Bishamon schrieb:half diese Geschichte einem Juden beim Theodizee-Problem ?
Ja natürlich!
Die Erzvätergeschichte ist ein einziger Kampf um die Theodizee. Vater Abraham wird ins Land Kanaan gerufen, und hier erhält er die Zusage, das Land zu besitzen und ein großes Volk zu werden. Und was passiert? Zweimal wäre beinahe die Gattin Sara abhanden gekommen, bis ins hohe Alter blieb das Paar kinderlos, und im Land leben die beiden auch nur in Zelten, mal hier und mal da. Dann kommt der späte Kindersegen doch noch, aber anstatt daß damit der Grundstein fürs große Volk gelegt wäre, bedroht Gott dieses Kind und damit jegliche Zukunft Abrahams. Abraham entscheidet sich für Gott, und der Sohn bleibt erhalten, aber unerwartet. Am Ende seines Lebens hat Abraham einen Sohn, und was den Landbesitz betrifft, so hat er nur ein Stück bei Machpela, welches er für Geld erworben hat, und zwar als Begräbnisstatt für seine tote Frau. Am Ende seines Lebens: ein Einmann-"Volk" und eine lausige Grabstelle. Auch Isaaks Frau Rebekka wird beinahe von einem benachbarten Fürsten geehelicht, sodaß es wieder nichts wird mit Gottes Verheißung. Und auch hier steht Isaak am Ende mit gerade mal zwei Söhnen da, Esau und Jakob. Und obwohl Isaak den erstgeborenen Esau bevorzugt und ihm am Ende den Erstgeburtssegen geben will, kommt es nicht dazu, da seine Frau den Jakob bevorzugt und ihren Gatten austrickst, sodaß er Jakob den Segen gibt. Jakob wiederum hat am Ende zwar zwölf Söhne, verliert aber seinen Lieblingssohn, den erstgeborenen seiner früh verstorbenen Lieblingsfrau, hält ihn für tot. Der macht in Ägypten Karriere und kann in einer Hungersnot seine Familie in Ägypten unterbringen, wo es schließlich bereits ein "Volk" von 70 Personen war. Aber damit haben sie auch das Land verloren, das doch das ihre sein sollte. Und nach dem nächsten Pharaowechsel hatte dieses Völkchen im ägyptischen Exil auch nichts mehr zu lachen, sondern mußte 300 Jahre lang Frondienste leisten. Was für eine vergeigte Zusage Gottes!
Die Erzvätergeschichte ist keine Chronik des sich sichtbar durchsetzenden Segen Gottes, sondern ein dauerhaftes Lavieren am Abgrund entlang, immer mit einem Bein im Tod, im Landverlust, und im Verlust der Nachkommenschaft. Kein Siegeszug der Auserwählten, von Tag zu Tag immer besser, schöner, zahlreicher, landbesitzender.
Und Vater Jakob am Jabbok, der sich mit Gott fetzt?
Nun, Jakob war ein "verhinderter Erstgeborener". Seine Hand hatte er schon rausgesteckt, aber sein Zwillingsbruder Esau kam als erstes raus. Und der wurde auch prompt zu Papas Liebling. Dennoch gelang Jakob später, dem Esau das Erstgeburtsrecht abzuluchsen. Nochmals später, als Vater Isaak den Erstgeburtssegen austeilen wollte, nahm die Mutter das Ruder in die Hand. Sie verkleidete Jakob als Esau, drückte ihm Ziegenbraten in die Hand und schickte ihn zu Papa. Jakob, ein ganzes Muttersöhnchen, tat das denn auch - und wurde an Esaus Statt von Isaak gesegnet. Als Esau nach Hause kam und das hörte, machte der Rabatz, konnte aber nichts machen. Dennoch fürchtete Mutter Rebekka Esaus Rache und schickte Jakob zu Verwandten nach Aram. Muttersöhnchen Jakob zog los, kam zu Oheim Laban, verliebte sich in dessen jüngere Tochter Rahel. Um sie zu ehelichen mußte Jakob sieben Jahre für Laban arbeiten. Doch nach der Hochzeit bemerkte er, daß Laban ihm die ältere Tochter angetraut hatte. Um auch die jüngere zu bekommen, mußte er versprechen, weitere sieben Jahre zu dienen. Tat er, und in dieser Zeit bekam Jakob mit den beiden Frauen (und deren Hauptmägden) zahlreiche Kinder. Am Ende wollte Jakob weg, doch Laban hielt ihn zurück, da Jakob ein gutes Händchen in der Vermehrung der Viehherden hatte. Irgendwann reichte es Jakob, und forderte seinen Lohn (wohl für die zusätzlichen Jahre Dienstes). Laban sagte, Jakob müsse sich diesen Lohn selbst erarbeiten, er bekomme nach einem Jahr Schafehüten vom Wurf alle gescheckten Lämmer. Jakob wußte, wie man es anstellt, daß die Schafe so gedeckt wurden, daß hauptsächlich gescheckte Lämmer auf die Welt kamen. Was Laban entsetzte, als es so weit war. Darauf verhandelte er neu, Jakob müsse ein weiteres Jahr dienen, dann bekäme er vom nächsten Wurf alle nichtgescheckten Lämmer. Dank Jakobs geschicktem Händchen kamen fast nur einfarbige Lämmer im nächsten Jahr. Laban war stinksauer. Jakob wußte sich keinen Rat, und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion floh er mit Sack und Pack, mit Frauen und Kindern, mit geschekcten und einfarbigen Lohnschafen, und zog nach Hause.
So kam Jakob an die Grenze von Kanaan. Hier floß der Fluß Jabbok. Und hier stand Jakob, an einem Scheidepunkt seines Lebens.
