Vielen Dank,
@wab, für die viele Mühe, die Sie sich machen (vor allem, weil es sich überwiegend um deutsche Texte handelt).
Die Links zu den Hypothermie-Artikeln müssen Sie nicht extra übersetzen. Es ist, wie Sie sagen - die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Hypothermie sind im Russischen die gleichen wie im Deutschen.
Zu den Ursachen der Flucht aus dem Zelt:
wab schrieb:Nein, Sie liegen hier falsch, wenn Sie glauben, dass die Kälte irgendeinen Einfluss auf den Beginn der Ereignisse hatte.
Sie haben mich auf eine Idee gebracht, WAB. Ob sie letztlich gut ist, weiß ich nicht, aber ich möchte das gerne einmal durchspielen.
Unsere Annahme: Kälte ist keine vorhanden und daher als Ursache für die Zeltflucht auszuschließen.
Wenn es draußen zwar windig gewesen wäre, aber ... sagen wir mal 20 Grad plus. Dann wäre das auslösende Ereignis Ihrer Auffassung nach also trotzdem passiert. Lassen wir die Kälte also mal komplett außen vor.
Es geht starker Wind. Starker Wind aber reicht allein auch nicht zu einer panikartigen Zeltflucht. Wind hätte den erfahrenen, robusten Jungs und Mädels nichts ausgemacht. Sie wussten, dass sie im Zelt noch am besten vor Wind geschützt waren.
Es muss also mehr als Wind gewesen sein. Wir haben in der Annahme also bisher Wind und 20 Grad plus.
Für einen katabatischen Fallwind ist der betroffene Hang zwar wie prädestiniert, fällt als Ursache aber weg, da er zwingend mit zusätzlicher Kälte verbunden ist. Kälte aber lassen wir als Ursache in unserer Annahme außen vor.
Windchill? "Bei höheren Windgeschwindigkeiten (gegeben) genügen schon weniger tiefe Lufttemperaturen oder kürzere Expositionszeiten, um zu Erfrierungen zu führen, da der Wärmeabfluss vom Körpergewebe nach außen mit der Windgeschwindigkeit steigt. Besonders betroffen sind dabei unbedeckte Hautpartien wie etwa das Gesicht. Winddurchlässige Kleidungsstücke, wie eine locker gestrickte Wollmütze oder auch Öffnungen (Ärmelöffnungen, geöffnete Taschen, weite Jacken) erlauben Luftströmungen bis in Körpernähe. Winddichte Kleidung sollte daher besonders am Rand am besten mit Gummisaum eng am Körper anliegen, um die Wirkung des Winds abzuhalten." Aber Kälte lassen wir in unserer Annahme ja außen vor, also war es auch nicht der Windchill.
Kaltlufttropfen? "Der Durchmesser kann von wenigen 100 bis 1500 Kilometern betragen." (
https://www.wetter.net/wetterlexikon/eintrag/kaltlufttropfen) In der Regel sind diese zwingend mit anhaltenden, heftigen Niederschlägen verbunden. Davon war in dem betreffenden Gebiet aber keine Rede, auch nicht von den Mansi oder anderen, die sich in relativer Nähe aufhielten. Außerdem haben wir Kälte als Ursache der Zeltflucht in unserer Annahme ja ausgeschlossen.
Lawine? Schneebrett? Sehr unwahrscheinlich, in dem betreffenden Gebiet wurde bis heute kein einziger signifikanter Schneeabgang festgestellt, auch die Suchtrupps von damals schlossen das aus. Lawine / Schneebrett schließen wir also aus.
Für unsere Annahme bleibt es also bei Wind und 20 Grad plus.
Was ist mit Schnee auf dem Zelt, der den Platz im Zelt nach und nach geringer werden ließ und die jungen Leute sukzessive "erdrückte"? Starker Wind, kaum Schneefall, dafür aber Schneeverwehungen, starkes Zeltgeflatter, ein locker gespanntes Zelt – bleibt Schnee auf dem Zelt liegen? Kann sich alternativ Schnee am Zeltrand zum oberen Hang hin aufstauen? Zumindest denkbar.
Hätte das auch zwingend zur Folge, das Zelt panikartig zu verlassen? Ich bin überzeugt davon, dass eine so routinierte Truppe so einen Schneeeintritt auf dem Zelt zu "handeln" gewusst hätte und zumindest einen geordneten Auszug aus dem Zelt und Mitnahme der Jacken hinbekommen hätte, zumal da auch alle Gegenstände im Zelt unbeschadet blieben. (Langsam anwachsenden) Schnee auf dem Zelt als Ursache der Zeltflucht ist daher auszuschließen.
Kommen wir zu Infraschall / Infrasound: Wenn ich es richtig einordne, sind das vor allem nicht hörbare Schallfrequenz, ähnlich der eines sehr tiefen Basses. Oder auch durchgehende Vibrationen. Diese können theoretisch auch Panik auslösen, wenn ich verschiedene Artikel dazu lese. In der Regel aber ist es ein schleichender Prozess, ehe sich die Auswirkungen von Infraschall (insbesondere in der Nähe von Windkraftanlagen) bemerkbar machen. Die mehr als 100 Expeditionen in diesen Nordural-Bereich haben so ein Phänomen bisher nicht belegt. Oder irre ich mich? Falls ja - was waren die Auswirkungen auf die diejenigen, die den Infraschall erlebt haben? Panik? Warum ist dann nicht Gleiches wie den Dyatlovs passiert? Infraschall / Infrasound ist daher eher auszuschließen.
