Euer Verhältnis zum Kommunismus
16.04.2021 um 17:20Optimist schrieb am 10.04.2021:den Kapitalismus seit 2008 empfinde ich genau so wie der den wir jetzt haben, wo siehst du den Unterschied?2008 war noch die verbreitete Ansicht, dass Sparen gut ist und staatliches Spending problematisch.
Inzwischen hat sich diese Sichtweise komplett gewandelt und die Sparpolitik in Folge der Finanzkrise wird eigentlich von allen Experten offen als Fehler eingestuft.
Das Resultat sieht man in den USA, die zwischen Biden und Trump nun knapp 6 Billionen Dollar an Investmentpaketen geschnürt haben.
Die Fehler die Obama 2008 noch gemacht hat, zu zaghaft Geld auszugeben, werden von Biden nicht wiederholt.
Die letzten 15 Jahre chinesische Entwicklung haben auch gezeigt, dass staatliches Investment wirtschaftspolitisch auf keinen Fall irrational ist.
Dementsprechend haben sich in den letzten 10 Jahren die Annahmen die die letzten 40 Jahre unsere Wirtschafts- und Sozialpolitik bestimmt haben, stark verändert.
Die Wirtschaftswissenschaftlichen Dogmen des Neoliberalismus sind in sich zusammen gefallen und jetzt muss man schauen wie es weiter geht.
Kürzlich gab es da ein Streitgespräch zwischen Paul Krugman(Wirtschaftsnobelpreisträger) und Larry Summers(Ex-US-Finanzminister), die im Grunde die alte Perspektive (Summers) und die neue Perspektive (Krugman) vertreten haben: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/krugman-gegen-summers-17195796.html
Der FAZ Artikel ist wirklich nicht gut, aber die einzige deutsche Quelle die ich dazu gefunden hab
Dieser Paradigmenwechsel ist der radikalste Politikwandel der letzten 40 Jahre.
Das fällt den meisten nur nicht auf, weil sie auch nicht wussten, dass der Neoliberalismus die mit Abstand bestimmendste Ideologie in ihrem Leben ist. Wenn der Neoliberalismus nun abgelöst wird, dann merken die Leute das auch erstmal nicht, aber es wird massive Auswirkungen haben.
Übrigens: Das Wall-Street Journal benutzt statt "Neoliberalismus" die Phrase "Washington Consensus", das Konrad-Adenauer-Institut versucht den Neoliberalismus als soziale Marktwirtschaft zu verkaufen und in Südamerika ist der Neoliberalismus nur als "El Modelo" bekannt, "das Model" das ihnen von US-gestützt Diktatoren aufgezwungen wurde (Bsp: Pinochet).
Letztendlich geht es aber immer um das Selbe:
- Deregulierung, Privatisierung, Steuersenkungen
- Blindes Vertrauen in den Markt
- Blindes Ablehnen staatlicher Investitionstätigkeiten
Aber die Problematik geht tiefer. Wendy Brown, Professorin für politische Theory an der Universität von Kalifornien Berkeley formulierte es in ihrem Buch, "Undoing the Demos" so:
Im Gegensatz zu einem Verständnis des Neoliberalismus als einer Menge staatspolitischer Maßnahmen, einer Phase des Kapitalismus oder einer Ideologie, die den Markt entfesselt hat, um die Rentabilität für eine Klasse von Kapitalisten wiederherzustellen, schließe ich mich Michel Foucault und anderen an und begreife den Neoliberalismus als eine Ordnung normativer Vernunft, die, wenn sie an Einfluss gewinnt, die Form einer Regierungsrationalität annimmt und eine bestimmte Formulierung ökonomischer Werte, Praktiken und Metriken auf jede Dimension des menschlichen Lebens ausdehnt.https://press.princeton.edu/books/paperback/9781935408543/undoing-the-demos
Über die bloße Imprägnierung der Bedeutung oder des Inhalts von Demokratie mit Marktwerten hinaus greift der Neoliberalismus die Prinzipien, Praktiken, Kulturen, Subjekte und Institutionen der Demokratie im Sinne der Herrschaft durch das Volk an. Und über das bloße Wegschneiden des Fleisches der liberalen Demokratie hinaus ätzt der Neoliberalismus auch noch die radikaleren Ausdrucksformen der Demokratie weg, jene, die sich hie und da in der gesamten euroatlantischen Moderne Geltung verschaffen und mit robusteren Auffassungen von Freiheit, Gleichheit und Herrschaft des Volkes für ihre Zukunft kämpfen, als es die liberale Ausgestaltung der Demokratie zu tun vermag.
In dem Maße, wie sich eine derartige normative Ordnung der Vernunft über drei Jahrzehnte hinweg zu einer weit und tief verbreiteten Regierungsrationalität entwickelte, verwandelt der Neoliberalismus jeden Bereich und jedes Unterfangen des Menschen gemäß einem bestimmten Bild des Ökonomischen. Jedes Verhalten ist ökonomisches Verhalten; alle Bereiche des Lebens werden in ökonomischen Begriffen erfasst und gemessen, auch wenn diese Bereiche nicht direkt monetarisiert werden. Die charakteristische Signatur der neoliberalen Rationalität ist somit eine weit ausgedehnte Ökonomisierung von bislang nichtökonomischen Bereichen, Tätigkeiten und Themen, aber nicht notwendigerweise ihre Vermarktlichung oder Monetarisierung.