Jakob der Betrüger, der seinem Bruder das Erstgeburtsrecht abgeluchst hat, der seinem Schwiegervater nahezu den gesamten Wurf von zwei Jahren an Schafen durch Manipulation genommen hat. Ein Betrüger, ein Schuft, ein Arsch. Und wenn er mal nicht selber Schuld hatte, dann war er ein Muttersöhnchen, das sich von anderen instrumentalisieren ließ und freiwillig mitspielte. Ein guter Mensch? Nein! Auf der anderen Seite aber wurde er auch selber ausgenutzt und betrogen, von Laban etwa. Das Schicksal - oder Gott? - hat es nicht gut mit ihm gemeint, hat ihm geschadet. Und nun? Hinter ihm ein verärgerter Schwiegervater, vor ihm ein stinksaurer Bruder (so zuletzt, als sie sich sahen). Was soll Jakob tun, wo soll er hin? Wahrlich ein Scheidepunkt. An der Grenze zweier Länder, zwischen zwei Ufern (des Jabbok).
Und was passiert? Ganz "psychologisch" sagt der Bibeltext "da wurde es Nacht". Ganz, wie es Jakob da geht. Ein total verpfuschtes Leben, es geht nicht vor und nicht zurück. Düstere Aussichten. Und wer ist schuld? Klar, auch Jakob. Aber dennoch, auch Gott ist schuld. Warum ließ er so viel Betrug und Ungerechtigkeit zu.
Und was passiert dann? Gott (in Gestalt eines Engels) kommt. Gott ist da. Und Jakob erhebt seine Fäuste und drischt auf Gott ein. Sie kämpfen, die ganze Nacht. Am Ende liegt Jakob mit zerschmetterter Hüfte halb am Boden, und Gott, der natürlich noch steht, will gehen. Doch er kann nicht, denn das Wrack da am Boden läßt ihn nicht gehen. Hält Gott wahrscheinlich mit der einen Hand fest und haut noch immer mechanisch und vor allem kraftlos mit der anderen Faust auf Gott ein. "Laß mich los!" - "Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!" - "Wie ist Dein Name?" - "Jakob" - "Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel, denn Du hast mit Gott (und mit Menschen) gekämpft und bist Sieger geworden!" Hier sagt der "Engel", wer er ist. Du hast mit Gott gekämpft. Was - psychologisch betrachtet - eh klar war. Jakob "haderte mit seinem Schicksal", was bei einem Gottgläubigen eben Gott ist.
Und dann? Was passiert danach? Anfangs wurde es doch Nacht. Und nun? Tatsächlich schreibt die Bibel, da ging die Sonne auf. Nein - schreibt sie nicht. Da steht, und zwar wortwörtlich, im hebräischen Original: Da ging
ihm die Sonne auf. Braucht es mehr zu erkennen, daß die Bibel nicht einfach eine physische Nacht erzählt, sondern die "psychologische" Nacht, in der Jakob sich befand? Und in der Tat, Jakob überquert den Jabbok, kommt ins Land Kanaan, und der erste Mensch, der ihm dort begegnet, ist sein Bruder Esau, der ihn umarmt. Frieden!
Die Hüfte aber, die verheilte nie ganz, Jakob hinkte zeit seines Lebens ab da.
Jakob ist nicht nur ein Armleuchter, er ist auch wirklich vom Schicksal gebeutelt, auch ohne eigenes Verschulden. Und was macht r? Er bekämpft Gott, macht sich zum Feind Gottes. Jakob ist nicht der gehorsame, Demütige, der "Gott ist groß, ich bin klein und ein Wurm, Gott weiß schon, warum er das tut, und ich schluck einfach mal alles runter" sagt. Nein, er läßt seine Wut raus, läßt die Sau tanzen, benimmt sich ungebührlich. Er bekämpft Gott, aber damit wendet er sich auch Gott zu. Er wendet sich nicht ab und geht seinen Weg nun ohne Gott. Nein, immer draufgehaun, aber eben auch nicht losgelassen. Er prügelt solange auf seinen Gott ein, er läßt nicht locker, bis Gott ihn segnet. Bis es sich zum Guten wendet. Nicht in stillem Ertragen, sondern in lautem Aufbegehren.
Und dieser wird von Gott zum Sieger erklärt. Dieser heißt von nun an Israel, der Vater der zwölf Stämme Israels, der endgültige Vater des Volkes Gottes. Was für ein Vorbild, so ohne Demut und Gehorsam, der nicht einmal vor Gottesfeindschaft zurückschreckt. Der aber nicht losläßt. Der wird zum Stammvater, der ist das Vorbild aller gläubigen Israeliten.
So erzählen sich die Israeliten ihren Anfang und ihren namengebenden Erzvater. Sie erzählen sich nicht einen Heiligen Mann frei von Schuld, der zu allem Ja und Amen sagt. Sie erzählen sich einen Typ mit zweifelhaftem Verhalten und ungebührlichem Auftreten. Und sie erzählen sich einen, der massiv von der Theodizeefrage umgetrieben war, und der seinen Weg fand, diese Theodizee für sich zu lösen. Nicht schlucken, sondern ankämpfen. Darum ringen, daß es einen Ausweg aus der Nacht gibt, nicht loslassen, Segen einfordern. Bis zum Tod, oder bis zum Segen. Aber nie Gott loslassen dabei.
Das heißt Israel Sein!
Theodizee und Nacht gehört von Abraham an zum Glauben Israels wie zu seiner Geschichte. Letzteres in erschreckender Weise bis in die jüngste Vergangenheit. Aber bis heute ging es auch weiter. Die anderen Völker, Kulturen, Religionen aus Israels Umwelt gibt es nicht mehr. Israel mit seinem HERRN gibt es noch immer. Es ging immer weiter, und sei es mit einem einzelnen Sohn und einer Grabstelle.