Die Schuld der Deutschen: Haben wir das Recht auf "Schlussstrich"?
10.04.2016 um 20:21In verschiedenen Threads taucht ab und zu, aber ziemlich regelmäßig, besonders wenn es um Nationalbewusstsein geht, die Frage auf, wie lange wir, die wir doch alle Nachgeborene sind, noch mit Auschwitz konfrontiert werden wollen. Meistens laufen diese hitzigen Debatten auf der unteren primitiven Ebene ab nach dem Motto: "Ich kanns langsam nicht mehr hören. Was hab ich denn zu tun mit der Schuld unserer Vorfahren? Muss ich mich schämen für Taten, die ich nicht begangen habe? Muss man als Deutscher als solcher permanent sich dafür rechtfertigen, dass man nichts dafür kann, weil man damals noch nicht gelebt hat? Irgendwann muss doch auch mal Schluss sein."
Auch heute gab es so ein Gespräch im Thread: "Sind die Deutschen alle ausländerfeindlich?", das sich zu verselbständigen drohte. Dies ist aber ein anderes Thema, zumindest oberflächlich gesehen und vordergründig. Die meisten – ich nehme hier mal KC stellvertretend – meinten, sie sähenes nicht ein, dass wir nur wegen eine düsteren Vergangenheit nicht so etwas wie Nationalstolz wie jeder andere auch entwickeln dürfen.
Und wenn man sie dan daran erinnert, dass man als Teil der Ntion – wir sind nun mal laut Pass Deutsche und keine Holländer, Franzosen oder Engländer – auch Verantwortung trägt für die Vergangenheit der Nation – die etwas früher begann als mit der eigenen Geburt, wird der Holocaust relativiert, etwa: Stalin hat noch mehr Tote auf dem Gewissen" oder "Kann man schlimmer sei als ein Pol Pot?"
Nachzulesen ist der Streit in dem besagten Thread ab S. 70, 11:14, beginned mit dem Post von KC.
Diese Diskussion kommt nicht aus heiterem Himmel denn es gab bisher bereits den Historikerstreit,
Wikipedia: Historikerstreit
als Ernst Nolte im Streitgespräch mit Jürgen Habermas versuchte, die Gräuel des Nationalsozialismus und insbesondere die Singularität des Holocaust mit Stalins Verbrechen und den berüchtigten Säuberungen zu vergleichen, denen zahlreiche Millionen zum Opfer fielen, oder mit Maos Terrorregime. Nach dem Motto: Seht her, wir waren schlimm, aber es gab andere Bösewichte, die uns in nichts nachstanden. Komisch nur, dass wir als Deutsche immer an den Holocaust erinnert werden, die Russen und Chinesen aber nicht an die Verbrechen ihrer früheren Machthaber.
Und dann gab es noch die berühmte Paulskirchenrede von Martin Walser, der klug genug war, nicht in Noltes Spur zu tauchen und erneut zu versuchen die Verbrechen des Holocaust zu relativieren, sondern die Sache von einer anderen Perspektive anging, nämlich eine Schlussstrichdebatte zu verlangen nach dem Motto: Irgendwann muss auch mal Schluss sein. Die heutigen Leute sind alle Nachgeborene und können nichts für die Verbrechen ihrer Großeltern und Urgroßeltern. Wir wollen einfach wie jeder andere wie eine ganz normaler Nation leben.
Zu Walsers Paulskirchenrede:
Als Walser anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche eine Rede hielt, in der er eine „Instrumentalisierung des Holocaust“ ablehnte, kam es zu kontroversen Diskussionen und teilweise auch zu Protesten.
Walser hatte in seiner Rede auch die Begnadigung des verurteilten DDR-Spions Rainer Rupp gefordert. Dies wertete Lars Rensmann als Teil der von Walser propagierten „nationalen Selbstversöhnung“ der Deutschen: So wie Walser in seiner Rede einen Schlusstrich unter das Gedenken an den Holocaust ziehen wollte, so wollte er auch mit Rupp die DDR begnadigt sehen.[9]
Nach Walsers Rede war im Anschluss allgemein von den Anwesenden stehend applaudiert worden, mit Ausnahme des Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland Ignatz Bubis, dessen Frau Ida und Friedrich Schorlemmer. Ignatz Bubis warf Walser später vor, „wegsehen“ zu wollen und bezeichnete die Rede als „geistige Brandstiftung“. Letzteres nahm Bubis später zurück. Ferner wurde Walser vorgeworfen, dass rechte Revisionisten, die dieses brisante Thema abblocken wollten, sich auf ihn berufen würden. Walser hielt dieser Kritik entgegen, dass er keine politische Instrumentalisierung seiner „sehr persönlichen Ansicht“ beabsichtige und nur von seinem subjektiven Empfinden gesprochen habe.
