Optimist schrieb:es ist wie gesagt eine Frage des Blickwinkels :)
Ich behaupte auch, kein Mensch kann wirklich vollkommen neutral und objektiv an ein Thema heran gehen (unbewusst lässt jeder seine Vorprägungen mit einfließen, außer zB bei Mathe ;) )
Ja, jeder geht an den Bibeltext mit individuellen Vorkenntnissen, Erfahrungen, Erwartungen, Wünschen.
Im Privaten macht dann jeder aus seinem Blickwinkel "sein Bibel-Zeug".
Stimmen sich Gläubige ab und wollen sozusagen die Wahrheit erkannt haben, dann gibt es Streit.
Wenn es um Glaubensorganisationen geht, werden daraus Festlegungen und letztlich auch Streit.
(Insofern ist deine Entscheidung, deine Glaubensdetails hier nicht zu veröffentlichen, sehr gut - ich wollte auch nicht darauf hinaus)
Ich denke, eine gewisse "Normierung" der Blickwinkel liegt im Aufstellen von wissenschaftlichen Erkenntnissen zum 1./2. Jhd vor.
Da es sich um Wissenschaft handeln soll, müssen diese Erkenntnisse für Gläubige
und Nicht-Gläubige gleichermassen belastbar sein.
Sicherlich sind es hierbei die Nicht-Gläubigen, die den "Reichtum an Aussagen" deutlich einschränken, denn sämtliche religionsspezifischen Wesen sind von vorn herein aus dem Rennen.
Ich will jetzt nicht behaupten die Forschungssituation zu überschauen, aber mein Eindruck ist aktuell der, dass die "Erkenntnisse" zum 1./2.Jhd viel zu deutlich die Wünsche der religiösen Zielgruppe befriedigen.
Ich glaube zu erkennen, dass auch hier Wissenslücken, als Freiraum für religiöse Vorstellungen genutzt werden.
Gerade eben habe ich mir die Aufgabe gestellt, im Internet nach Aussagen von Historikern zum Urchristentum zu suchen.
Vorzugsweise Historiker, die keine Theologen waren/sind.
Die Idee hierbei ist, dass diese Leute vielleicht für mich als Nicht-Gläubigen eine brauchbare Sichtweise liefern.
Der
erste Link, ein Bücherwerk mit Erstausgabe 1921 hat folgende Aussage ergeben:
"Ursprung und Anfänge des Christentums geschichtlich zu begreifen und in den Zusammenhang der historischen Entwicklung einzureihen ist eine der größten Aufgaben, die dem Geschichtsforscher gestellt ist. Aber mit ängstlicher Scheu sind bisher alle Historiker ihr aus dem Wege gegangen: sie nehmen das Christentum als eine gegebene Größe, sie verfolgen seine weitere Entwicklung, die Einwirkungen der allgemeinen Kulturströmung, die Konflikte, in die es mit den Weltmächten gerät; aber seine Anfänge betrachten sie, wie es scheint, als nicht zu ihrem Bereich gehörend.Das nenne ich hochinteressant.
Ich deute es so, dass Forschern, auf deren Ergebnisse ich mich verlassen könnte, dieses Eisen zu heiss ist/war - zumindest damals 1921.
Das ist schon mal eher nicht gut und es bedeutet, dass ich vorsichtig sein muss, denn es scheint Einflüsse zu geben, sodass es sich nicht um eine wirklich freie Forschung handeln könnte.
Mein
zweiter Link ist ein Historiker, der etwas über "Jesus am Kreuz" aussagt.
Damit ist der Fall quasi schon erledigt, denn der Historiker geht von einem realen Jesus aus und analysiert diesen (laut Link) über das "Johannesevangelium".
Aus einem kurzen Blick in
seinen Lebenslauf erhält man dann die ersten Anhaltspunkte, wo der Hase lang läuft:
es ist wohl tatsächlich kein Theologe aber Sohn eines Pfarrers.
Ich habe dann nicht weitergesucht, aber das sind zwei Beispiele wo ich sage "OK, wir haben alle unsere Blickwinkel, aber warum pfeift jeder der Bibel hinterher?"
Klar, das wird sich wohl aus dem Slogan "die meisten Forscher gehen von einem realen Jesus aus" so ergeben, aber ich kann mich nicht gegen den Verdacht wehren, dass es eine gewisse Forschungsblockade gibt, rein mit belastbaren Ergebnissen zu arbeiten.
