Lakonier schrieb:"Nach meiner Ansicht ist die Biosphäre genauso unvorhersehbar wie die spezielle Konfiguration der Atome, aus denen der Kieselstein in meiner Hand besteht." (S. 57)
Und wenige Zeilen zuvor schreibt er (auf der selben Seite 57 in der Ausgabe Piper, München, 1971³; zum Suchen in anderen Ausgaben: Kapitel II, S.35-58, also fast am Ende):
"Die These, die ich hier vortrage, besagt, daß die Biosphäre keine prognostizierbare Klasse von Objekten oder Erscheinungen enthält, sondern selber ein besonderes Ereignis darstellt, das gewiß mit den fundamentalen Prinzipien vereinbar, aus ihnen aber
nicht ableitbar ist, das seinem Wesen nach also unvorhersehbar ist."
Daß es weitere Kieselsteine exakt wie den in Monods Hand gibt oder weitere Andromedagalaxien, kann Monod nicht prognostizieren, er scheint es persönlich aber auszuschließen, hält Stein wie Andromeda für singulär. Zumindest für unvorstellbar selten, sodaß das Auffinden eines weiteren selbst künftige Fähigkeiten des Durchsuchens des Universums übersteigt.
In Kapitel VIII (S.171-193; auf S.177-179) schreibt er dann, die vorherigen Kapitel resümierend:
"Es bleibt das Rätsel, das auch die Antwort auf eine andere sehr interessante Frage verbirgt. Das Leben ist auf der Erde erschienen; wie groß war
vor dem Ereignis die Wahrscheinlichkeit dafür, daß es eintreffen würde? Aufgrund der gegenwärtigen Struktur der belebten Natur ist die Hypothese nicht ausgeschlossen - es ist im Gegenteil wahrscheinlich, daß das entscheidende Ereignis sich nur
ein einziges Mal abgespielt hat. Das würde bedeuten, daß die
a priori-Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses fast null war.
Dieser Gedanke widerstrebt den meisten Wissenschaftlern. Die Naturwissenschaft kann über ein einmaliges Ereignis weder etwas sagen, noch kann sie damit etwas anfangen. Sie kann nur Ereignisse "abhandeln", die eine Klasse bilden und deren
a priori-Wahrscheinlichkeit, so gering sie auch sein mag, eine endliche Größe hat. Nun scheint aber die Biosphäre - schon aufgrund der Universalität ihrer Strukturen, angefangen beim Code - das Produkt eines einmaligen Ereignisses zu sein. Natürlich ist es möglich, daß diese Einmaligkeit darauf zurückgeht, daß viele andere Versuche oder Varianten durch die Selektion ausgeschaltet wurden. Diese Deutung ist jedoch keineswegs zwingend.
Die
a priori-Wahrscheinlichkeit dafür, daß unter allen im Universum möglichen Ereignissen ein besonderes Einzelereignis sich vollzieht, liegt nahe bei Null. Indessen existiert das Universum, und es müssen also wohl Einzelereignisse vorfallen, deren Wahrscheinlichkeit (Erwartungswahrscheinlichkeit vor dem Ereignis) verschwindend gering ist. Wir können zur gegenwärtigen Stunde weder behaupten noch bestreiten, daß das Leben auf der Erde
ein einziges Mal aufgetreten sei und folglich vor seinem Auftreten fast keine Chance für sein Dasein bestanden hätten.
Diese Vorstellung ist nicht nur den Biologen unangenehm, soweit sie Wissenschaftler sind. Sie widersetzt sich unserer allgemeinmenschlichen Neigung: zu glauben, daß alle in der Welt wirklich existierenden Dinge von jeher notwendig gewesen seien. Wir müssen immer vor diesem so mächtigen Gefühl auf der Hut sein, daß alles vorherbestimmt sei. Die moderne Naturwissenschaft kennt keine Vorherbestimmtheit. Das Schicksal zeigt sich in dem Maße, wie es sich vollendet - nicht im voraus. Unsere Bestimmung war nicht ausgemacht, bevor nicht die menschliche Art hervortrat, die als einzige in der belebten Natur ein logisches System symbolischer Verständigung benützt. Das ist ein weiteres einmaliges Ereignis, das uns schon deshalb vor einem jeglichen Anthropozentrismus warnen sollte. Wenn es so einzigartig und einmalig war wie das Erscheinen des Lebens, dann deshalb, weil es vor seinem Eintreten ebenso unwahrscheinlich war. Das Universum trug weder das Leben, noch trug die Biosphäre den Menschen in sich. Unsere Losnummer kam beim Glücksspiel heraus. [...]"
Für Monod ist die Lebensentstehung selbst ein solches unvorhersehbares und unwahrscheinliches Einzelereignis. Er spricht also von der Biosphäre der Erde. Zugleich meint er damit aber auch die Biosphäre als solch ein Einzelereignis im Universum, denn würde es zahlreiche Biosphären geben, wäre Lebensentstehung dann doch kein unwahrscheinliches Einzelereignis mehr, sondern eine wiederholt wirkende Gesetzmäßigkeit und Leben eine "Klasse von Ereignissen". Daher denke ich, Dein
Lakonier schrieb:Nach meiner Ansicht vermengt Monod hier mit dem Artikel "die" den Begriffsinhalt von "Biosphäre", weil er es grundsätzlich offen lässt, ob er die konkrete irdische Biosphäre meint oder die Biosphäre generell als Möglichkeit.
greift da nicht.