2015 erklärte er in einem Spiegel-Interview, er habe nicht eine Instrumentalisierung von Auschwitz im deutsch-jüdischen Verhältnis gemeint, sondern eine in der deutschen Tagespolitik, so wie sie z.B. von Günter Grass in seiner Ablehnung der Deutschen Wiedervereinigung oder von Joschka Fischer in seiner Befürwortung der deutschen Intervention im Kosovokrieg praktiziert wurde. Er bedauerte, die Rede so gehalten und Bubis damit getroffen zu haben
Robert Leicht schrieb dazu in der "Zeit": "Schuld verjährt nicht, sie kann nur vergeben werden."
Zuletzt noch in ganzer Länge ein Kommentar von Robert Leicht, der diese beiden Punkte
• Relativierung des Holocaust und
• Forderung nach einem Schlussstrich
ohne sie expressis verbis so zu nennen, gut zusammenfasst:
Warum Walser irrt
Auch die Nachgeborenen haften für das Erbe von Auschwitz
Von Robert Leicht
Schuld verjährt nicht, sie kann nur vergeben werden
Eine Vergangenheit, die um so weniger zur Ruhe kommt, je angestrengter man sie auf einen Platz verweist, an dem sie nur noch nach Gutdünken besichtigt wird. Dieses Paradox bestimmt den Streit, den Martin Walser mit seiner Frankfurter Rede ausgelöst hat - eine Friedenspreis-Rede, die Unfrieden gestiftet hat. Denn Walser wollte einem Konflikt ausweichen. Nicht, indem er etwa die deutsche Vergangenheit leugnete, sondern weil er verlangte, die Konfrontation mit diesem unheilbaren Skandal in unserer Geschichte ins eigene Belieben zu stellen. Aber wann wäre es jemals an der Zeit, diese Erinnerung zur subjektiven Disposition zu stellen und zu privatisieren - damit man dann, wie Walser gegen Ende seiner Rede, wieder zum Schönen zurückkehren kann? Denn, so seine Schlußapotheose, es sei doch alles trotz allem immer noch schöner, als man es sagen könne.
Indessen: Das Gefälle zwischen dem, was Bubis in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis erfahren hat, und dem, was die anderen über Auschwitz erfahren haben, läßt sich nie mehr einebnen; auch nicht durch noch so strenge Befehle, zur Sachlichkeit zurückzukehren.
Weshalb aber der Streit selber? Weil wir vor einem Generationswechsel stehen - und damit vor der Frage: Können die Zeitgenossen, können die unmittelbaren oder mittelbaren Zeugen bestimmen, welchen Einfluß ihre Geschichte und ihr Geschichtsbild auf die Nachgeborenen haben werden?
"Ist die Schuld verjährt?" fragt der Spiegel auf seinem jüngsten Titel. Verjähren kann nur ein staatlicher Strafanspruch. Schuld verjährt niemals, sie kann allenfalls vergeben werden. Aber es werden in diesem Lande eines Tages keine Menschen mehr leben, die an den Nazi-Verbrechen schuldig oder mit-schuldig geworden sind - und auch keine überlebenden Opfer mehr. Wird dann die Geschichte des Nationalsozialismus immer noch ihre unauslöschliche Scheidewirkung behalten? Oder werden dann endlich die Schatten weichen und wir Deutschen endlich "normal" und "erwachsen" sein? (Übrigens ein merkwürdig widersprüchlicher Sprachgebrauch, bis hin in Gerhard Schröders Regierungserklärung: Wer endlich "erwachsen" wird, war doch vorher unmündig, also auch strafunmündig; indessen war, wer "normal" sein möchte, zuvor auf pathologische Weise anomal ...)