Auf andere Theorien (Yeti, KGB und US-Spione, giftige Gase aus Raketen, Überfälle usw.) möchte ich nicht eingehen, da die Faktenlage diesen Theorien im wahrsten Sinne des Wortes den Wind aus den Segeln nimmt.
Was als Ursache in unserer Annahme bleibt, ist Wind und 20 Grad plus. Kälte schließen wir ja aus.
Was ist mit dem Wind? Es gab gewiss heftige Windgeräusche / ein regelrecht unheimliches Heulen und Pfeifen des Windes, extremes Flattern der Zeltbahn, innen im Zelt verstand man kaum sein eigenes Wort.
Aber reicht das, um eine psychisch stabile Truppe aus dem Gleichgewicht zu bringen? In unserer durchgespielten Annahme sind es 20 Grad plus.
Die Gruppe könnte das Zelt verlassen haben, weil es innen einfach zu laut war, die Windgeräusche unerträglich, wie neben einer Standbox bei einem Konzert von Venom:
https://www.youtube.com/watch?v=OE9t-6wEAKE (Video: Venom - Heaven's On Fire)Schön laut hören. Dann entscheiden, ob man neben dem Lautsprecher stehen bleiben würde oder nicht. Ob man das Zelt panikartig verlassen würde oder nicht. ... ... Ich weiß aber gerade selbst nicht, ob ich das ernst nehmen soll ;-)
Aber Spaß beiseite - gibt es Untersuchungen, die die Lautstärke im Innern eines flatternden Zeltes am Dyatlov-Pass bei starkem Wind nachgestellt haben?
Wenn ich neben so einer Musik an den Lautsprechern stehen würde, ich wüsste jedenfalls, was ich zu tun hätte ... Weg hier. Ohne lange nachzudenken.
Aber voraussichtlich würde ich vorher noch nach meiner teuren Jacke greifen und sie mitnehmen - vorausgesetzt, sie ist in greifbarer Nähe.
Wenn es also weder die durchdringende Kälte noch plötzlich eintretende Schneeereignisse oder sonstige plötzliche Ereignisse waren, wäre für mich dauerhafter ohrenbetäubender Lärm in der Tat ein Grund, das Zelt zu verlassen, zumal da es ziemlich niedrig gespannt war, die Enge käme noch dazu. Man konnte sich nicht "normal" unterhalten, es war schlicht zu laut. Sie mussten ihren Nebenmann quasi anschreien, um überhaupt gehört zu werden.
Sie konnten sich wegen des flatternden Zeltes, das auf einen niederprasselte, auch mit Handzeichen kaum untereinander verständigen.
Was ich auch gerne wüsste: Kann in einer solchen Situation als Faktor hinzukommen, dass einige Teilnehmer das Gefühl hatten, keine Luft mehr zu bekommen? Gibt es Erkenntnisse, die belegen, dass im Innern eines beschädigten und extrem flatternden Zeltes das Gefühl von Atemnot aufkommen kann?
Jemand, der unbedingt rauswollte, aber nicht am Eingang des Zeltes positioniert war, und sich nicht verständlich machen konnte, war dadurch gezwungen, sich selbst zu befreien. Vielleicht waren nachher sogar alle erstmal froh, dass jemand das Zelt aufschnitt und sie endlich diesen extrem lauten und engen Ort, in dem sie eingepfercht waren, verlassen konnten.
Bei diesem Szenario kommt es zwingend auch zu einer Panikreaktion:
"Der ursprüngliche Reiz ist eigentlich harmlos, er erzeugt jedoch eine Massenreaktion, die zu einer Panik führt. Auslöser kann dabei das Phänomen der »psychischen Ansteckung« sein. ... Panik entsteht dann, wenn durch eine Vielzahl von Handlungsimitationen ein Gedränge entsteht, das dann als lebensbedrohlicher Reiz ... wahrgenommen wird."
(
https://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-642-15308-2_32)
@wab: Mittlerweile bin ich auch überzeugt davon, dass die Ursache der Zeltflucht in der Tat nicht die Kälte war.
These zur Ursache der Zeltflucht: Es war eine Verkettung aus extremem Lärm und dem Gefühl, durch die rasend schnell flatternde Zeltplane niedergedrückt zu werden und dadurch eingepfercht zu sein mit der Konsequenz, keine Luft mehr zu bekommen.
Ich nenne es einmal die "Noise-Crammed-Theorie".
Ich weiß, es sind jetzt wieder Spekulationen. Mir geht es letztlich um die Frage: Angenommen, es war nicht die Kälte – gibt es Studien zu ohrenbetäubendem Lärm im Innenraum von Zelten?
Au Mann, ich habe jetzt ziemlich viel herumgeschwallt, sorry dafür. Aber ich wollte es einmal bildlich durchspielen und wäre dankbar, wenn wir das Thema Lärm einmal intensiver behandeln würden.
Ich wünsche allen eine gute Zeit!