Vielleicht hilft eine Chronologie der Ereignisse nochmal, angefangen am Tattag 31. Oktober 2018:
7.36 Uhr: Eine Überwachungskamera am Firmengelände von Futurm, dem Unternehmen Tom Hagens, zeichnet eine schwarz gekleidete Person auf, die außerhalb des Geländes von links nach rechts durch das Bild schreitet, ihr Handy aus der Hosentasche zieht und zu telefonieren scheint. Kurz darauf fährt ein Fahrradfahrer durch das Bild.
8 Uhr: Ein Mann, der aussieht wie der erste, schreitet von rechts nach links durchs Bild. Er wurde bislang nicht identifiziert.
ca. 9 Uhr: Tom Hagen verlässt nach eigenen Angaben, später als gewöhnlich, das Haus mit der Hausnummer Slovareien 4. Zur Firma sind es knapp 3,5 Kilometer. Die Fahrt lässt offenbar nicht nachverfolgen: Sowohl Hagens älteres Handy als auch sein Wagen, ein grauer Citroen Picasso Baujahr 2010, sind noch nicht mit der entsprechenden Technik ausgerüstet.
9.08 Uhr: Tom Hagen trifft in der Firma ein. Er loggt sich in sein iPad ein und liest E-Mails.
9.14 Uhr: Vom heimischen Festnetztelefon telefoniert Anne-Elisabeth Hagen mit einem Familienmitglied. Es ist bereits ihr zweites Gespräch an diesem Tag, nachdem sie kurz zuvor einen Mitarbeiter der Personalabteilung des Unternehms am Apparat hatte. Ob Hagen zum Zeitpunkt des ersten Telefonats noch im Haus war, geht aus den Medienberichten nicht hervor.
bis 10 Uhr: Das Haus der Hagens liegt unmittelbar an dem kleinen See Langvannet. In der Nähe des Gebäudes liegt eine Uferstelle, die über einen Fußweg mit der Straße Elveveien verbunden ist. Kameras auf der gegenüberliegenden Seite des Sees zeichnen auf der Elveveien zahlreiche Autos auf. Ein PKW, das sich illegalerweise über den Fußweg bewegte und zeitweise nur 100m vom Haus weg war, wurde offenbar aufgrund schlechter Qualität der Videoaufzeichnungen bis heute nicht identifiziert. Der Halter wird zumindest als Zeuge gesucht.
9.48 Uhr: Der Elektriker Tommy Hansen, der neue Lampen verbauen soll, versucht vergeblich, Anne-Elisabeth Hagen auf dem Festnetz zu erreichen. Mehrere weitere Anrufe werden nicht beantwortet. Die Polizei geht davon aus, dass Hagen zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr am Leben/im Haus war.
Hagen verliert an diesem Morgen sein stichfestes Alibi. Die Polizei kann nicht mehr überprüfen, ob er tatsächlich auf der Arbeit blieb.
13.30 Uhr: Tom Hagen fährt nach eigener Aussage nach Hause, da er seine Frau telefonisch nicht erreicht hat. Die Polizei findet dort später Schleifspuren, die auf eine Entführung im Bad hindeuten, persönliche Gegenstände der Gattin sowie verteilte Zettel, wonach ein Einschalten der Polizei zur Ermordung der Frau führen würde und eine Zahlung von umgerechnet 9 Millionen Euro über die anonymen Krypto-Währung "Monero" auf ein bestimmtes Konto zu zahlen sei. Der Brief ist mehrere Seiten lang, auf einem handelsüblichen Drucker gedruckt und enthielt sehr detaillierte Anweisungen und Drohungen. Ein Schuhabdruck eines Freizeitschuhs der Größe 45 aus dem Haus kann bis heute nicht zugeordnet werden. Weitere Kampfspuren findet die Polizei nicht.
14.10 Uhr: Tom Hagen informiert die Polizei. Das Treffen mit Beamten findet aufgrund der Bedrohung an einer in der Nähe des Hauses gelegenen Tankstelle statt. Der Tankstellenbesitzer bezeichnet Hagen später als sehr besorgt um das Wohl seiner Frau.
In den Folgetagen rückt diskret die Spurensicherung an. Die Polizei befürchtet, dass das Haus über den See beobachtet wird.
9. Januar 2019: Die Polizei geht trotz der Bedrohungslage mit dem Fall an die Öffentlichkeit. Es gehen zahlreiche Hinweise ein. Der wohl aussichtsreichste, Angler am gegenüberliegendem Ufer hätten im September vor der Tat nicht nur Angelwerkzeug, sondern auch schwere Objektive dabei gehabt, führt ebenso zu keinem Ergebnis wie die 1300 weiteren.
Mai 2019: Hagen verkauft seinen Citroen Picasso für knapp 2.500 Euro an einen Mann aus Vestland in Westnorwegen.
26. Juni 2019: Hauptkommissar Tommy Broeske gibt auf einer Pressekonferenz die Änderung der Haupthypothese bekannt: Die 69-jährige Anne-Elisabeth Hagen wurde wohl am Tattag umgebracht, die Entführung sei lediglich eine Verschleierung gewesen. Zwar habe man über einen anonymen Chat, auf dem man nicht antworten könne, Nachrichten der angeblichen Entführer erhalten, ein Lebenszeichen sei jedoch nicht dabei gewesen. Die Polizei hat laut Broeske noch keinen Tatverdächtigen oder ein etwaiges Motiv ausgemacht.
8. Juli 2019: Die Familie Hagen hat angeblich erneut auf Norwegisch Kontakt zu den Entführern. Man habe Informationen erhalten, die nur der Entführer gewusst haben könne, ein Lebenszeichen fehle weiterhin, erklärt der landesweit bekannte Familienanwalt Svein Holden.
ca. Ende März 2020: Die Polizei beginnt offenbar mit der Untersuchung gegen Tom Hagen. Der Besitzer des Citroen Picasso aus Vestland wird aufgesucht und sein Wagen untersucht.
28. April 2020: Die Polizei fängt Tom Hagen auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte ab und nimmt ihn unter dem Tatverdacht, an der Ermordung seiner Frau beteiligt gewesen zu sein, fest. Auf einer Pressekonferenz wird bekanntgegeben, dass sich die geänderte Haupthypothese konkretisiert habe. Man vermute Mittäter, weitere Verhaftungen seien denkbar, aber bisher nicht geschehen. Sowohl über den entscheidenden Hinweis für die Festnahme als auch über ein mögliches Motiv schweigen die Beamten.
Hagen wird in der Folge dem Haftrichter vorgeführt. Er nimmt sich Svein Holden als nun privaten Anwalt.
Am selben Tag berichtet der Sender
NRK in einem längeren Artikel über den Scheidungswunsch von Anne-Elisabeth Hagen als mögliches Motiv. Der Ehevertrag wird publiziert. Dazu befragte Juristen haben "noch nie so einen unausgeglichen Vertrag gesehen". Bei einer Trennung erhalte Frau Hagen von dem Vermögen, das etwa 175 Mio. Euro umfassen soll, lediglich ein kleines Häuschen Biri, knapp 18.000 Euro und einen Citroen älteren Modells. Allerdings ist wohl umstritten, ob der Ehevertrag vor Gericht Bestand gehabt hätte.
Derzeit finden in dem Haus Slovareien wie auch im Firmensitz von Futurum weitere Durchsuchungen statt.