@Fierna Das ist ja mal eine interessante Studie, die du da vorgelegt hast, und die ich bisher noch nicht kannte. Der (angebliche oder tatsächliche) Riss, der durch unsere Gesellschaft geht, wird letztendlich auf den Konflikt zwischen kommunitaristischen (wertezentrierten) und kosmopolitischen (verteilungszentrierten) Einstellungen zurückgeführt; die AfD-Aficionados wollen also Wertvorstellungen, wie wir leben wollen und die sie bisher zu wenig berücksichtigt finden, in den politischen Diskurs einbringen, während der Fokus des politischen Interesses der "Kosmopoliten" auf Verteilungskonflikte ausgerichtet ist mit dem Ziel einer gerechteren Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Grundsätzlich widersprechen sich diese beiden Perspektiven nicht unbedingt und sind daher nicht inkompatibel. Das Problem ist aber, dass das zentrale Anliegen der "Kommunitarier" darin liegt, die Werte einer Gesellschaft über die herkömmliche Kultur zu definieren, die eine Integration "kulturfremder" Elemente angeblich unmöglich macht. Und da sind wir wieder beim Kulturkonflikt angelangt, wie ich ihn in dem Thread "Leitkultur oder westöstlicher Divan" zu skizzieren versucht hatte.
Es geht aber gar nicht darum, einen Wertediskurs verhindern zu wollen, sondern im Gegenteil: Er darf nicht länger vom Postulat des (klassisch marxistischen) Primats der Verteilungsfrage überlagert und aus dem politischen Dialog verdrängt werden. Wenn also über Werte diskutiert wird, müssen sich die AfD-Afficionados aber mehr als unbequeme Fragen gefallen lassen, die darin gipfeln erklären zu müssen, aus welchen Gründen die westliche Kultur (hier: Ensemble aller westlichen Wertvorstellungen) der östlichen (u.a. islamisch geprägten) überlegen sein sollte, oder anders formuliert: weshalb die beiden divergenten Wertesysteme grundsätzlich inkompatibel sein sollten. Auch in dieser Frage schwingt gleich wieder die Frage nach den Grundeinstellungen (kosmopolitisch vs. kommunitaristisch) mit, nun aber seltsamerweise im umgekehrten Verhältnis, denn in der Wertefrage beanspruchen die AfD-Aficionados plötzlich ein kosmopolitisches Geltungspostulat, dass die westlichen Werte praktisch universalistische Werte sind, was bezogen auf den Ostwest-Kulturkonflikt bedeutet, dass die Werte der östlichen (besonders islamisch beeinflussten) Kultur nur regionalen Geltungsanspruch besäßen.
Das wäre noch hinnehmbar, wenn die AfD-Aficionados sämtliche westlichen Werte in den Konflikt einbezögen. Praktisch allen (westlich-humanistischen) Werten sind sie bereit, universalistische (also für alle Kulturen zu gelten habende) Geltung beizumessen (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit etc.). Bezeichnenderweise wird dabei aber ein Wert grundsätzlich ausgeklammert, worin sich das AfD-Weltbild von einem humanistischen unterscheidet: Die verfassungsmäßig garantierten Menschenrechte werden bei diesem "Kulturkonflikt" unberücksichtigt gelassen. Man könnte es auch so formulieren: Die AfD-Aficionados wollen (genauso wie die Kosmopoliten auch) allen kulturellen Werten weltweit Geltung verschaffen; über die Menschenrechte – eigentlich dem umfassendsten aller Werte bzw. dem "Superwert" in der Werte-Diskussion – wollen sie allerdings alleinige Verfügungsgewalt behalten, d.h. diese dürfen nach ihrer Ideologie nicht universalistisch sein, sondern müssen rein westlich bleiben, damit sie über sie bestimmen können. Das ist deshalb notwendig, um "kulturfremde Einflüsse" abwehren zu können: Die Menschenrechte dürfen also nur für den Westen gelten. Nur so kann man "unwidersprochen" behaupten, die Muslime täten sich schwer mit der Anerkennung der universalistischen Menschenrechte (weshalb allen diesen islamisch geprägten Staaten Achtung der Menschenrechte und westliche Demokratie fremd seien) und würden bei zu starker Zuwanderung die Grundlagen unserer Kultur und als Superwert die Menschenrechte und deren Geltung unterminieren.
Aufgabe ist es also, den Dialog über die Werte aufzunehmen und zu begründen, weshalb die Werteeinstellung der AfD-Aficionados grundfalsch ist, solange sie die Universalität der Menschenrechte nicht anerkennen, und hierüber in den Dialog mit eintreten. Denn solange sie die Universalität der Menschenrechte nicht anerkennen, müssen diese auch hier bei uns nur bestimmten Teilen der Gesellschaft zugestanden werden, theoretisch also nur Deutschen oder, radikalisiert und eskaliert, nur Biodeutschen. Wir wissen ja nicht erst seit heute, dass dies das Ziel des AfD-"Flügels" und aller Rechtsextremisten ist.
Man muss also den Wunsch nach einem Wertediskurs annehmen und ihnen zeigen, weshalb die Ausklammerung der Menschenrechte in diesem Diskurs antihumanistisch und kulturdarwinistisch ist. Die Studie, die allerdings in voller Länge gelesen werden müsste, könnte dazu wertvolle Argumentationshilfe bereitstellen, zumal man damit die Begründungen wahrscheinlich bestens belegen könnte. Soviel kann ich auch schon behaupten, ohne sie im Detail zu kennen, darauf lässt die zitierte Zusammenfassung schließen.
Aber der Diskurs hierüber sollte dann besser im "Leitkultur vs. westöstlicher Divan" -Thread geführt werden.