Bin eigentlich über diese Zeit ganz gut informiert, habe etliche Bücher und Autobiographien gelesen und Dokus/Filme gesehen.
Das genügt leider nicht.
Ich habe viel gelesen, gesehen, diskutiert. In der Schule, in der Familie, später immer wieder. Es war mir schon klar, was da für ein Horror abgelaufen war, welche Rolle Mitläufer spielten und meine Großeltern hatten sehr spannende Dinge dazu berichten, was von denen zu halten sei, die angeblich nicht gewusst hatten ... jedenfalls in Hannover, wo die Zwangsarbeiter aus der KZ-Außenstelle quer durch die Stadt zum Continental-Reifenwerk marschierten, hin und zurück, täglich. Man musste schon bewusst weggucken, um die Jammergestalten nicht wahrzunehmen, und sich nicht seine Gedanken zu machen.
Aber auch in Ostpreußen auf dem Land bekam meine Oma mit, was los war. Soviel dazu.
Erst viel später, vor ein paar Jahren, lernte ich Menschen kennen, die selbst die Todesmärsche, Lager und auch Erschießungen erlebt und überlebt hatten. Mit Glück, mit Hilfe - und in dem einen Fall mit einem Mord, um über Dreißig andere und sich selbst zu schützen. Lange Geschichten, kurze Geschichten, sehr vielschichtige Geschichten.
Als der eine Mann erzählte, wie er im Wald von Ponary auf die Grube zuging, in der schon unzählige Tote lagen, und im letzten Moment über irgendwas stolperte, sich lebend und unverletzt in der Grube fand,
sich den Rest des Tages tot stellte um sich dann nachts zu befreien ... ein kleiner, freundlicher alter Mann, der dann über seine Freude spricht, dass sich ein Publikum findet, das ihm zuhören möchte und dass er daran glaubt, dass mit diesen Menschen die Geschichte heute anders ausginge ... da habe ich mich zutiefst geschämt. Das erste mal habe ich da tatsächlich Verantwortung gefühlt, denn es hätten auch meine Vorfahren sein können, die die Erschießungen leiteten. Es ist das reine Glück, dass sie es nicht waren. Ich habe nichts dazu beigetragen, zufällig in die "richtige" Familie geboren zu werden. Die Chancen hätten gut gestanden, dass es meine Vorfahren gewesen wären, die den Litauern die Anleitung dazu gaben, wie man solche Massenerschießungen organisiert, oder dass sie die Abzüge gedrückt hätten.
Dabei hat mein Vater zusammen mit anderen die Geschichte eines Reichswehroffiziers recherchiert, der über 200 Juden das Leben rettete. Man könnte sagen, dass die Vorfahren ebenso gut auch Retter hätten sein können ... nur stehen die Chancen da recht schlecht.
Meistenteils waren es wohl Mitläufer. An sich nichts verwerfliches ... wenn man nicht bedenkt, wobei man da Mitläufer war. Und dass es doch leicht genug war, spätestens die Nürnberger Gesetze als schreiendes Unrecht zu erkennen. Kann man bei sowas tatsächlich ohne Meinung bleiben und stumpf die Hand heben, wenn es verlangt wird?
Und man konnte eben auch nicht Held sein, aber im anderen Sinne Mitläufer: Keiner meiner Onkel oder Tanten musste zur Hitlerjugend oder zum BDM (meine Eltern waren zu klein). Keiner der Freunde der Großeltern, die Regimegegner waren, wurde verpfiffen. Die Büromitarbeiter in Norwegen, die für den Wiederstand arbeiteten, wurden nicht verraten. Der gleiche Großvater trat sogar noch sehr spät in die NSDAP ein, um seine Familie zu schützen, und seine Kollaboration kam erst durch das Entnazifizierungsverfahren heraus. Man konnte auch Mitläufer der Gegner sein, passiv bleiben und das Regime nicht unterstützen.
Aber es ist eben reiner Zufall, dass ich in diese, und nicht eine andere Familie geboren wurde.
Darum die Scham: dass ich einer Kultur entstamme, die solche Verbrechen, solche Exzesse, solche Gewalt hervor gebracht hat. Das ist ebenso eine "Kulturleistung" wie Brahms, Bach und Beethoven, Goethe, Schiller und Lessing, Kant, Leibnitz und die Humboldts, und was einem nicht alles an Kultur einfällt. Nebenher haben wir die industrielle Herstellung von Textilien erfunden und mit der gleichen Effizienz wurden dann Menschen vernichtet ...
Den zweiten Moment der Scham hatte ich im Zusammenhang mit den NSU-Morden.