, sich das Opfer also entspannt, kommt der Schmerz mit geballter Härte.
Dass derlei Botenstoffe per sé "beruhigend" wirken sollten, ist so nicht korrekt. WIE sich ein unter Schock stehender Mensch verhält, ist äußerst variabel und davon abhängig, inwieweit sein Kortex zumindest fragmentarisch Einzelwahrnehmungen zerstückelt bewertet und einzuordnen versucht. Der eine mag wie die Ruhe selbst wirken, um dann seelenruhig nach dem Unfall über die Autobahn zu laufen und dort von einem 40-Tonner erfasst zu werden - bei solchen Menschen macht der Kortex rein gar nichts mehr, außer instinktive Handlungsimpulse auszulösen (ohne "Sinn und Verstand" wie der Volksmund gerne so treffend sagt). Andere wiederum ticken völlig aus und attackieren die Rettungskräfte - ein Zeichen, dass der Kortex noch fragmentarisch zumindest erfassen kann, DASS sich sein Besitzer in einer Gefahrensituation befindet, aber nicht mehr BEWERTEN kann, um welche Gefahr es sich handelt. Dann schlägt er seinem Besitzer eine instinktive Reaktion vor, die sich "willenlos" (wieder ein hübsches Wort
:) ) gegen alles und jeden richtet, der ihm zu nahe kommt. An der Paranoia, zu der es in einem solchen Fall oft kommt ("ihr seid alle Agenten! Ihr wollt mich umbringen!") kann man erkennen, dass der Kortex eine Einordnung versucht, jedoch die Bewertung der Situation falsch und verzerrt zuordnet. Es paart sich also instinktive Ur-Angst mit realen, aber unrealistisch bewerteten Situationsfragmenten.
Ein Schockzustand - egal ob "leer" oder paranoid-aggressiv ist körperlich gesehen immer ein Zustand höchster Übererregung. Auch, wenn der Betreffende das weder spüren, noch ein Außenstehender "sehen" kann.
WAS jedoch stets auffällt, bei Menschen, die z.B. unter Schock stehen und in diesem Zustand aggressiv-paranoid reagieren, ist, dass es bei ihnen oftmals bereits zuvor bestehende hirnorganische Veränderungen gab, z.B. durch demenzielle Veränderungen, alkohol-oder drogentoxische Veränderungen oder aber grundlegende Veränderungen des Hormonstoffwechsels im Zuge einer bestehenden Psychotischen Erkrankung, wie z.B. Schizophrenie.
Zudem sei gesagt, dass die
hirnorganischen Abläufe bei einem Schock und einer akuten Psychose nahezu gleich sind (!) - der Unterschied ist: Menschen unter Schock kommen irgendwann zu sich, spätestens dann, wenn sie sich entspannen. Bei einer Psychose bzw. psychotischen Erkrankung ist das Erregungsniveau anhaltend und gleichbleibend hoch, was einerseits zu den permanent verzerrten Wahrnehmungsinhalten (Wahn) führt und daher auch medikamentöse Behandlung unabdingbar ist, da ein normales Denken, Fühlen und Handeln auch nach einem akuten Schub kaum möglich bzw. sehr fragil ist.
Winterella schrieb:könnte man klären ob die von mir angesprochenen Botenstoffe auch eine Psychose abmildern oder ganz ausschalten könnten, dann wäre diese Theorie nämlich komplett hinfällig.
Das ganze Gegenteil ist der Fall. Stellen wir uns vor, Stoll sei Psychotiker, habe aber vor dem Unfall keine akute Psychose gehabt. Der Unfall müsste bei ihm nicht mal für einen Schock gesorgt haben, da ein unerwarteter Stressor (Unfall) allein schon zu einer Hypererregung seines eh schon erhöhten Erregungsniveaus führen würde und somit das Risiko einer akut einsetzenden Psychose deutlich erhöht.
DASS Stoll Angst und Druck äußerte, zeigt zunächst drei Dinge an:
1. Er hatte Angst, demnach funktionierte sein Kortex mindestens fragmentarisch.
2. Dass sein Kortex nicht normal und auch nicht vollumfänglich arbeitete, zeigen seine fragmentarischen, wenig kohärenten Angaben.
3. Dass er Angst hatte, ist nicht gleichbedeutend damit, dass diese Angst sich auf eine korrekte Wahrnehmung und Bewertung der Realität bezieht.
Und jetzt wird's spannend:
Bereits VOR dem Unfall hat Stoll mehrmals ein gleiches Verhalten bzw. Aussageverhalten gezeigt, wie nach dem Unfall, daher liegt aus meiner Sicht nahe, dass der Unfall bei ihm nicht zu einem psychogenen Schock geführt hat.