Vermutlich muss ich lange suchen, bis ich einen Historiker mit der Aussage "wir finden keine Jesus-Urchristen" finde.
Immerhin ist mir eine Stelle vor einigen Jahren in Erinnerung geblieben:
zitat-Hermann Detering:
Und was schließlich das archäologische Zeugnis betrifft: Für seriöse Archäologen wie den Niederländer Rutgers tritt der christliche Glaube als kulturhistorisches Phänomen überhaupt erst um 180 n. Chr. in den Blick. Man sagt, dass multiple Bezeugungen das Herz des Historikers erfreuen. Die Quellenlage im Falle Jesu stimmt traurig.Also ein Niederländer ("Rutgers") scheint hier anders aufgestellt zu sein, aber was er genau schreibt und was "christlicher Glaube als kulturhistorisches Phänomen" genau bedeutet, konnte ich nicht herausfinden (vielleicht geht es um Symbole, Bilder).
Ich kann also auch hier nicht sagen, ob für mich belastbare Erkenntnisse vorliegen.
Ich scheine mit meinem Blickwinkel nicht nur zu einer "seltenen Spezies" zu gehören, sondern auch mit meinem Wunsch nach belastbaren Aussagen.
Ich halte das insgesamt für
keine gute Situation, sondern eher für Glaubenspropaganda in Wissenschaftsform.
Wir beide können uns bestimmt darauf einigen, dass wir unsere Blickwinkel nebeneinander stehen lassen, aber offiziell, in der freien Wildbahn, stehe ich einer Übermacht an Glaubensinhalten, getarnt als "Forschungsergebnisse" gegenüber und so staune ich über einen Historiker, der das "Überleben von Jesus am Kreuz" analysiert :-)
Optimist schrieb:Und ich denke, das konnten die damaligen Geschichtsschreiber halt auch nicht.
Was hältst du davon diese Leute "Glaubenstextschreiber"/"Wundertextschreiber" zu nennen?
@Optimist@Bishamon@all@Bishamon, das mit dem "heiligen Geist" ist ein interessanter Aspekt.
Ich habe mir diesen
Wiki-Link angesehen.
Es gibt hier eine Aufteilung der zwei Bibel-Hälften: die hebräische Bibel (für mich das AT) und das NT.
Mein Eindruck ist der, dass der "heilige Geist" im AT nicht so vorkommt, wie im NT.
- Im AT geht es eher um "Gott" ohne Bezug zum Menschen.
- Im NT geht es um die Idee "Mensch empfängt den heiligen Geist" und erhält dadurch Zugang zu Gaben. (Der Mensch soll hier Fähigkeiten erhalten, für die er im AT noch "aus dem Garten" gescheucht worden wäre)
Ich habe hier natürlich die Motivation einen deutlichen Unterschied zu erkennen, denn wie ich in meinen Beiträgen geschrieben habe, sehe ich die "Jesus"-Figur als eine Rückinterpretation einer ungünstigen Vergangenheit der Zeloten an.
Es handelt sich dabei natürlich um einen ungewohnten Vorgang, der ja deshalb auch hier im Thread diskutiert und eher abgelehnt wurde/wird.
Ich habe es oben schon mal angedeutet, dass für mich die Idee "Heiliger Geist" bei diesem Vorgang ein wesentliche Rolle spielt.
Es kann auch für die Gottes-Reich/Messias-Gläubigen in der damaligen Depressionsphase keine leichte Aufgabe gewesen sein, sich neue Reime auf die grossen religiösen Verluste zu machen.
Die Strategie, im eigenen Denken göttliche Anteile zu identifizieren, sehe ich als
den zentralen Ausweg an.
Plötzlich taucht im NT ein göttlicher Anteil im Denken des gläubigen (auf "Jesus" ausgerichteten) Menschen auf.
Wenn ich es richtig sehe, liegt nirgendwo eine Erklärung vor, weshalb im NT auf einmal vom "Empfangen des heiligen Geistes" gesprochen wird.
In der Depressionsphase und der Suche nach einem rückwirkenden Erklärungsausweg sehe ich eine Motivation für diesen neuen Glaubensanteil.
Was steht wirklich in der Bibel: wieso taucht plötzlich im NT der "heilige Geist" auf?