Aphantasie: fehlendes visuelles Vorstellungsvermögen

@Natascha1985

Irgendwie krass, und danke für Deine Offenheit.

Ich kann mir nicht vorstellen kein inneres "Kino" zu haben.

Wie ist es denn wenn Du ein Buch liest?
Bei mir z.B. laufen ganz tief im Hinterkopf, schon fast unbewusst entsprechende "Bildgedanken" ab beim Lesen und dem Verarbeiten dessen. So fühle ich mich in die Situation rein und bekomme die richtige Atmosphäre und komme in den richtigen Kontext und so.

Okay, wenn ich das Kleingedruckte in einem Vertrag lesen muss, sehe ich auch nichts als nur eine Textwand, sogar im "inneren" Auge 😄 Muss man sich das so in etwa vorstellen?

Oder wenn man mal so gedankenversunken vor sich hinstarrt, ja eben die Gedanken mal schweifen lässt. Da ist man im Kopf doch ganz "woanders", also auch visuell irgendwie.
Wenn ich an meine Mutter denke, "sehe" ich mich in Gedanken bei ihr in der Küche stehen.
Wenn ich versuche das mal auszublenden, denke ich irgendwie nur in Textform, aber es kommen trotzdem immer wieder Bilder hervor, ich kann das gar nicht richtig steuern.

RachelCreed schrieb:Ich hab das mit anderen Hundebesitzern, die mir regelmäßig beim Gassigehen über den Weg laufen. Ist deren Hund dabei, kann ich die sofort zuordnen, aber wehe, ich treffe diejenigen mal ohne Hund beim Einkaufen oder so. "Wer ist das bloß? Ich glaube, ich kenne die Person, aber woher nur?"

Also brauchst Du immer etwas das Du mit einer Person verbinden kannst, um dich an denjenigen erinnern zu können? Und gilt das denn nur für flüchtig bekannte Personen?

RachelCreed schrieb:Mich würde mal interessieren, ob von Aphantasie Betroffene durch entsprechendes Training lernen können, Vorstellungsvermögen zu entwickeln oder ob das gewissermaßen ein in Stein gemeißeltes Schicksal ist.

Das ist ja eben Gegenstand der Forschung, oder nicht?

Das Thema ist ein gutes Beispiel dafür wie unterschiedlich wir "ticken". Aber auch dafür dass wir es in einem überraschend großem Maß schaffen irgendwelche Funktionen die nur schwach oder sogar gar nicht entwickelt sind zu kompensieren. So wie der Blinde viel genauer als Sehende auf Geräusche achtet und sich dadurch orientiert.

Es fällt mir wirklich schwer mir Ahanthasie vorzustellen weil ich zu den Menschen gehöre die extrem viel Phantasie haben und auch ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen. Bei mir läuft das Innenkino sozusagen 24 Stunden am Tag. Und wenn ich ein Buch lese "sehe" ich das Gelesene wie in einem Film. Und nicht nur das. Oft unterbreche ich dann das Lesen und stelle mir vor wie es weitergehen kann. In zwei, drei, vier Varianten. Und ärgere mich, wenn eine meiner Varianten besser ist als die dann gelesene Handlung.
Wenn ich was einkaufe heißt es nicht nur "Butter", "Wurst" usw. als Wort wie der Ahanthasieker das machen würde, sondern ich rufe das Bild des Regals ab in dem der betreffende Gegenstand liegt (den ich dann dort im Regal "sehe"), rufe dann gewissermaßen die Koordinaten dieser Stelle im Laden ab und begebe mich dort hin. Was natürlich nur bei bekannten Läden funktioniert. Fremde Läden sind mir deshalb ein Graus.
So ein Innenkino hat seine Vorteile. Ich bin stets gut unterhalten. Kenne Langeweile eigentlich nur wenn ich das Innenkino nicht anschalten darf weil ich mich in einem nicht allzu ergiebigen Gespräch befinde und da natürlich reagieren muß.
Aber es hat auch seine Nachteile. Um es etwas technisch auszudrücken: Visuelle Eindrücke sind offenbar sehr speicherintensiv. Also selektiert mein Hirn ganz gewaltig ohne dass ich an der Auswahl viel bestimmen kann. Ich kann mir kein Gesicht merken (auch das eigene im Spiegel nicht), erkenne Menschen ausschließlich an der Stimme, dem Gang, der Kleidung und der Frisur. Wobei es bei letzteren Merkmalen peinlich werden kann, denn die können sich ändern.
In eigenen Haus nehme ich einige Gegenstände ganz einfach nicht wahr. Meine Frau war entsetzt als ich sie fragte seit wann eine Topfblume auf unserem Frühstückstisch sich dort befindet. Seit 1 1/2 Jahren (!). Die Bilder an den Wänden im Wohnzimmer seit 10 Jahren. Ich hatte keine Erinnerung...
Dem konnte ich entgegensteuern indem ich mir dass entsprechende Bild (ich stehe in der Küche und sehe den Tisch mit der Blume, ich stehe im Wohnzimmer und sehe die Wand mit dem Bild) mir bewußt einpräge. Wobei mir klar ist, dass ich nur diese Erinnerung abrufen kann, nicht das tatsächliche Szenario und deshalb alle zwei Wochen durch die Wohnung gehe und sozusagen ein Update mache ob das Erinnerungsbild und die Wirklichkeit noch übereinstimmen.
Ahtanasie hat also auch seine Vorteile. Man ist weniger abgelenkt, konzentrierter. Dürfte mehr im Leben stehen und näher an der Realität. Andererseits hat die Vorstellung sich keinen Elefanten oder kein blaues Auto vorstellen zu können auch etwas Erschreckendes. Zumndest für jemanden der damit nun überhaupt keine Probleme hat.

