Insbes. gestern gab es hier mehrere sehr interessante Posts auf die ich mich hier lose beziehe ohne sie konkret zu zitieren. Insbesondere beziehe ich mich auf
@Thaumatrope für seinen mMn. sehr richtigen und wichtigen Hinweis, dass man auch relativ unwahrscheinliche Ereignisse berücksichtigen muss, sowie auch auf
@Sector7 der schon mehrfach ausgeführt hat, dass es um die Beurteilung/Gewinnung von Wahrscheinlichkeiten geht.
Was ich schreibe ist vom aktuellen Fall weitgehend losgelöst/abstrahiert, ich hoffe es ist trotzdem ok (neue konkrete Nachrichten gibt es ja ohnehin nicht).
Also: In einem Fall in dem keine ganz eindeutigen Beweise vorliegen geht es letztlich um die Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten (im folgenden mit Wsk. abgekürzt) für alle denkbaren Abläufe.
Ich vermute, dass es selbst in Fällen in denen die Beweise eindeutig scheinen, es vor Gericht als Fehler gewertet würde, wenn nicht trotzdem Alternativen hinreichend untersucht und entspr. ausgeschlossen wurden. Kann das jemand bestäigen?
Wie kommt man nun zu Wahrscheinlichkeiten für einen bestimmten Ablauf? Es gibt sicherlich einige "harte" Wahrscheinlichkeiten insbes. für Ergebnisse aus wissenschaftlich durgeführten Analysen (Abgleiche von DNA, Fingerabdrücken, Bodenproben, etc.). Für einen gesamten Ablauf (z.B. einen/den vermuteten Tathergang) wird man schwerlich eine Wahrscheinlichkeit (z.B. 96%) direkt angeben können, weil da zu viele nicht hart wissenschaftlich bestimmbare Faktoren einfließen. Jeder Fall ist anders, d.h. man kann nicht, wie bei einem Würfel, Millonen gleichartige Versuche machen, um festustellen ob jede Zahl wirklich ein Wsk, von 1/6 hat.
Man wird daher (jedenfalls kann ich es mir nicht anders vorstellen) eine Wahrscheinlichkeit für einen bestimmten Ablauf (und damit letzlich auch für einen bestimmten Täter, s.u.) nur gewinnen indem man möglichst alle denkbaren Abläufe gegeneinanderstellt und zueinander gewichtet (grob inder Art von "Ablauf A ist 10x wahrscheinlicher als B und 20x wahrscheinlicher als Ablauf C..."). Schon deshalb müssen mMn. alle denkbaren Abläufe berücksichtigt werden (s.o.).
Um nun zu einer Aussage zu kommen wie wahrscheinlich ein TV auch der Täter ist, kann man nicht einfach den wahrscheinlichsten Tathergang in dem TV=Täter nehmen und dem wahrscheinlichsten Ablauf gegenüberstellen in dem der TV nicht der Täter ist. Stattdessen muss man alle Abläufe zusammennehmen in denen TV=Täter und allen Abläufen gegenüberstellen in denen der TV nicht der Täter ist. Soweit einigemassen verständlich dargestellt hoffe ich(?)
Worauf ich hinaus will ist Folgendes (rein konstruierte, theoretische Überlegung): Es gibt nur einen denkbaren Hergang (A) in dem der TV der Täter ist und 100 Abläufe in denen er es nicht ist. Wobei A 100x wahrscheinlicher ist als jede einzelne der hundert alternativen Abläufe. Das gibt dann insgesamt aber (nur) 50% Täter-Wsk. (einige Fallstricke der Wsk.-Rechnung mal nicht berücksichtigt). Also frei nach dem Motto "Kleinvieh macht auch Mist".
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich gehe davon aus, dass die EB viele alternative Abläufe geprüft haben (bzw. noch dabei sind) und entweder aktiv (mit hoher Wsk.) ausschließen können (z.B. durch Alibis anderer Personen) oder zumindest überhaupt keine Anhaltspunkte für einen solchen Ablauf gefunden haben. Die Frage ist halt wieviele bleiben übrig, die eine nicht völlig vernachlässigbare Rest-Wsk. haben?
Mir fallen da übrigens Möglichkeiten ein die hier, soweit ich mitgelesen habe, noch nie genannt wurden, da ich aber nicht die Theorien Fünfhundertdrölf und folgende in den Welt setzen möchte, die sich dann wohlmöglich hier zum F.A.K.T.
(Föllig Abstruse und Krude These) verselbstständigen, lasse ich das.
Kuriosität am Rande (wenn Wikipedia Recht hat - s.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tatverdacht):
- Für einen "dringenden Tatverdacht" muss eine hohe Täter-
Wsk. vorliegen. - Für einen "hinreichneden Tatverdacht" muss jedoch eine hohe Wsk. für eine Verurteilung vorliegen.
Da der Wikipedia-Artikel diesen Unterschied ausdrücklich thematisiert scheint es sich nicht um einen Fehler bzw. nicht nur um eine ungenaue Formulierung zu handeln.
Täter-Wsk. ist klar (s.o.), aber Verurteilungs-Wsk. ist nochmal ein Abstraktionslevel höher: Wenn man (meinetwegen wissenschaftl. exakt) zu einer Täterwahrscheinlichkeit von 80% kommt, müsste die Wsk. für eine Verurteilung (theoretisch) bei exakt 0% liegen (weil 80% nicht ausreichen). Bei 90% immer noch, erst irgendwo bei weit über 90% Täter-Wsk. dürfte auch die Verurteilungs-Wsk. auf >>0 steigen.
Denn wenn ein Richter 100 Verdächtige verurteilt bei denen (er sich) zu 90% sicher ist, dann verurteilt er (nach eigener Überzeugung) dabei ja 10 Unschuldige.
Damit kann, wie im Wikipedia-Artikel ausdrücklich erwähnt (zumindest theoretisch) ein dringender Tatverdacht angenommen werden, ohne dass ein hinreichender Tatverdacht angenommen wird.