Geschichtslos sein wollen heißt: Die Verantwortung los sein wollen
Wie aber läßt sich dies denken - daß deutsche Geschichte und deutsche Gegenwart auch dann noch nach dem Prinzip der Verantwortung zusammenhängen werden, wenn alle Zeugen des Holocaust, wenn Täter und Opfer, ja die Kinder der Täter und der Opfer allesamt nicht mehr leben?
Das fängt schon damit an, daß niemand im Nirgendwo aufwächst. Zum Individuum - oder, sei's drum, zum Erwachsenen - wird man, indem man zu der konkreten, geschichtlich konkret geprägten Umwelt immer bewußter, immer entschiedener Stellung nimmt, zum Soll und Haben, im Ja und im Nein, also unterscheidend und darin: kritisch. Und eben auf diese Weise wird man von der Geschichte geprägt, wird die Geschichte zur eigenen; werden also Deutsche zu Deutschen - ohne in einer diffusen Normalität unterzutauchen.
Diese Differenz im Prozeß des Erwachsenwerdens zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen wird lange bleiben, zumal da unsere europäischen Nachbarn ihre eigene Wahrnehmung von uns nicht ausschließlich am Holocaust, sondern auch (wenn nicht gar noch mehr) an viel weiter zurückreichenden Erfahrungen messen. Doch darin eben irrt Walser: Wir können den Korpus der Erfahrungen, denen wir uns - und die nach uns Kommenden sich - stellen müssen, nicht nach dem Maß subjektiver Verträglichkeit auswählen. Denn die Haftung, die Erfahrung bezieht sich immer auf - alles.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang Erinnerung? Gewiß nicht die monumentale und gerade im Monument abstrahierte Beschwörung, ja: Ritualisierung des Geschehenen. Es geht vielmehr um die konkretisierende, kritische Aneignung der Vergangenheit in die eigene Lebenshaltung. Wer, weil er noch Zeuge ist oder mit Zeugen lebt, sich an etwas erinnert, lebt unmittelbar zu dieser Vergangenheit. Wer später geboren ist, erinnert sich nicht mehr - er wird erinnert. Doch wie dieses faktische Wissen zu persönlichem Bewußtsein wird, zu Selbst-Bewußtsein - das ist eben die entscheidende Frage.
Dieser verantwortungsvolle Umgang mit der Erinnerung darf nie mit jenem mißverstandenen Zitat befrachtet werden: In der Erinnerung liegt die Erlösung. Im Talmud ist damit gemeint: Die Lebenden sollen sich, wie Jahwe, der Toten erinnern, weil sie nur so vor dem ewigen Vergessen bewahrt werden. Keinesfalls aber: Wenn sich die Täter nur fleißig erinnern, werden sie von ihren Taten erlöst. Denn erlöst werden soll Abel, nicht Kain. Kain und seinen Nachkommen bleibt nur die Verantwortung - und die Haftung.
http://www.zeit.de/1998/50/199850.erinnerung_.xml/komplettansicht
Und ein etwas längerer Artikel von ihm zum Thema:
http://www.zeit.de/1998/53/Wir_sind_nicht_schuldig/komplettansicht
Die Frage, die ich hier diskutieren möchte, ist also eine doppelte:
(A) Darf man als Deutscher die Verbrechen des Holocaust mit den Verbrechen anderer Nationen und/oder Regierungen vergleichen?
(B) Muss man als junger Deutscher für die Verbrechen unserer Vorväter quasi in "Geiselhaft" genommen werden und sich schuldig führen für Verbrechen, die man gar nicht begangen hat, weil man zu der Zeit noch gar nicht lebte? Hat man als Deutscher überhaupt die Möglichkeit, aus diesen circulus vitiosus auszubrechen und normal wie jeder andere Weltbürger zu leben ohne permanent an unsere dunkle Vergangenheit erinnert zu werden. Einmal muss doch auch Schluss sein damit, oder?
