Egal ob Kreis oder Spirale, beschäftigt mich immer noch die BTM-Frage. Ich kenne ja nicht das gerichtsmedizinische Gutachten, aber es scheint ja so zu sein, dass der medizinische Forensiker nur begutachtet im Sinne einer Feststellung und Dokumentation, aber keine Schlussfolgerungen zieht oder mögliche Kausalitäten aufzeigt. Oder täuscht der Eindruck? Genauer formuliert:
Im Hinblick auf die Entführung: Es wurden keine Hämatome, Hautabschürfungen o.ä. gefunden, die auf irgendeine Form der Abwehr schließen lassen. Mögliche Schlussfolgerungen: 1.) Ursula kam freiwillig mit, dagegen spricht: sie wusste, sie wird zu Hause erwartet, war zuverlässig, es müssten dann Erdanhaftungen an den Schuhen zu finden sein und evtl. Kratzer, denn der Waldboden ist ziemlich überwuchert mit dornigem Gestrüpp (selbst heute noch - wie ich aus eigener, schmerzhafter Erfahrung weiß). 2.) Sie kam unfreiwillig mit. Überwältigung mit physischer Kraft ist dabei ausgeschlossen (keine Spuren). Folglich am wahrscheinlichsten: Überwältigung mit Hilfe eines BTM, von Dr. E. mehrfach erwähnt, kommt dabei nur Lachgas in Frage.
Daraus ergeben sich aber weitere Schlussfolgerungen: Prof.Dr.J. Weidmann im online einsehbaren "Lachgas-Lehrbuch":
"Darüber hinaus ist grundsätzlich die Geschwindigkeit von An- und Abfluten eines inhalierten Gases und damit sein Wirkungseintritt und seine Wirkdauer (Abfluten nach Beenden der Zufuhr) wesentlich abhängig von dem sogenannten Blut-Gas-Verteilungskoeffizienten. Dabei gilt: je niedriger der Blut-Gas-Verteilungskoeffizient eines Gases, desto schneller geschieht dessen An- und Abfluten [Becker 2008].
Folgende Tabelle zeigt den Blut-Gas-Verteilungskoeffizienten von Lachgas und den heute klinisch gebräuchlichen Narkosegasen:
Lachgas: 0,47, Isofluran: 1,4, Sevofluran: 0,65, Desfluran: 0,42
Entsprechend kommt es bei Einatmen einer bestimmten Konzentration Lachgas zu einem sehr schnellen Konzentrationsausgleich mit dem Körper, und insbesondere mit dem Gehirn als wesentliches Zielorgan."
Das heißt, ein wesentlicher Vorteil von Lachgas ist das schnelle An- und Abfluten im Sinne eines schnellen Wirkungseintritts und -abflauens: "nach 10 Minuten 90% der inhalierten Lachgas-Konzentration im Gewebe erreicht". D.h. will man einen möglichst schnellen Eintritt der Sedierung, muss die Lachgas-Konzentration erhöht werden.
Entscheidend ist m.E. die Unterscheidung von drei Stufen im Wirkprofil, die unmittelbar mit der Konzentration des N2O zusammenhängen:
Geringere Konzentrationen von bis zu 30 % (70% Sauerstoff) bewirken eine leichte Anxiolyse (Angstlösung, z.B. Kinder beim Zahnarzt, die vor Angst den Mund nicht aufmachen wollen). Für die Entführung reicht das nicht aus.
Bei bis zu 50 % steigert sich die Sedierung, es kommt zu Schläfrigkeit, jedoch sind Reaktionen immer noch möglich, Schmerzreize sind ab 40-50 % zunehmend ausgeschaltet.
Es gilt, dass man z.B. chirurgische Eingriffe mit ausschließlicher Lachgas-Narkose nicht durchführen kann, das liegt am MAC-Wert. Er bezeichnet die minimale Konzentration, die es braucht, damit mehr als die Hälfte der Probanden auf einen Schnitt in die Haut keine Reaktion mehr zeigen. Der liegt bei Lachgas allerdings bei 104, d.h. erst bei einer Gabe von reinem Lachgas tritt eine echte Narkose ein. Da eine Gabe von mehr als 79 % Lachgas (21% Sauerstoff) medizinisch aber nicht vertretbar ist, wird Lachgas nur in Kombination mit anderen Narkosemitteln verwendet, wenn eine komplette Anästhesie erwünscht ist.
Hier ist die entsprechende Graphik (schlecht sichtbar, unten steht N2O-Konzentration):
Bei Konzentrationen über 79% verliert man das Bewusstsein (je höher die Konzentration, desto schneller) und die Spontanatmung ist nicht gewährleistet.
Wenn man annimmt, dass die Entführer für mindestens 20-30 Minuten sicherstellen wollten, dass das Mädchen sediert bleibt, mussten sie die Narkose kontinuierlich geben, ansonsten wäre sie nach 10 Minuten wieder aufgewacht und da kann es zu lauten, unkontrollierten Reaktionen kommen. Zusätzlich gibt es bei einem zu schnellen Abfluten des N2O die Gefahr der Diffusionshypoxie (Verdrängung von Sauerstoff durch Lachgas in der Lunge), die vermieden wird durch:
"am Ende jeder Narkose Gabe von 100% Sauerstoff
Sicherstellen suffizienter Spontanatmung
...
maximal 50% N2O zur Sedierung
Mischung von Lachgas nur mit Sauerstoff, nie mit Raumluft
...
kontinuierliches Monitoring mittels Pulsoxymetrie"
Was ich sagen will: Aus der Tatsache, dass es keinerlei Abwehrzeichen und kein BTM nachweisbar war, lässt sich ableiten, dass Ursula für die Überwältigung am Seeweg und die 20-30 Minuten Transport zur Kiste mit Lachgas sediert wurde (meint der Gerichtsmediziner selbst). Für einen sehr schnellen Wirkungseintritt musste die Konzentration entsprechend hoch sein und v.a. kontinuierlich verabreicht werden, da sie sonst nach einigen Minuten wieder aufgewacht wäre.
Weiterhin hat Dr.E. festgestellt, dass sie sich in der Kiste gar nicht bewegt hat, es gab keine Abriebspuren an den Händen vom Herumtasten, die Tüte lag auf dem rechten Oberschenkel, ohne herunterzufallen. Sie ist gar nicht aufgewacht, sondern bewusstlos in die Kiste gesetzt worden und bis zum Auffinden in derselben Position geblieben. Das lässt aber doch nur den Schluss zu, dass die Konzentration des N2O zu hoch war, sie vermutlich pures Lachgas ohne Sauerstoffbeimischung gegeben haben. Andernfalls wäre sie in der Kiste irgendwann aufgewacht und hätte sich bewegt. Das ist ein zwingender Schluss. Die Sauerstoffmenge in der Kiste hätte selbst bei nicht funktionierender Belüftung für 3-4 Stunden gereicht (theoretisch ja laut Dr. E sogar bis zu 5). Wenn Ursula nur sediert gewesen wäre, hätte sie sich auf jeden Fall nach spätestens 20 Minuten bewegen müssen. Dass sie reglos blieb, lässt nur den Schluss zu, dass sie in tiefer Bewusstlosigkeit in die Kiste gesetzt wurde, mit ganz flacher oder auch unregelmäßiger Atmung.
Ich verstehe nicht, wie es bei dem Gutachten zu so widersprüchlichen Aussagen kommen kann.
Es ist doch gar keine andere Schlussfolgerung möglich, als die, dass Ursula nicht am defekten Belüftungssystem starb, sondern an einer Überdosierung mit Lachgas.