Lakonier schrieb:Ich habe dazu gestern einen Blog eröffnet, wo ich sein Buch genauer analysiere. Falls Du oder jemand anders Interesse haben sollte, kann man dort auch kommentieren und diskutieren
Hab ich gestern spät abend schon entdeckt. Allerdings sind mir da ebenfalls Mißverständnisse dessen, was Monod sagt, aufgefallen. Solche zu diskutieren habe ich allerdings schlechte Erfahrungen gemacht, auch hier auf Allmy. Monod selbst wußte, wie ideologisch aufgeladen die Sicht und Diskussion dieses Themenfeldes sein kann und wie schwer sich selbst geistige Größen damit tun, sich mit einem unverstellten Blick dem zu widmen. Selbst der große Manfred Eigen verkackte in seinem Vorwort grandios beim Verstehen von Monod, wenn er schreibt (S. XV im Vorwort S. IX bis XVI):
"Sagen wir also noch einmal ganz deutlich: Allein aufgrund der durch Optimalprinzipien gekennzeichneten Selektionsgesetze konnten in der relatiiv kurzen Zeitspanne der Existenz unseres Planeten und unter den herrschenden physikalischen Bedingungen Systeme entstehen, die sich reproduzierten, einen dem Energie- bzw. Nahrungsangebot angepaßten Stoffwechsel entwickelten, Umweltreize aufnahmen und verarbeiteten und schließlich zu "denken" begannen. So sehr die individuelle Form ihren Ursprung dem Zufall verdankt, so sehr ist der Prozeß der Auslese und Evolution unabwendbare Notwendigkeit. Nicht mehr! Also keine inhärente "Vitaleigenschaft" der Materie, die schließlich auch noch den Gang der Geschichte bestimmen soll! Aber nicht weniger, nicht
nur Zufall!
Damit verschwindet die tiefe Zäsur zwischen der unbelebten Welt und der Biosphäre, der Philosophie, Weltanschauung und Religion so große Bedeutung zugemessen haben. Die "Entstehung des Lebens", also die Entwicklung vom Makromolekül zum Mikroorganismus, ist nur ein Schritt unter vielen, wie etwa der vom Elementarteilchen zum Atom, vom Atom zum Molekül, . . . oder auch der vom Einzeller zum Organverband und schließlich zum Zentralnervensystem des Menschen. Warum sollten wir gerade diesen Schritt vom Molekül zum Einzeller mit größerer Ehrfurcht betrachten als irgendeinen der anderen? Die Molekularbiologie hat dem Jahrhunderte aufrecht erhaltenen Schöpfungsmystizismus ein Ende gesetzt, sie hat vollendet, was Galilei begann. [...]"
Vordergründig redet Eigen hier über die Evolution bereits bestehenden Lebens. Und da kommt das auch ungefähr so hin, wie er es sagt. Es sollte jedoch auffallen, daß Eigen hier ein Vorwort verfaßt über ein Buch, in dem es überhaupt nicht um Zufall und Notwendigkeit der spezifischen Arten und Eigenschaften der Bosphäre geht. Sondern um die Lebensentstehung (und dann freilich auch des menschlichen ZNS). Darauf bezogen wären Eigens Worte das genaue Gegenteil dessen, was Monod sagt. Monod sagt eben nicht "Leben entsteht notwendig, nur die konkrete Weise der irdischen Biosphäre is halt Zufall".
Und Eigens Ausführung
muß auf Monods Thema bezogen verstanden werden. Erkennt man gut am Gebrauch der "Vitaleigenschaft", die laut Monod sich in der Existenz von Leben äußert, nicht in der Evolution des Lebens. Also auch und vor allem in der Entstehung des Lebens. Sonst würde auch Eigens Ergänzung "der Materie" hinter "Vitaleigenschaft" keinen Sinn ergeben. Eigen stilisiert hier also Monod zu einem Verfechter der These, daß das Leben der Erde sowie das menschliche intelligente ZNS grundsätzlich Notwendigkeiten und nur in ihrer konkreten Konfiguration "halt Zufall" seien. Letztlich vertritt Eigen hier eben jenen Animismus, den Monod so deutlich abweist.
Dieser Animismus zeigt sich auch hierin: Klar mußten die Elementarteilchen auch untereinander in Beziehung treten und so etwas wie Atome bilden, das ist gesetzmäßig. Daß es Atome, wie wir sie kennen, wurden, mag Zufall unter weiteren Möglichkeiten gewesen sein. Daß diese Atome ebenfalls miteinander in Beziehung treten, war ebenfalls Notwendigkeit - und hier sind die tatsächlich auftretenden Molekülarten schon gar nicht mehr so zufällig, sondern massiv voraussagbar. Aber ok, das mag Eigen nur verpennt haben. Und ebenso kann man von einer Notwendigkeit sprechen, daß komplexe kohlenstoffbasierte Moleküle zwangsläufig zu Koazervaten, Hyperzyklen führen, wobei es wiederum Zufall wäre, welche konkreten Strukturen und Prozesse sich da längerfristig einstellen würden. Doch Leben ist eben - laut Monod - nochmal was anderes, das sich nicht zwangsläufig ergibt und nur in seiner konkreten Konfiguration dem Zufall unterliegt. Dies schmuggelt Eigen hier unter der Hand ein. Leben ist nicht für Monod, wohl aber für Eigen just diese Notwendigkeit, wie sie es für die monodschen Animisten darstellt. Nur den Vitalismus lehnt Eigen ab.
Monods Radikalität wird kaum geteilt, und so wird Monod lieber "korrigiert" bzw. fehlinterpretiert. Dies durch Ausdiskutieren aufzuklären halte ich mittlerweile für müßig. Einmal ne Gegendarstellung bringen wie eben, ok. Entweder reicht das zum Neubedenken, oder es reicht halt nicht. Dann aber hilft auch keine ellenlange Diskussion. Daher laß ich Dir Deinen Blog lieber perttifrei.