Ich hoffe, dass dieses Thea hitzig und kontrovers diskutiert wird, kann aber aus Zeitgründen erst etwas später, wahrscheinlich in der nacht, dazustoßen
Auch heute gab es so ein Gespräch im Thread: "Sind die Deutschen alle ausländerfeindlich?", das sich zu verselbständigen drohte. Dies ist aber ein anderes Thema, zumindest oberflächlich gesehen und vordergründig. Die meisten – ich nehme hier mal KC stellvertretend – meinten, sie sähenes nicht ein, dass wir nur wegen eine düsteren Vergangenheit nicht so etwas wie Nationalstolz wie jeder andere auch entwickeln dürfen.
Und wenn man sie dan daran erinnert, dass man als Teil der Ntion – wir sind nun mal laut Pass Deutsche und keine Holländer, Franzosen oder Engländer – auch Verantwortung trägt für die Vergangenheit der Nation – die etwas früher begann als mit der eigenen Geburt, wird der Holocaust relativiert, etwa: Stalin hat noch mehr Tote auf dem Gewissen" oder "Kann man schlimmer sei als ein Pol Pot?"
Nachzulesen ist der Streit in dem besagten Thread ab S. 70, 11:14, beginned mit dem Post von KC.
Diese Diskussion kommt nicht aus heiterem Himmel denn es gab bisher bereits den Historikerstreit,
Wikipedia: Historikerstreit
als Ernst Nolte im Streitgespräch mit Jürgen Habermas versuchte, die Gräuel des Nationalsozialismus und insbesondere die Singularität des Holocaust mit Stalins Verbrechen und den berüchtigten Säuberungen zu vergleichen, denen zahlreiche Millionen zum Opfer fielen, oder mit Maos Terrorregime. Nach dem Motto: Seht her, wir waren schlimm, aber es gab andere Bösewichte, die uns in nichts nachstanden. Komisch nur, dass wir als Deutsche immer an den Holocaust erinnert werden, die Russen und Chinesen aber nicht an die Verbrechen ihrer früheren Machthaber.
Und dann gab es noch die berühmte Paulskirchenrede von Martin Walser, der klug genug war, nicht in Noltes Spur zu tauchen und erneut zu versuchen die Verbrechen des Holocaust zu relativieren, sondern die Sache von einer anderen Perspektive anging, nämlich eine Schlussstrichdebatte zu verlangen nach dem Motto: Irgendwann muss auch mal Schluss sein. Die heutigen Leute sind alle Nachgeborene und können nichts für die Verbrechen ihrer Großeltern und Urgroßeltern. Wir wollen einfach wie jeder andere wie eine ganz normaler Nation leben.
Zu Walsers Paulskirchenrede:
Als Walser anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche eine Rede hielt, in der er eine „Instrumentalisierung des Holocaust“ ablehnte, kam es zu kontroversen Diskussionen und teilweise auch zu Protesten.
„Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Ich möchte verstehen, warum in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie nie zuvor. Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf die Motive hin abzuhören, und bin fast froh, wenn ich glaube entdecken zu können, dass öfter nicht das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung. […] Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets […].“Die von manchen als sprachlich kompliziert empfundenen Äußerungen Walsers wurden oft wie folgt interpretiert: Die nationalsozialistischen Verbrechen würden von einigen Leuten dazu missbraucht werden, den Deutschen weh zu tun oder gar politische Forderungen zu stützen. Auch fühle derjenige, der ständig diese Verbrechen thematisiert, sich den Mitmenschen moralisch überlegen. Der Themenkomplex Auschwitz dürfe aber nicht zur „Moralkeule“ verkommen, gerade wegen seiner großen Bedeutung. Die Rede wurde auch als Reaktion auf die Kritik Marcel Reich-Ranickis an Walsers Buch Ein springender Brunnen gewertet. Reich-Ranicki hatte bemängelt, dass Auschwitz in dem Buch, dessen Handlung in der NS-Zeit spielte, nicht erwähnt werde.
