robernd schrieb:Das ist genau die Art von Logik, die mir immer wieder Kopfzerbrechen macht. Gibt es in der Rechtsprechung eine eigene Logik, die von der mathematischen weit entfernt ist? Wenn eine Verpflichtung zu einer Aktion entfällt, bedeutet es nach meinem Weltverständnis nicht, dass die Aktion verboten ist.
Doch, hier schon. Der StA ist es verboten, mehr zu tun als das Gesetz ihr vorschreibt. Jeder Bürger kann sich damit sicher sein, nur wegen derjenigen Straftaten verfolgt und verurteilt zu werden, die im Gesetz mit Strafe bedroht sind. Eine Allmacht hat die StA damit nicht. Das gilt natürlich genau so für Gerichte. Deren Macht ist auf das beschränkt, was der Gesetzgeber ihnen zuweist. Gerichte dürfen zB nicht mehr an Strafe aussprechen als im Gesetz steht. Wenn da steht, dass die Höchststrafe 10 Jahre ist, dürfen sie nicht zu 20 Jahren verurteilen. Wenn nicht per Gesetz mit Strafe bedroht ist, dass man öffentliche Rasenflächen nicht betreten darf, darf niemand wegen Betretens öffentlicher Rasenflächen verurteilt werden.
In nicht verfolgbaren Straftaten, also solchen, die zB laut Gesetz verjährt sind, darf halt die StA nicht ermitteln. Das macht auch Sinn, denn was soll aller Ermittlungsaufwand, wenn das Gericht der StA hinterher bescheinigt, dass sie mit der Anklage baden geht, weil die Tat verjährt ist. Also braucht die StA in verjährten Sachen erst gar nicht zu ermitteln. Der Gesetzgeber hat sich mit der Formulierung des § 152 Abs. 2 StPO also schon etwas gedacht.
robernd schrieb:So hat mir ein Rechtsanwalt erklärt, dass ein Urteil nicht zu beanstanden sei, wenn darin falsche Fakten auftauchen. Also Fakten, die sich nicht erst nachträglich als falsch erwiesen haben, sondern die bereits während des Urteilsspruchs als falsch bekannt waren.
Da hat der Rechtsanwalt die im Gesetz bewusst festgelegte fehlende Amtsermittlungspflicht der Zivilgerichte gemeint. Wir haben darüber schon mal diskutiert. Gemäß § 138 ZPO (ich hatte den Wortlaut eingestellt) gilt als prozessuale Wahrheit, was an Fakten zwischen den Parteien unstreitig ist. Unstreitig wiederum ist das, was die eine Partei als Fakten erzählt und die andere Partei kommentarlos hinnimmt und sich nicht dazu weiter äußert. Dann gilt als zugestanden und damit als Wahrheit, was die andere Seite gesagt hat, auch wenn es nicht stimmt und das Gericht nicht merken kann, dass es nicht stimmt.
Weshalb es im Zivilprozess so furchtbar wichtig ist, auf das Vorbringen des Gegners einzugehen, dessen Schriftsätze genau zu studieren und dem Gericht zu sagen, was daran an Fakten nicht stimmt und warum es nicht stimmt. Das ist völlig anders als in den Verfahren, in denen das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln muss.
Beispiel Schadensersatzprozess: Der Kläger behauptet, der Beklagte sei mit dem Fahrrad rücksichtslos auf dem Gehweg gefahren und habe ihn umgefahren. Dadurch sei er - der Kläger - hingefallen und habe sich die nagelneue Hose ruiniert, weshalb er den Kaufpreis für die Hose vom Beklagten erstattet haben möchte. In Wahrheit war es anders: Der Beklagte fuhr auf dem Fahrradweg, und der angetrunkene Kläger torkelte plötzlich vom Gehweg auf den Radweg und lief dem Beklagten ins Rad. Wenn nun der Beklagte zur Klage nichts sagt und seine Version nicht erzählt, gilt die Geschichte des Klägers als zugestanden und damit als prozessuale Wahrheit, also die Version, dass der Beklagte den Kläger auf dem Gehweg rücksichtslos umgefahren hat. Der Beklagte wird vom Gericht zum Ersatz der Hose verurteilt. Nur wenn der Beklagte SEINE Version erzählt hätte, müsste das Gericht Beweis über den Unfallhergang erheben, sonst nicht.
Die prozessuale Wahrheit eines Zivilprozesses kann, das ist vom Gesetzgeber aus bestimmten Gründen so gewollt, von der materiellen, also der wirklich wahren Wahrheit, abweichen und tut es oft auch, wenn die Parteien (und ihre Anwälte) sich keine Mühe geben.