skagerak schrieb:Also brauchst Du immer etwas das Du mit einer Person verbinden kannst, um dich an denjenigen erinnern zu können? Und gilt das denn nur für flüchtig bekannte Personen?

Ne, bei Leuten, die ich wirklich mehrmals die Woche treffe und mit denen ich mich auch mal unterhalte, hab ich das nicht. Die würde ich dann auch ohne Hund erkennen.
Aber Leute, die ich nur einmal alle ein, zwei Wochen sehe und nur flüchtig grüße ... Ich glaube, da wär ich auch nach Jahren noch ziemlich lost, wenn der Hund nicht dabei ist.

Es gibt Leute, die erkenne ich nach Jahren wieder, andere aber - keine Chance. Z. B. einige Nachbarn haben etwas an sich oder eben nicht an sich, dass sich von denen überhaupt nichts in meinem Gehirn abspeichert außer einem ganz groben Schema wie: Mann, normal groß und dunkelhaarig mit Frau, dunkelhaarig.

Stellt Euch vor, Ihr seid von Geburt an Taub und habt Aphantasie:

So denken gehörlose Menschen (Archiv-Version vom 07.06.2022):

Wie denken Menschen, die von Geburt an gehörlos sind und keine Lautsprache berrschen? Das fragten zwei Schülerinnen im ORF Tirol Redhaus. Der Tiroler Gehörlosenverband gab den Mädchen Einblicke und eine Antwort.

Eine Freundin mit gehörlosen Eltern brachte Valentina und Leonie auf ihre Frage. Die zwei Schülerinnen der NMS Brixlegg können sich nur schwer vorstellen, wie Gedanken ohne die deutsche Sprache aussehen könnten. Um diese Frage zu klären, kamen die zwei Mädchen zum Tiroler Gehörlosenverband nach Innsbruck.

Verbandsleiterin Monika Mück-Egg ist seit ihrer Geburt gehörlos. Sie nehme ihre Umgebung vor allem visuell wahr, und denke deshalb auch sehr visuell, erklärte sie den zwei Schülerinnen. Hauptsächlich denke sie dabei in Bildern und Gesten wie in der Gebärdensprache. Wenn sie etwa an ein Auto denke, sehe sie innerlich gleichzeitig das Bild von einem Auto vor sich und auch die dazugehörige Gebärde, nicht aber das deutsche Wort, berichtete Monika Mück-Egg von ihrer Denkweise. In Tirol sind gut 700 Menschen gehörlos.

Eigene Grammatik der Gebärdensprache

Wie funktioniert das bei Sätzen, wollte Valentina daraufhin wissen. Die Grammatik der Gebärdensprache sei eine andere als die deutsche Grammatik. Sätze werden dort anders gebildet, erklärte die Leiterin des Gehörlosenverbandes. Zugleich sei die Gebärdensprache auch dreidimensional, neben der Gebärde zählen für die Bedeutung des Satzes auch die Mimik und der verwendete Raum mit den Händen, berichtete Monika Mück-Egg.

Zweisprachige Träume und Gedanken

Gebärdensprachdolmetscherin Claudia Bair übersetzte zwischen den Schülerinnen und Monika Mück-Egg. Ihre Muttersprache ist ebenfalls die Gebärdensprache, ihre Eltern sind gehörlos. Claudia Bair lernte zuerst die Gebärdensprache und danach die deutsche Sprache.

Sie denke und träume oft zweisprachig, berichtete sie den Schülerinnen. Wie andere Zweisprachige denke sie manchmal in deutsch und manchmal in Gebärdensprache. Je nachdem, welche Sprache sie an dem Tag öfter verwendet habe, träume sie dann auch in dieser Sprache. Das vermische sich dann auch, wie etwa bei Kindern, die mit Elternteilen unterschiedlicher Muttersprachen aufgewachsen sind.

Valentina und Leonie testeten daraufhin selbst einige Worte und Sätze in der Gebärdensprache. Die Antwort sei für sie logisch, erklärten sie im Anschluss. Wenn Menschen mit Gebärdensprache aufwachsen, sei es klar, dass sie dann in dieser Sprache auch denken. Diesen Einblick in die andere Denkwelt zu bekommen sei aber sehr spannend gewesen, waren sich die zwei einig.

Quelle: https://tirol.orf.at/v2/radio/stories/2963036/ (Archiv-Version vom 07.06.2022)