Walser hatte in seiner Rede auch die Begnadigung des verurteilten DDR-Spions Rainer Rupp gefordert. Dies wertete Lars Rensmann als Teil der von Walser propagierten „nationalen Selbstversöhnung“ der Deutschen: So wie Walser in seiner Rede einen Schlusstrich unter das Gedenken an den Holocaust ziehen wollte, so wollte er auch mit Rupp die DDR begnadigt sehen.[9]
Nach Walsers Rede war im Anschluss allgemein von den Anwesenden stehend applaudiert worden, mit Ausnahme des Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland Ignatz Bubis, dessen Frau Ida und Friedrich Schorlemmer. Ignatz Bubis warf Walser später vor, „wegsehen“ zu wollen und bezeichnete die Rede als „geistige Brandstiftung“. Letzteres nahm Bubis später zurück. Ferner wurde Walser vorgeworfen, dass rechte Revisionisten, die dieses brisante Thema abblocken wollten, sich auf ihn berufen würden. Walser hielt dieser Kritik entgegen, dass er keine politische Instrumentalisierung seiner „sehr persönlichen Ansicht“ beabsichtige und nur von seinem subjektiven Empfinden gesprochen habe.
2015 erklärte er in einem Spiegel-Interview, er habe nicht eine Instrumentalisierung von Auschwitz im deutsch-jüdischen Verhältnis gemeint, sondern eine in der deutschen Tagespolitik, so wie sie z.B. von Günter Grass in seiner Ablehnung der Deutschen Wiedervereinigung oder von Joschka Fischer in seiner Befürwortung der deutschen Intervention im Kosovokrieg praktiziert wurde. Er bedauerte, die Rede so gehalten und Bubis damit getroffen zu haben
Robert Leicht schrieb dazu in der "Zeit": "Schuld verjährt nicht, sie kann nur vergeben werden."
Zuletzt noch in ganzer Länge ein Kommentar von Robert Leicht, der diese beiden Punkte
• Relativierung des Holocaust und
• Forderung nach einem Schlussstrich
ohne sie expressis verbis so zu nennen, gut zusammenfasst:
Warum Walser irrt
Auch die Nachgeborenen haften für das Erbe von Auschwitz
Von Robert Leicht
Schuld verjährt nicht, sie kann nur vergeben werden
Eine Vergangenheit, die um so weniger zur Ruhe kommt, je angestrengter man sie auf einen Platz verweist, an dem sie nur noch nach Gutdünken besichtigt wird. Dieses Paradox bestimmt den Streit, den Martin Walser mit seiner Frankfurter Rede ausgelöst hat - eine Friedenspreis-Rede, die Unfrieden gestiftet hat. Denn Walser wollte einem Konflikt ausweichen. Nicht, indem er etwa die deutsche Vergangenheit leugnete, sondern weil er verlangte, die Konfrontation mit diesem unheilbaren Skandal in unserer Geschichte ins eigene Belieben zu stellen. Aber wann wäre es jemals an der Zeit, diese Erinnerung zur subjektiven Disposition zu stellen und zu privatisieren - damit man dann, wie Walser gegen Ende seiner Rede, wieder zum Schönen zurückkehren kann? Denn, so seine Schlußapotheose, es sei doch alles trotz allem immer noch schöner, als man es sagen könne.
Indessen: Das Gefälle zwischen dem, was Bubis in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis erfahren hat, und dem, was die anderen über Auschwitz erfahren haben, läßt sich nie mehr einebnen; auch nicht durch noch so strenge Befehle, zur Sachlichkeit zurückzukehren.
Weshalb aber der Streit selber? Weil wir vor einem Generationswechsel stehen - und damit vor der Frage: Können die Zeitgenossen, können die unmittelbaren oder mittelbaren Zeugen bestimmen, welchen Einfluß ihre Geschichte und ihr Geschichtsbild auf die Nachgeborenen haben werden?
"Ist die Schuld verjährt?" fragt der Spiegel auf seinem jüngsten Titel. Verjähren kann nur ein staatlicher Strafanspruch. Schuld verjährt niemals, sie kann allenfalls vergeben werden. Aber es werden in diesem Lande eines Tages keine Menschen mehr leben, die an den Nazi-Verbrechen schuldig oder mit-schuldig geworden sind - und auch keine überlebenden Opfer mehr. Wird dann die Geschichte des Nationalsozialismus immer noch ihre unauslöschliche Scheidewirkung behalten? Oder werden dann endlich die Schatten weichen und wir Deutschen endlich "normal" und "erwachsen" sein? (Übrigens ein merkwürdig widersprüchlicher Sprachgebrauch, bis hin in Gerhard Schröders Regierungserklärung: Wer endlich "erwachsen" wird, war doch vorher unmündig, also auch strafunmündig; indessen war, wer "normal" sein möchte, zuvor auf pathologische Weise anomal ...)