Die heutige „Ökonomisierung” der Subjekte durch die neoliberale Rationalität ist somit auf mindestens dreierlei Weise charakteristisch.
Erstens sind wir im Gegensatz zum klassischen ökonomischen Liberalismus überall Homo oeconomicus und nur Homo oeconomicus. Das ist eine der Neuheiten, die der Neoliberalismus in das politische und gesellschaftliche Denken einführt, und gehört zu seinen subversivsten Elementen. Adam Smith, Nassau Senior, Jean-Baptiste Say, David Ricardo und James Steuart widmeten der Beziehung zwischen dem wirtschaftlichen und dem politischen Leben große Aufmerksamkeit, ohne jemals das Letztere auf Ersteres zu reduzieren oder sich vorzustellen, dass die Ökonomie andere Lebensbereiche in und durch ihre eigenen Begriffe und Metriken umwandeln könnte. Manche gingen sogar so weit und benannten die Gefahr oder die Unschicklichkeit, der Wirtschaft einen zu großen Einfluss auf das politische oder gar auf das moralische oder ethische Leben einzuräumen.
Zweitens nimmt der neoliberale Homo oeconomicus seine Gestalt als Humankapital an, das danach strebt, seine Wettbewerbspositionierung zu stärken und seinen Wert zu steigern anstatt als Figur des Austauschs oder Interesses. Auch das ist neu und unterscheidet das neoliberale Subjekt vom Subjekt, dessen Bild von klassischen oder neoklassischen Ökonomen gezeichnet wurde, aber auch von Jeremy Bentham, Karl Marx, Karl Polanyi oder Albert O. Hirschman.
Drittens und im Zusammenhang damit ist heute das spezifische Modell für Humankapital und seine Tätigkeitsbereiche zunehmend das des Finanz- und Investitionskapitals, und nicht nur des produktiven oder unternehme- rischen Kapitals. Markthandel, der auf rentablen Tauschgeschäften und dem unternehmerischen Einsatz der eigenen Vermögenswerte und Bemühungen beruht, ist zwar noch nicht völlig verschwunden und bleibt ein Teil dessen, was das heutige Humankapital ist und tut. Zunehmend jedoch geht es, wie Michel Feher darlegt, dem Homo oeconomicus als Humankapital um die Steigerung seines Portfoliowerts in allen Lebensbereichen, eine Tätigkeit, die durch Praktiken der Investition in sich selbst und des Anziehens von Investoren realisiert wird.
Natürlich sind viele zeitgenössische Unternehmen auch weiterhin durch Interesse, Profit und Tauschgeschäfte auf Märkten ausgerichtet; die Kom-modifizierung ist aus den kapitalistischen Wirtschaften nicht verschwunden und auch das Unternehmertum nicht. Der Punkt ist jedoch, dass das Finanz- kapital und die Finanzialisierung ein neues Modell des ökonomischen Verhaltens hervorbringen, das sich nicht nur auf Investmentbanken oder Kapitalgesellschaften beschränkt. Selbst Unternehmen, die durch Kostensenkung, Entwicklung neuer Märkte oder Anpassung an sich ändernde Umgebungen auch weiterhin nach Gewinnen streben, verfolgen außerdem umsichtige Strategien des Risikomanagements, der Kapitalsteigerung, des wirksamen Einsatzes, der Spekulation und Praktiken, die Investoren anziehen und die Kreditwürdigkeit und den Portfoliowert steigern sollen.
Neoliberalisierung durch »sanfte Gewalt«
Daher unterscheiden sich das Verhalten und die Subjektivität des Homo oeconomicus, die im Zeitalter des Finanzkapitals geformt werden, bedeutend vom Smithschen Handel und Austausch und vom Benthamschen Streben nach Lust und der Vermeidung von Schmerz. Während die neoliberale Rationalität den Menschen zu Humankapital umformt, wird eine frühere Fassung des Homo oeconomicus als Interessenmaximierer von einer Bestimmung des Subjekts als Mitglied eines Unternehmens und zugleich selbst als Unter- nehmen abgelöst, wobei es in beiden Fällen durch Steuerungspraktiken, die Unternehmen eigentümlich sind, angemessen geleitet wird.
Die Kolonialisierung der Lebenswelt durch ökonomische Imperative.
Optimist schrieb am 10.04.2021:andere empfinden es so, dass es die letzten Jahre stark in Richtung Sozialismus ging (vor allem unter Merkel) - so unterschiedlich können Wahrnehmungen sein.Ja, da würde ich aber nix drauf geben. Die subjektiver Wahrnehmung irgendwelcher Leute ist ziemlich irrelevant wenn man harte Fakten hat die eine objektivere Einordnung erlauben.
Deutschland befindet sich seit der Wiedervereinigung auf einem stetigen Kurs nach rechts. Nicht rechts im Sinne von Nationalismus, sondern rechts im Sinne von neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Am besten beobachtbar ist das an der steigenden Ungleichheit im Land und den sich entsprechend verschiebenden Machtstrukturen.
Optimist schrieb am 10.04.2021:unter dieser Prämisse wundert es mich dann nicht mehr, dass manche jetzt schon davon reden, wir steuern auf eine DDR 2.0 zu.Wieso DDR? Deutschland zu Zeiten des Wirtschaftswunders oder die USA in den 50er und 60er Jahren sind ein besserer Vergleich.
Von diesen Zuständen sind wir heute sehr weit entfernt.
Trotzdem würde niemand sagen, dass West-Deutschland oder die USA in den 60er Jahren zu sozialistisch waren, oder?