Geschichtslos sein wollen heißt: Die Verantwortung los sein wollen
Wie aber läßt sich dies denken - daß deutsche Geschichte und deutsche Gegenwart auch dann noch nach dem Prinzip der Verantwortung zusammenhängen werden, wenn alle Zeugen des Holocaust, wenn Täter und Opfer, ja die Kinder der Täter und der Opfer allesamt nicht mehr leben?
Das fängt schon damit an, daß niemand im Nirgendwo aufwächst. Zum Individuum - oder, sei's drum, zum Erwachsenen - wird man, indem man zu der konkreten, geschichtlich konkret geprägten Umwelt immer bewußter, immer entschiedener Stellung nimmt, zum Soll und Haben, im Ja und im Nein, also unterscheidend und darin: kritisch. Und eben auf diese Weise wird man von der Geschichte geprägt, wird die Geschichte zur eigenen; werden also Deutsche zu Deutschen - ohne in einer diffusen Normalität unterzutauchen.
Diese Differenz im Prozeß des Erwachsenwerdens zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen wird lange bleiben, zumal da unsere europäischen Nachbarn ihre eigene Wahrnehmung von uns nicht ausschließlich am Holocaust, sondern auch (wenn nicht gar noch mehr) an viel weiter zurückreichenden Erfahrungen messen. Doch darin eben irrt Walser: Wir können den Korpus der Erfahrungen, denen wir uns - und die nach uns Kommenden sich - stellen müssen, nicht nach dem Maß subjektiver Verträglichkeit auswählen. Denn die Haftung, die Erfahrung bezieht sich immer auf - alles.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang Erinnerung? Gewiß nicht die monumentale und gerade im Monument abstrahierte Beschwörung, ja: Ritualisierung des Geschehenen. Es geht vielmehr um die konkretisierende, kritische Aneignung der Vergangenheit in die eigene Lebenshaltung. Wer, weil er noch Zeuge ist oder mit Zeugen lebt, sich an etwas erinnert, lebt unmittelbar zu dieser Vergangenheit. Wer später geboren ist, erinnert sich nicht mehr - er wird erinnert. Doch wie dieses faktische Wissen zu persönlichem Bewußtsein wird, zu Selbst-Bewußtsein - das ist eben die entscheidende Frage.
Dieser verantwortungsvolle Umgang mit der Erinnerung darf nie mit jenem mißverstandenen Zitat befrachtet werden: In der Erinnerung liegt die Erlösung. Im Talmud ist damit gemeint: Die Lebenden sollen sich, wie Jahwe, der Toten erinnern, weil sie nur so vor dem ewigen Vergessen bewahrt werden. Keinesfalls aber: Wenn sich die Täter nur fleißig erinnern, werden sie von ihren Taten erlöst. Denn erlöst werden soll Abel, nicht Kain. Kain und seinen Nachkommen bleibt nur die Verantwortung - und die Haftung.
http://www.zeit.de/1998/50/199850.erinnerung_.xml/komplettansicht
Und ein etwas längerer Artikel von ihm zum Thema:
http://www.zeit.de/1998/53/Wir_sind_nicht_schuldig/komplettansicht
Die Frage, die ich hier diskutieren möchte, ist also eine doppelte:
(A) Darf man als Deutscher die Verbrechen des Holocaust mit den Verbrechen anderer Nationen und/oder Regierungen vergleichen?
(B) Muss man als junger Deutscher für die Verbrechen unserer Vorväter quasi in "Geiselhaft" genommen werden und sich schuldig führen für Verbrechen, die man gar nicht begangen hat, weil man zu der Zeit noch gar nicht lebte? Hat man als Deutscher überhaupt die Möglichkeit, aus diesen circulus vitiosus auszubrechen und normal wie jeder andere Weltbürger zu leben ohne permanent an unsere dunkle Vergangenheit erinnert zu werden. Einmal muss doch auch Schluss sein damit, oder?
Ich hoffe, dass dieses Thea hitzig und kontrovers diskutiert wird, kann aber aus Zeitgründen erst etwas später, wahrscheinlich in der nacht, dazustoßen